Victor Canning - Auf der Spur / The Rainbird Pattern

  • Der Autor (vor allem nach der englischen Wikipedia, der Krimiseite „flubow.ch“ und dem Blog „bookstellyouwhy.com“): Der britische Schriftsteller Victor Canning (der auch als Julian Forest und Alan Gould veröffentlichte) wurde am 16. Juni 1911 in Plymouth in der Grafschaft Devon als Sohn eines Kutschenbauers geboren. Mitte der 1920er-Jahre zog die Familie nach Oxford, wo der Vater Arbeit gefunden hatte, und Victor zur Schule ging. Mit 16 Jahren wurde er von seinem Lateinlehrer dazu ermutigt, an der Schule zu bleiben und die Universität zu besuchen. Doch das konnte sich die Familie nicht leisten. So begann Victor Canning als Angestellter im "Education Office" zu arbeiten.
    Ab Anfang der 1930er-Jahre verkaufte er einige seiner Kurzgeschichten an Magazine für Jungen. Im Jahr 1934 akzeptierte der Verlag „Hodder and Stoughton“ seinen ersten Roman „Mr. Finchley Discovers his England“, der alsbald ein großer Verkaufsschlager wurde. Canning gab seine Arbeit im Staatsdienst auf und arbeitete Vollzeit als Schriftsteller. In den nächsten dreizehn Jahren verfasste er dreizehn weitere Romane unter drei verschiedenen Pseudonymen. Außerdem schrieb er Artikel und Reisereportagen für die „Daily Mail“. 1935 heiratete er die aus einer Theaterfamilie stammende Phyllis McEwen, mit der er drei Töchter zeugte, von denen eine im Säuglingsalter starb. 1940 wurde Canning zur Armee einberufen und erhielt eine Ausbildung bei der Royal Artillery an der Seite seines berühmten Schriftstellerfreundes Eric Ambler. Im Krieg war er in Südengland und Nordafrika stationiert und nahm an der alliierten Invasion in Sizilien teil.
    Waren seine Bücher bis 1940 eher dörfliche Komödien, so wendete er sich ab 1947, inspiriert von Eric Ambler, dem Thriller zu. Seine Kriegserlebnisse etwa flossen unter anderem in seinen Roman „The Chasm“ ein, in dem ein Nazikollaborateur ausfindig gemacht werden soll, der sich in einem entlegenen italienischen Dorf versteckt. Nach seinem nächsten Roman „Panther's Moon“, der als „Spy Hunt“ verfilmt wurde, verbrachte Canning ein Jahr in Hollywood, um neben seinen eigenen Romanen an Drehbüchern für Film und Fernsehen zu arbeiten. Seine große Zeit als Schriftsteller, die bis in die 1970er-Jahre reichen sollte, begann Mitte der Fünfzigerjahre, als seine Bücher konventioneller wurden. Es waren sehr erfolgreiche, hervorragende Thriller an exotischen Schauplätzen voll aufregender Actionszenen und stereotyper Charaktere. Damals war Canning wohlgemerkt weitaus populärer als Ian Fleming! 1965 begann er auch eine Serie aus vier Romanen über den Privatdetektiv Rex Carver, die zu seinen erfolgreichsten Büchern zählen sollten.
    Ab Ende der Sechzigerjahre, nachdem er seine Familie in Kent verlassen hatte, um mit der Nachbarin Diana Bird zusammenzuleben, wurden seine Romane düsterer und realistischer und verzichteten gerne auf konventionelle Happy endings. Es sind Thriller möglichst ohne Klischees, dafür mit moralischem Dilemma und überzeugend entwickelten Charakteren.
    Canning selbst lebte zurückgezogen, hinterließ keine Memoiren und gab relativ wenige Intervi
    ews. Seit seinem Tod 1986, er starb am 21. Februar 1986 in Cirencester an einer Herzattacke, ist er aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend verschwunden. Sein letztes Buch ("Table Number Seven") wurde von seiner letzten Frau Adria Irving-Bell und seiner Schwester Jean fertiggestellt. Insgesamt verfasst er über 60 Romane, Drehbücher für Film und Fernsehen, Hörspiele, Kinder- und Jugendbücher, Reisereportagen und ungezählte Kurzgeschichten für Pulp-Magazine wie 'Argosy', 'Suspense' und das 'Ellery Queen's Mystery Magazine'.


