Ayelet Gundar-Goshen - Löwen wecken/ Lehar'ir arajot

  • Der Neurochirurg Etan Grien ist mit seiner Frau Liat glücklich verheiratet und hat zwei Söhne. Nachdem er in seinem alten Job in Ungnade gefallen war, muss er nun zur Strafe in einen Krankenhaus in israelischen Beer Scheva Dienst tun, was ihm überhaupt nicht gefällt. Eines Abends auf dem Weg nach Hause möchte er einfach nur mal wieder spüren, dass er am Leben ist und jagd seinen Jeep bei lauter Musik die Straße entlang. Dabei konzentriert er sich allerdings nicht so sehr auf die Straße, was ihm zum Verhängnis wird. Er überfährt einen illegalen Einwanderer, der noch am Unfallort an den schweren Verletzungen stirbt. Nachdem sich Etan davon überzeugt hat, dass ihn niemand beobachtet hat, lässt er den Verletzten einfach liegen und begeht Fahrerflucht, in der Hoffnung, sein Leben einfach weiterleben zu können. Doch kurze Zeit später steht eine schöne Fremde namens Sirkit vor seiner Haustür, sie ist die Ehefrau des Unfallopfers und hat Etans Tat beobachtet. Sirkit erpresst ihn mit ihrem Wissen, damit er die illegalen Einwanderer nachts kostenlos behandelt. Etan bleibt gar nichts anders übrig, als der Forderung Folge zu leisten, denn er hat Angst, seine Familie und sein gewohntes Leben zu verlieren. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass seine Ehefrau Liat als Polizistin den Fall des Unfallopfers untersucht. Ab sofort steht das Lügen für Etan an der Tagesordnung. Wird er ungestraft aus der Sache herauskommen oder wird er alles verlieren?


    Die israelische Autorin Ayelet Gundar-Goshen hat mit ihrem Roman „Löwen wecken“ ein außergewöhnliches Buch vorgelegt. Der Schreibstil ist nicht leicht zu lesen, hat jedoch neben groben Worten auch jede Menge Poesie und Einfühlungsvermögen zu bieten, die dem Leser die Gefühle und Ängste der einzelnen Protagonisten sehr nahe bringt. Die Charaktere sind meisterhaft angelegt, man bekommt eine Personenstudie vom Feinsten geliefert. Der Alptraum beginnt mit dem unerlaubten Entfernen des Unfalls. Ein falscher Schritt, der eine Katastrophe nach der nächsten wie einen Rattenschwanz hinter sich her zieht, wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird immer größere Kreise zieht. Da ist Etan, unzufrieden mit seiner Arbeitssituation, er fühlt sich ungerecht behandelt und will in sein altes Leben zurück. Durch seine unbedachte Handlung und seine Angst vor größeren Folgen muss er nun ständig seine Familie belügen, um das zu behalten, was ihm lieb und teuer ist. Dabei verkauft er sich und seine Werte immer mehr, gerät geradezu in einen Abgrund aus immer mehr Lügen und beschwört damit weitere Katastrophen hervor. Die Veränderung seines Wesens wird wunderbar in Szene gesetzt, als Leser merkt man allerdings auch, wie die eher anfängliche Sympathie zu Etan immer mehr zu Unverständnis führt. Sirkit ist eine starke Frau, die anderen Menschen helfen will durch die Erpressung von Etan. Sie spielt mit seinen Schwächen und nutzt ihn aus, doch irgendwie besteht zwischen den beiden auch ein unsichtbares Band, das mal in die eine, mal in die andere Richtung gespannt ist. Etans Ehefrau Liat spielt als Polizistin nur eine eher untergeordnete Rolle in dieser Geschichte.


    „Löwen wecken“ ist keine leichte Lektüre, sondern vielschichtig, anspruchsvoll, spannend und voller Überraschungen. Eine Leseempfehlung für alle, die gerne bei der Lektüre mitdenken und sich auch im Nachhinein noch Gedanken machen wollen.


    Nachdenkliche :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: .

    Bücher sind Träume, die in Gedanken wahr werden. (von mir)


    "Wissen ist begrenzt, Fantasie aber umfasst die ganze Welt."
    Albert Einstein


    "Bleibe Du selbst, die anderen sind schon vergeben!"
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    gelesene Bücher 2020: 432 / 169960 Seiten

  • Dann versuche ich mal, meine Eindrücke in Worte zu fassen. Das ist grad etwas schwierig, denn ich vermute, dass ich dem Buch zur Zeit nicht ganz gerecht werden kann. Durch private Gründe hatte ich nicht so richtig den Kopf frei für eine anspruchsvolle Lektüre, aber wir hatten uns in meinem Lesekreis auf dieses Buch geeinigt, also habe ich es auch gelesen. Doch ich glaube, es war wirklich der falsche Zeitpunkt sowie zu wenig Zeit, um an dem Buch dran zu bleiben, um mehr als immer nur ein paar Seiten zu lesen. Dadurch kam ich nicht so recht in die Geschichte hinein.


