Li Ping - Zur Stunde des verblassenden Abendrots / Wanxia xiaoshi de shihou

  • Inhalt (Klappentext): Li Huaiping, Sohn eines ranghohen Militärs, und Nanshan, Enkelin eines alten Guomindang-Generals, finden Gefallen aneinander, verlieren sich wieder aus den Augen. Li wird zum Anführer der Roten Garden: Nanshan gehört mit ihrer Familie zu den Verfolgten. Die Verstrickungen der Kulturrevolution legen sich als Schatten über diese Liebe. Durch die Bekanntschaft mit einem buddhistischen Mönch erschließt sich Li eine neue Weltsicht, die östliches und westliches Denken, Tradition und Moderne, vereinigt. Der Roman beginnt nach der großen chinesischen Erzähltradition mit einem schicksalhaften Traum, der den jungen Li auf einen hohen Berg führt. Auf dem sagenumwobenen heiligen Berg Chinas, dem Taishan, endet auch die Liebesgeschichte. Hier begegnet Li Nanshan wieder, die inzwischen zu einer religiösen Weltsicht und zur Tradition des Konfuzius gefunden hat. Ein großes Gespräch greift die zentralen Fragen einer jungen, geistig hungrigen Generation auf.


    Der Autor (anhand Buchinfo): Li Ping ist das Pseudonym eines wohl 1948 geborenen Mannes, der in diesem, seinem einzigen Werk von 1981, nicht nur Autobiografisches verarbeitet, sondern gewissermaßen den Roman seiner Generation geschrieben hat, der Anfang der 1980er-Jahre zum absoluten Renner unter Pekinger Studenten wurde.


    Geschichtlicher Hintergrund (vgl. Wikipedia): In den Jahren 1911 und 1912 fand in China die Xinhai-Revolution statt, die die Kaiserzeit beendete und zur Gründung der ersten Republik führte. Zwischen 1927 und 1949 tobte in China ein Bürgerkrieg zwischen dem rechten Flügel der republikanisch-bürgerlichen Guomindang-Partei unter Chiang Kai-shek und der Kommunistischen Partei unter Mao Zedong, der mit der Ausrufung der Volksrepublik China endete. Die Regierung der Republik China zog sich nach Taiwan zurück und führt dort die Republik von Taipei aus fort. Die Kulturrevolution war eine politische Kampagne in den Jahren zwischen 1966 und 1976, die von Mao Zedong ausgelöst wurde. Sie sollte vordergründig Missstände in Staat und Gesellschaft beseitigen, diente aber vor allem dazu, Maos Macht im Politbüro zu festigen und seine vermeintlichen Gegner unter dem Vorwand, sie hätten den „kapitalistischen Weg“ eingeschlagen und wären in Wahrheit keine Kommunisten, sondern Revisionisten, aus strategisch wichtigen Positionen zu vertreiben. Die Kulturrevolution bestand aus einer Reihe von Massenkampagnen, die sich ablösten und teilweise widersprachen. Die erste Phase von Mai 1966 bis 1968 wird als „Zeit der Roten Garden“ verstanden. Das waren paramilitärische Propaganda- und Arbeitsgruppen, die die Wohnstätten früherer Kapitalisten, Großgrundbesitzer und gestürzter Kader plünderten. Sie zerstörten dabei alles, was mit der Kultur der Bourgeoisie in Verbindung gebracht werden konnte. Es war eine Zeit ungehemmter Denunziation, brutaler Verhöre und Verhaftungen, die die Gesellschaft in ein traumatisches Chaos stürzte.