    Werkauswahl: „Schwarzer Panther / Panther's Moon“ (1948, 1950 als "Spy Hunt" verfilmt), „Der goldene Salamander / The Golden Salamander“ (1948, 1950 unter gleichem Namen verfilmt), „A Forest of Eyes“ (1950), „Das Haus zu den sieben Fliegen / The House of the Seven Flies“ (1952, 1959 verfilmt als „Das Haus der sieben Falken“), „A Handful of Silver AKA Castle Minerva“ (1954, 1964 verfilmt als „Agenten lassen bitten“), „His Bones Are Coral AKA Twist of the Knife AKA The Shark Run“ (1955, 1969 verfilmt als „Outsider“), „Erpressung durch Scorpio / The Scorpio Letters“ (1964, 1966 unter gleichem Namen verfilmt), „Kennwort Pythonschlange / The Python Project“ (1967), „Auf der Spur / The Rainbird Pattern“ (1972, 1975 verfilmt als „Familiengrab“), „The Runaways / Der Ausreißer“ (1972), „Tochter des Saturn / The Finger of Saturn'“ (1973), „Der Charlie-Bazillus / The Doomsday Carrier'“ (1976), „Birdcage“ (1978), "Table Number Seven" (1987).


    Inhalt (siehe der reißerische Bastei-Klappentext): Mit einer Serie von Entführungen finanziert Trader, ein gerissener Kidnapper, die Errichtung seines privaten Paradieses. Sein letzter Fischzug, der das ganz große Geld bringen soll, gilt dem Erzbischof von Salisbury. Zwei Geheimpolizisten erhalten den Auftrag, den Erzbischof aus Traders Gewahrsam zu befreien, ohne dass von dem ganzen Fall etwas an die Öffentlichkeit dringt. Zur gleichen Zeit lässt die reiche Miss Rainbird nach ihrem verschollenen Neffen forschen, um ihn in seine Rechte einzusetzen. So beginnt aus grundverschiedenen Motiven eine Doppelsuche nach ein und demselben Mann. Die Fäden verwirren sich ständig, aber plötzlich erhellt der Zufall das Dunkel: das spannungsgeladene, tödliche Spiel kommt zu einem harten, befreienden Ende.

    1972 erhielt der Roman als zweitbester englischsprachiger Roman den "Silver Dagger for Fiction" der Crime Writers' Association. 1974 war er für den "Edgar Award" als bester Roman nominiert (den dann Tony Hillerman für "Schüsse aus der Steinzeit / Dance Hall of the Dead" gewann).

    Auf diesem Roman aus der Spätphase des Vielschreibers Canning basiert Alfred Hitchcocks letzter Film „Familiengrab / Family Plot“ von 1975. Allerdings ändert das Filmdrehbuch gerade zum Ende hin einige fundamentale Aspekte der Geschichte, was den Film insgesamt freundlicher und gewissermaßen „runder“ macht. Der Roman ist in seiner Anlage nichtsdestotrotz sehr stimmig entwickelt und läuft auf ein ziemliches düsteres, schicksalhaftes Ende zu, das mich sehr überrascht hat.
    Ich höre schon kritische Stimmen, die anzweifeln, dass es sich wirklich um einen Thriller handelt bei diesem Buch (jetzt mal ehrlich: was denn sonst?!), ist es über weite Strecken doch eine eher freundlich-amouröse Gaunergeschichte zweier sympathischer Verlierertypen: Etwa Zweidrittel des Buches folgt man dem Treiben des hellsichtigen, etwas halbseidenen, lebenslustigen Mediums „Madame Blanche" Tyler und dem verkrachten Lebenskünstler und Gelegenheitsarbeiter George Lumley, der immer wieder hochfliegende Pläne verfolgt (momentan: Landschaftsgärtner werden), nur um sie bald wieder bleiben zu lassen. Blanche versucht die alte, reiche, aber Übersinnlichem gegenüber eher kritisch eingestellte Miss Rainbird davon zu überzeugen, ihre medialen Dienste in Anspruch zu nehmen, um ihre bösen Träume zu verjagen und eine Familiensünde aus der Vergangenheit aus der Welt zu schaffen. George' Aufgabe ist es, Hintergrundinformationen über die Familie Rainbird zu beschaffen. Dazu horcht er Nachbarn und ehemalige Angestellte aus, trinkt im örtlichen Pub mit Einheimischen und stromert auf Friedhöfen herum. Zwischendurch eingeflochten – und anscheinend völlig losgelöst vom Hauptstrang - werden die Vorgänge rund um zwei Entführungen, die offensichtlich nur dazu dienen, einen großen Coup vorzubereiten, geschildert. Außerdem wird über die schleppende Ermittlertätigkeit auf Seiten einer britischen Geheimpolizei berichtet, die offensichtlich nicht fest an die Rechtsstaatlichkeit gebunden ist.


