Welche Buchszenen haben Euch abtauchen lassen?

  • Beim Lesen eines Buches, wenn es denn nicht allzu langweilig ist, verfolgt man ja im Allgemeinen die Handlung recht aufmerksam und bekommt soweit das, was für einen selbst an der Geschichte wichtig ist, mit. Dennoch gibt es für mich Bücher, die einen aus der Position des "Lesenden" heraustreten lassen, die einem in manchen Szenen den Eindruck vermitteln, als sei man tatsächlich dabei gewesen. Die Handlung rückt aus der Welt des gedruckten Wortes heraus; man liest nicht mehr, sondern visualisiert das Gelesene im Innern.


    So wurde ich beim Lesen von "Games of thrones" zum stillen Begleiter von Jon Schnee beim Gang über die Mauer.
    Mit Harry Potter stand ich auf dem verschneiten Friedhof von "Godrics Hollow" am Grab seiner Eltern.
    Mit Claire Fraser saß ich am Ufer des Loch Ness...


    Welche Buchszenen haben euch mitgerissen?

  • Ich finde es schwierig, spontan bestimmte Szenen zu nennen. Aber jetzt, da du es schon erwähnst, bei Harry Potter und Game of Thrones gab es viele Stellen, die man sich sehr gut visuell vorstellen kann, so als würde man einen Film sehen innerlich. Stephen King ist auch so ein Autor, bei dem man meist schon auf Seite 1 so gut reinkommt in die Szene, dass man das Dargestellte tatsächlich vor dem geistigen Auge "sieht".
    Wenn es aber schon bei den ersten paar Kapiteln daran hapert, dass mein inneres Bild sich nicht so richtig zusammenfügt, dann bin ich spontan nicht so begeistert.
    Joe Abercrombie würde mir noch einfallen als geeigneter "Drehbuchautor".
    Spezielle Szenen kann ich nicht angeben. Für mich macht das mehr der Schreibstil an sich aus.

  • Uff, schwierige Frage, bei deren Beantwortung ich mich gerne novelista anschließen möchte: es passiert immer mal wieder, dass ich Szenen in Büchern bildlich sehe, aber ich habe auch gerade kein konkretes Beispiel....halt stopp! Habe ich wohl.
    In meinem gestern ausgelesenen Buch "Wolfsmale" von Ian Rankin gibt es zum Schluß eine wilde Verfolgungsjagd per Auto quer durch London. Rebus hat den Richter auf der Rückbank sitzen :loool: Bei dieser Szene hatte ich großes Kino im Kopf! Ansonsten passiert es mir eigentlich immer mal wieder, aber das gehört für mich beim Lesen dazu, so dass ich dem im Allgemeinen keine große Bedeutung beimesse.
    Aber ich gebe Euch recht, es gibt Autoren, bei denen man besser visualisieren kann als bei anderen.

    Isenhart musste grinsen, ihre Blicke begegneten sich. "Du hast nur tausend Mal", wisperte er.
    Konrads müdes Schmunzeln wuchs sich zu einem breiten Grinsen aus. "Ich verrat dir was", flüsterte er zurück, "das ist Mumpitz."


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  • Die erste Szene, die mir dazu einfällt, ist aus dem Erstlingsroman des schottischen Schriftstellers Iain Banks, der später vor allem für seine Science-Fiction-Romane des "Kultur-Zyklusses" bekannt wurde. In "Die Wespenfabrik" erwartet die Hauptfigur, der leicht gestörte Teenager Frank, mit einigem Schrecken die Rückkehr seines irren, jähzornigen Bruders Eric, der früher mit Vorliebe Tiere tötete, inzwischen aber aus der geschlossenen Psychiatrie ausgebrochen ist. Schließlich ist es soweit - Eric kehrt heim ins Dorf. Und sein Erscheinen wird auf eine besonders eindringliche, wilde Weise in Szene gesetzt:

    Zitat

    Das Licht wurde heller, und etwas rannte den meerwärtigen Hang der Schädelhain-Düne hinab. Es war ein Schaf, und ihm folgten weitere …

    Soweit so gut. Das Problem ist, dass Eric die Schafe angezündet hat!

    Zitat

    In Sekundenschnelle waren die Hügel bedeckt mit brennenden Schafen, ihre Wolle stand in Flammen, sie blökten in Panik und rannten den Hang hinab, steckten das dürre Gras und das Unkraut in Brand und hinterließen eine feurige Spur.