    Der Roman behandelt eine „mögliche“ Liebesbeziehung zweier Kinder aus verfeindeten Lagern (eine weltweit ja sehr beliebte Erzählgrundlage), die sich wegen des unversöhnlichen Klassengegensatzes in der Volksrepublik China nicht entfalten kann. Schuld daran ist das durch die Kulturrevolution geschaffene gesellschaftliche Klima, die Barbarei und das Chaos der Roten Garden, fehlende Menschlichkeit, die Verachtung von Bildung und Wissen und die Seelenlosigkeit einer fragmentierten Gesellschaft. Der Roman ist auch Ausdruck einer Glaubenskrise in Teilen der jungen Bevölkerung: Erzählt wird er gewissermaßen aus „Tätersicht“, aus den Augen eines leicht zu beeindruckenden Rotgardisten, Soldaten und folgsamen Kommunisten, dem die Liebe, Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle das gängige Weltbild durcheinanderbringen. Geteilt ist das Buch in vier große Kapitel:


    Im ersten Kapitel „Frühling“ begegnen sich die männliche Hauptfigur Li Huaiping, ein etwas lernfauler 17-Jähriger, und die gleichaltrige Nanshan im Park, während sie jeder für sich ihre Nase in Bücher stecken - er muss Russisch für die Schule pauken, sie liest Shakespeare im Original. Er ist fasziniert von dem Mädchen, dessen intellektuelle Überlegenheit er bewundert.


    Im zweiten Kapitel „Sommer“, dessen Handlung etwa zwei Monate spielt, treffen die beiden wieder aufeinander. Li Huaiping ist inzwischen Anführer einer „Roten Garde“. Bei einer demütigenden Hausdurchsuchung bei einem ehemaligen, alten Guomindang-General stellt sich dessen Enkelin als Nanshan heraus. Sie, die bei ihren Großeltern aufgewachsen ist, da ihre Eltern ins Ausland geflohen sind, ist offensichtlich von Lis pöbelig-jungenhafter Kaltschnäuzigkeit über die Maßen enttäuscht. Er ist beschämt. Außerdem kommt ans Licht, dass der alte General am Ende des Bürgerkriegs seine Truppen ausgerechnet Lis Vater ergeben hat, der auf Seiten der Kommunisten kämpfte. Dieser Punkt scheint überaus wichtig, kann darüber nämlich erzählt werden, wie die beiden Männer sich trotz aller Gegensätze anfreunden konnten – etwas, was im China zur Zeit der Kulturrevolution anscheinend undenkbar wäre, wo es unüberwindbare Gegensätze gibt und man sich nicht versöhnlich die Hand reicht. In der Bürgerkriegsgeneration war Versöhnung noch möglich! Ein wichtiger Hinweis, als wie schändlich und zerstörerisch der anonyme Autor die gesellschaftliche Verrohung zu Maos Zeiten betrachtet.


    Das dritte Kapitel „Winter“ spielt zweieinhalb Jahre später. Der inzwischen Soldat gewordene Li Huaiping belauscht in einem bereitgestellten Fernreisezug zufällig (und scheinbar unentdeckt) den Abschied und ein längeres Gespräch zwischen Nanshan und ihren Großeltern, bevor die Enkelin und ihr jüngerer Bruder in die Provinz verschickt werden, wo sie fern ihrer Familie (von der sie sich zugunsten des Volkes und der Kommunistischen Partei Chinas möglichst lossagen sollen) arbeiten, lernen und leben werden.


    Das vierte Kapitel „Herbst“ spielt zwölf Jahre später. Li will seinen alten Vater besuchen, bevor der stirbt, unterbricht aber seine Bahnfahrt, um den Heiligen Berg Taishan zu erwandern. Unterwegs trifft er einen alten Mann, der sich als buddhistischer Mönch herausstellt, der auf dem Berg lebt. Auf dem Gipfel kommt es zu einer zufälligen Begegnung mit Nanshan, die als Übersetzerin eine Gruppe ausländischer Touristen begleitet. Es kommt zu vielfältigen grundsätzlichen und philosophischen Gesprächen, aber auch zu einem privaten Abschied, während über den Gewitterwolken die Sonne untergeht.


    So weit, so gut. Dennoch hatte ich mit dem Roman einige Probleme, die am Schreibstil liegen, an den blassen Figuren und den gestelzten Dialogen. „Zur Stunde des verblassenden Abendrots“ ist wirklich ein Thesenroman: Die Figuren sind nur dazu da, etwas zu verdeutlichen. Sie sind ziemlich papieren angelegt und reden aus dem Stegreif lange, druckreife Erörterungen über schwierige philosophische Fragestellungen und geben Abhandlungen über das eigene Selbstverständnis, zu denen „wirkliche Menschen“ selbst nach ausgedehnten Psychotherapien nicht in der Lage wären. Selbst zu Beginn, als beide noch siebzehnjährige Mittelschüler sind, flechten sie ohne zu zögern Zitate aus der Einleitung zu einem gesellschaftstheoretischen Buch von Friedrich Engels ein oder können lange Puschkin-Gedichte in Originalsprache rezitieren. Die Sprache wirkt entsprechend unnatürlich (und erinnerte mich etwas an linientreue DEFA-Kinderfilme, in denen die braven Pioniere auch immer ähnlich unnatürlich ihre Leitsätze aufgesagt haben).