    Ab dem Punkt, wo das Buch, dessen stimmige Ortsbeschreibungen auch einige Liebe für die südenglische Landschaft und ihre Bewohner zeigt, eindeutig eine andere Richtung als die bekannte Verfilmung einschlägt, ändert der Roman seinen humorvollen Tonfall, wird düsterer, schneller und härter.


    Was ist denn ein Thriller? Doch wohl ein Buch, das mit Spannung spielt, was meist heißt: mit dem Wissen und Unwissen des Lesers spielt. Und das bedeutet eben auch, Höhepunkte aufzuschieben, die Spannung zu verzögern, um dann umso stärker auf Schock und Entladung setzen zu können. Und das tut Victor Canning in seinem Roman wahrlich meisterlich: Fäden auslegen, lange Zeit eher ignorieren, wie verwirrt sie eigentlich daliegen, um dann nach vermeintlichem Geplänkel mit Wumms Schicksal zu spielen. Tatsächlich löst sich der Kriminalfall nur durch lauter Zufälle, was aber keine Notlösung des Erzählers darstellt, sondern eher Ausdruck einer Lebenseinstellung ist: George Lumley „spielt Detektiv“ und kommt – ohne zu wissen, was er da tut - der Lösung des Entführungsfalles auf die Spur, auf die die „richtigen Ermittler“ niemals hätten kommen können. Blanche kommt einem Schicksalsfall in der Vergangenheit auf die Spur, der noch in der Gegenwart neue Opfer findet. Alles verzahnt sich über Kleinigkeiten und Zufälle. Niemand der Beteiligten weiß so richtig, was passiert, und die, die es wissen, haben nichts dafür getan, dass es besser wird. Die Vergangenheit wiederholt sich in der Gegenwart (das „Rainbird Muster“ des englischen Originaltitels). Niemand der jetzt Lebenden ist schuld, doch alle zahlen die Zeche. Und das düstere Ende prognostiziert keine schöne Zukunft für die Handvoll Überlebenden des Romans. Keiner kann seines Lebens sicher sein, wenn tödliche Rache zu erwarten ist. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um! Professionalität, die Erkenntnis der „Wahrheit“, eine richtige Einstellung zum Leben oder die staatlichen Ordnungskräfte schützen nicht vor Scheitern und verhindern kein Leid. Mal wieder steht die Rechtsstaatlichkeit auf tönernen Füßen...


    Eine sehr interessant erzählte, schnörkellose, sehr gut aufgebaute, sinnvoll verzahnte Verbrechensgeschichte voller guter Beobachtungen mit sehr sympathischen Hauptfiguren, einigen zwielichtigen Bundesbeamten, lebendigen Nebenfiguren und einem schön asozial-genialen Schurken, der für sich und seine Familie von einem abgeschiedenen, naturverbundenen Leben ohne Menschen und Umweltverschmutzung träumt, die man heute auf diese Weise nicht mehr erzählen würde, die einem aufgeschlossenen Leser aber, der mit Thriller-Literatur nicht nur Metzeleien, Mordermittlungen und Psycho-Macken verbindet, viel über Spannungsdramaturgie vermitteln kann. Und eine schöne Ergänzung zum Hitchcock-Film, der ja auch viel besser ist als sein Ruf!

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)


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    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Das ist eine englische Neuauflage von März 1975 mit albernem Cover von "Macmillan". (Das Falken-Cover der Erstauflage von 1972 war noch so hübsch, wird aber bei Amazon nicht angezeigt ...)

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)


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