    (S. 255f. in meiner alten Taschenbuchausgabe)
    Man stelle sich einen nächtlichen Hügel vor, hinter dem ein Leuchten aufflackert. Geschrei von Tieren, auf den Betrachter zukommend, an Lautstärke zunehmend. Dann rennen brennende Schafe auf einen zu, erst eins, dann mehrere, schneller werdend, wie eine tierische Flut. Die Flammen greifen auf das Gras über. Und wie ein Hirte von Tierleibern zu seinen Füßen umwuselt wächst dann ein von dem Feuer unwirtlich beleuchteter Schatten eines Menschen über den Hügel, kommt der irre Eric langsam den Hügel hinabgestiegen! Ein wirklich beängstigendes, machtvolles und lautstarkes Bild, dabei auf einer rein ästhetischen Ebene auch sehr schön. Was die Gewalt und den Ekel wiederum sehr faszinierend macht...

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 57 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • In diesen unglaublich originellen Roman des zweitbesten polnischen Science-Fiction-Autors nach Lem bin ich zeitweise richtigehend abgetaucht, einfach deswegen, weil ich einige der geschilderten Vorgänge so noch nie zuvor gelesen hatte - und ich mich also völlig dem Erzähler und der Abfolge der Ereignisse ergeben musste, überrascht, was hinter der nächsten Ecke wohl passiert. Einerseits eine Identitäts- und Verschwörungsgeschichte, andererseits eine physikalische Versuchsanordnung über zwei Systeme in unmittelbarer Nachbarschaft, in denen völlig unterschiedliche Massenverhältnisse herrschen (was eigentlich unmöglich ist). Wechselt man von dem einen ins andere System, ist man plötzlich von Menschen umgeben, die sich mit - für die eigenen Verhältnisse - unglaublicher Langsamkeit bewegen. Gleichzeitig entspricht jede Bewegung, jeder Stoß, die man in dieser Atmosphäre ausübt, dem vielfachen an Kraftaufwand, dessen man – in den eigenen Verhältnissen – fähig wäre; man ist also in der Lage, mit leichter Hand einiges kaputt zu machen! :wink:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

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  • Mir fällt da noch die Anfangszene aus "Gargoyle"ein, in der der Ich-Erzähler im Drogenrausch autofahrend und -was sich als fatal herausstellt - mit einer Flasche Bourbon zwischen die Beine geklemmt - einen Abhang hinunterstürzt. Der Wagen entzündet sich, der Bourbon wirkt wie ein Brandbeschleuniger und letzten Endes überlebt er den Unfall mit schwersten Brandverletzungen, abgetrennten Zehen und dem Fehlen seines "besten Stücks". -sehr plastisch beschrieben und ich wette nach dem Lesen dieses Kapitels lasst Ihr den Alkohol in Zukunft da wo er hingehört, nämlich außerhalb eines motorisierten Fahrzeugs...!

  • Gargoyle, alter Schwede! Das habe ich damals gehört, von wem gelesen, weiß ich nicht aber definitiv gut!
    Ins Gedächtnis gebrannt hat sich mir die Szene, wie er das Auflegen eines Ohrs auf eine heiße Herdplatte beschreibt! Da war ich sehr abgetaucht....

    Isenhart musste grinsen, ihre Blicke begegneten sich. "Du hast nur tausend Mal", wisperte er.
    Konrads müdes Schmunzeln wuchs sich zu einem breiten Grinsen aus. "Ich verrat dir was", flüsterte er zurück, "das ist Mumpitz."


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  • Das Thema finde ich wirklich toll.


    Hm...welche Szenen haben mich mit in das Geschehen des Buches eintauchen lassen.
    Besonders gut konnte ich mit in Tintenherz hineinversetzen. Gleich am Anfang als die Wohnsituation beschrieben wird. Überall liegen Bücher, dass ist wirklich klasse gewesen.
    Beim Schneemädchen dachte ich zwischendrin ich würde im kanadischen Wald stehen.
    Diese Bücher haben mich auch von anfang an in ihren Bann gezogen.

    "Glaub mir, Bücher sind wie Fliegenpapier. An nichts haften Erinnerungen so gut wie an bedruckten Seiten." (Tintenherz)


  • Um meiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen, muss ich mal schnell einen alten Thread von mir hervorholen, denn obwohl ich an anderer Stelle schon über diese tollen Memoiren geschrieben habe, gehört der Beitrag aus meiner Sicht eher hier hin...


    Ich glaube, schon lange hat mich keine Buchszene mehr so abtauchen lassen, wie die 'offizielle Aufnahme' JR Moehringers in den Inner Circle der Bar an seinem 18. Geburtstag...

    Der Barkeeper - sein Onkel Charlie - macht ihn mit den skurrilen, aber so liebenswerten Gästen und Stammkunden der Bar bekannt. Zugleich führt er ihn in die Geheimnisse der Rituale der Bestellung, des Trinkens und Bezahlens im "Publicans" ein...

    JR, der ohne Vater aufgewachsen ist, und dem zeitlebens dieses Rollenvorbild fehlt, erfährt hier Kameradschaft, Anerkennung und Unterstützung, erhält Lebensunterricht und hört bewegende Lebensbeichten, Spontan-Monologe sowie Erzählungen über den Vietnam-Krieg...Großartig!