    Dessen ungeachtet werden interessante philosophische Themen behandelt. So geht es unter anderem um den Bezug von Barbarei zu Zivilisation. Auch die schönste Zivilisation ist in Barbarei begründet, im schönsten Frieden werden abscheulichste Kriegsgeräte entwickelt und Gedichte im Schützengraben geschrieben. Überhaupt ist die Begegnung und das anregende Gespräch zwischen einem Mitglied der Kommunistischen Partei und einem buddhistischem Mönch etwas besonderes - und so wurde es von den chinesischen Leser Anfang der 1980er-Jahre wohl auch verstanden, als die Kulturrevolution gerade fünf Jahre überwunden war, der gesellschaftliche Wind etwas moderater wehte und vor allem die Jugend, von denen viele nach den Jahren des „Roten Terrors“ in der Gesellschaft nur schwer wieder Fuß fassen konnten - sich auf Sinnsuche befand. Man hielt gerne auch wieder Ausschau nach „den alten Werten“. Selbst die Religion wurde inzwischen, anders als zuvor, einigermaßen geduldet.


    Bei dem Gespräch zwischen Li und dem Mönch wird folglich auch der junge Kommunist am ehesten etwas lernen. Der alte Mönch liefert die Anregungen, über eigene Standpunkte nachzudenken. Denn Li hält Philosophie für eine altertümliche Denkweise, die sich reiner metaphysischer Spekulation bediene, und die durch moderne Naturwissenschaften ersetzt werden müsse, die auf Beobachtung und Wahrheitssuche gründen. Darauf entgegnet der Mönch:

    Zitat

    Da bringst du einiges durcheinander. Du kannst nicht einfach von metaphysischer Spekulation und Wahrheitssuche sprechen. Wenn du unbedingt Vergleiche ziehen willst, könnte man sagen, Philosophie bedeute Denken und Wissenschaft Sehen. Somit kann man mit Hilfe der Philosophie Vermutungen über Bereiche anstellen, die die Wissenschaft nicht einsehen kann. (…) Wissenschaft ist faktentreu, hat aber ihre Grenzen; Philosophie ist verschwommen, umfasst aber ein weites Feld. Da die Wissenschaft immer an Grenzen stoßen wird, kann sie die Philosophie niemals gänzlich ersetzen, obwohl die Menschheit von der Philosophie schon ziemlich oft zum Narren gehalten wurde ...

    (S. 129)


    Allerdings kann Li überhaupt nicht verstehen, wie jemand in aller Seelenruhe glauben könne, die Welt sei durch einen Schöpfer gemacht worden, wo einem der gesunde Menschenverstand doch sagen müsste, dass es sich dabei um Unwahrheiten und Hirngespinste handelt. Der Mönch bringt Li clever dazu anzuerkennen, dass Kunst auch ohne Anspruch auf Wahrheit eine Berechtigung habe. Folglich hat er auch freie Bahn für seine folgende Argumentation:

    Zitat

    Das Streben nach Wahrheit ist die Wissenschaft, das Streben nach Schönheit ist die Kunst und das Streben nach Güte, das ist die Religion. Auf dem Weg hast du zu mir gesagt, dass die Religion nicht wahr sei. Nun kann ich dir antworten: wenn die Kunst nicht wahr zu sein braucht, warum muss dann die Religion unbedingt wahr sein? Die Bedeutung der Kunst liegt nicht in ihrer Wahrheit, sondern in ihrer Schönheit. Genauso liegt auch die Bedeutung der Religion nicht in ihrer Wahrheit, sondern in ihrer Güte. Es gibt viele Religionen auf der Welt, Christentum und Islam im Westen, Buddhismus und Daoismus im Osten. In ihren vielen Richtungen sind sie unüberschaubar. Es existieren weit mehr als hundert Schulen. Willst du da behaupten, dass an ihnen überhaupt nichts Wahres ist? Selbst wenn ihre Lehren widersprüchlich und verwirrend sind, wollen sie im Kern doch alle die Menschen so leiten, dass die Mächtigen barmherzig und die Reichen mildtätig werden, dass sie im Leiden des menschlichen Lebens Trost erfahren und ihre Seelen einen Halt finden. Solange sich die Güte über die Erde ausbreitet, ist es ganz nebensächlich, ob mein Buddha existiert oder nicht.

    (S. 138f.)


    Als Li einige Zeit später ein angeregtes Gespräch zwischen dem Mönch, seiner Nanshan und einem Mitglied ihrer Reisegruppe, einem europäischen Offizier, beobachtet, kommt er aus dem Staunen nicht mehr heraus:

    Zitat

    Schweigend verfolgte ich ihre Unterhaltung, die so harmonisch verlief, als würde man Wasser mit Milch vermischen. Dabei waren alle drei so völlig verschieden! Sie gehörten verschiedenen Völkern an und unterschieden sich in Sprache, Tradition, Alter, Charakter, Status und Erfahrung. Außerdem war auch noch ihr Glaube verschieden. Und doch gab es eine unsichtbare Kraft, die sie voller Herzlichkeit aufeinander zugehen und wie Geistesverwandte miteinander reden ließ. Was war das für eine Kraft? Sie musste einfach, aber mächtig sein. Das gemeinsame Streben nach Wahrheit, ihre Leidenschaft für die Gerechtigkeit, die Bewunderung der Kultur der Menschheit, aber auch das gemeinsame Verantwortungsgefühl für die Zukunft der Welt ließen sie spüren, dass sie Menschen gleicher Natur waren.

    (S. 168)


    Eintracht zwischen den Menschen, gewissermaßen eine harmonische, optimale Gemeinschaft kann anscheinend auch – und gewinnbringend für alle - auf anderen Grundsätzen fußen als denen, die einst während der Zeit der Großen Proletarischen Kulturrevolution (beziehungsweise im kommunistischen China überhaupt) gepredigt werden. Eine Li bereichernde Erfahrung, die an seiner Gesinnung natürlich nicht rüttelt. Eine Erfahrung aber auch, die leider nicht verhindern kann, dass seine Liebe zu Nanshan niemals Wirklichkeit und Alltag werden wird - zu groß scheint die Zerrüttung innerhalb ihrer Generation, die beide auseinandertreibt. Nanshan will ihn (nach den vier bisherigen Zufällen) in Zukunft nicht mehr wiedersehen; oder anders gesagt: sie findet, die beiden bräuchten einander in Zukunft nicht mehr wiederzusehen, jetzt, wo alles gesagt ist, obwohl sie hofft, dass ihre Freundschaft bestehen bleiben wird. Für einen verliebten Dreißigjährigen, der bereit ist, sich zu verändern, ist das ein eher kleiner Trost.


    Interessant ist der kurze Roman allemal. Und ein zeitgeschichtliches Dokument eines geistigen Umbruchs in China Anfang der 1980er-Jahre ist er sowieso. Der Roman rührt an tiefsinnige Lebensfragen, ist aber über weite Strecken eher unkünstlerisch erzählt, poetisch nur dann, wenn poetisch „steif“ bedeutet, manchmal sogar fast unfreiwillig komisch und seine Bedeutung überdeutlich vor sich hertragend. Als gutes Kunsthandwerk, das zum Nachdenken anregt, bekommt „Zur Stunde des verblassenden Abendrots“ mit Ach und Krach :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb: Sterne.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

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    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Dies ist eine englische Ausgabe, die unter dem Titel „When the Sunset Disappears“ im Juli 2013 bei Strategic Book Publishing erschienen ist. Die deutsche Übersetzung des im Original 1981 in Peking (unter dem Titel
    晚霞消失的時候) erschienenen Romans stammt aus dem Jahr 1988.

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