    Die Ausgangssituation der Geschichte sowie die Entwicklung hat dreamworx schon perfekt beschrieben. Eine Situation, wie sie überall auf der Welt ständig passieren kann - ein unbedachter Moment und die Katastrophe ist da. Wie würden wir reagieren? Etan als Protagonist begeht eine typische Kurzschlusshandlung und die Folgen bleiben nicht aus. Ihm als gut-situiertem Weißen (der zwar nicht mehr das Leben führt, dass er sich erträumte, der aber trotzdem ein sehr gutes Leben lebt) steht dabei eine ungewöhnliche Frau gegenüber - eine "Schwarze", eine Illegale, eine Eritreerin, die so gar nicht der Masse an Illegalen zu entsprechen scheint in ihrem Denken und ihrem Handeln. Das wird im Verlauf der Geschichte auch immer wieder herausgearbeitet. Diese beiden Gegenpole bestimmen den Verlauf der Geschichte - die Welten berühren sich und beide bekommen hin und wieder einen Einblick in die Lebenswelten des anderen. Wobei das mehr für Etan gilt als für Sirkit - er blickt hinter die Kulissen der Illegalen, sie nur hinter die Kulisse "ihres" Arztes.


    Als positiv empfand ich beim Lesen die Entwicklung beider Charaktere, sie bilden kein typisches Schwarz-Weiß-Gegensatzpaar, sondern sie haben Nuancen, Färbungen, Entwicklungen zum Guten wie zum Schlechten hin. Weder ist Etan nur Täter oder nur das Opfer einer Erpressung noch ist Sirkit nur die Gute, die die Gunst der Stunde für sich und ihre Leidensgenossen nutzt. Beide haben ihre Geschichte und persönlichen Hintergründe, die zu ihrem Verhalten beitragen, und beide verbergen mehr als es auf den ersten Blick so scheint. Das wird von der Autorin geschickt im Verlauf des Buches herausgearbeitet und immer im passenden Kontext präsentiert.
    Im Gegensatz zu dreamworx empfinde ich Liat als Etans Frau und auch in ihrer Rolle als Kriminalpolizistin durchaus als wichtig in diesem Plot. Sie ist der andere Gegenpol zu Etan und seiner Handlungsweise, denn vieles davon beruht auf der Beziehung dieser beiden zueinander. Auch ihr Beruf bestimmt dabei Etans Handlungsweise, denn er belügt nicht nur seine Frau sondern in ihrer Person immer auch gleichzeitig bereits die ermittelnde Polizei. Damit hat Liat zwei Funktionen in der Geschichte. Ob das ein wirklich guter Schachzug der Autorin ist, darüber bin ich mir nicht so ganz im klaren, denn mir kam es beim Lesen immer wieder so vor als ob sie Liat damit überfrachtet in ihrer Bedeutung.
    Ein paralleler Nebenstrang, der aber nicht ganz so bedeutungslos für mich ist, sind die Beduinen = Araber, die von der Autorin in die Geschichte eingewoben werden. Diese werden dabei von zwei Seiten aus beleuchtet - zum einen als die unterdrückte Minderheit, die sich auf beschämende Weise "verkauft" an die Israelis, und zum anderen als die kriminelle Schattenwelt der israelischen Gesellschaft. Es ist der Autorin positiv anzurechnen, dass sie die Araber nicht nur als negativ präsentiert, aber auch bei diesem Nebenschauplatz hatte ich das Gefühl, dass sie ihre Geschichte damit wirklich weiter überfrachtet. Aber es ist schwierig für mich, das genau einzuordnen, da ich keinerlei persönlichen Bezug zu Israel und seinem Alltagsleben habe. Eventuell empfindet das jemand, der mehr vom israelischen Alltag kennt, ganz anders als ich.


    Negativ an dem ganzen Plot empfinde ich das Ende der Geschichte, das in einem regelrechten Showdown gipfelt. Es stört mich,


    Das ist für mich nicht stimmig, ohne dass ich genau den Finger auf den wunden Punkt legen kann. Es passt für mich einfach nicht in die ganze Entwicklung des Plots hinein. Aber vielleicht ist es das auch nur für mich aus meiner europäischen Sichtweise so. Sehr gerne würde ich mich mit jemandem darüber unterhalten, der mehr vom Leben in Israel weiß als ich. Vielleicht sähe die Geschichte für mich dann ganz anderes aus.


    Den Schreibstil der Autorin fand ich teils anstrengend. Sie wechselt immer wieder vom Präsens ins Präteritum und ich konnte beim besten Willen kein echtes Muster dabei erkennen. Das mag an meiner Unaufmerksamkeit liegen, aber ich habe wirklich versucht, darauf zu achten. Solche Wechsel stören mich immer, ich mag das einfach nicht. Allerdings muss ich dreamworx recht geben wenn sie sagt:

    … hat jedoch neben groben Worten auch jede Menge Poesie und Einfühlungsvermögen zu bieten, die dem Leser die Gefühle und Ängste der einzelnen Protagonisten sehr nahe bringt.

    Das stimmt, das ist der Autorin hervorragend gelungen.


    Momentan gebe ich dem Buch 3 Sterne, aber ich sage auch ganz deutlich, dass sich das eventuell in der Rückschau oder gegebenenfalls nach Diskussionen hier im Thread ändern könnte. Sollte ich diese Bewertung ändern, dann werde ich es hier aber auch begründen, damit es nachvollziehbar wird. :wink:


    Über die Autorin:
    Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Sie lebt und arbeitet als Autorin und Psychologin in Tel Aviv. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihrem ersten Roman, »Eine Nacht, Markowitz« (2013), wurde der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt Israels zugesprochen. Dieser Roman wird derzeit von der BBC verfilmt.
    (Quelle: Amazon)

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Das Buch ist mir, etikettiert als Leseempfehlung, beim Buchhändler in die Hände gefallen, es war also ein ganz spontaner Leseeinfall.
    Mir fiel es sehr leicht, dieses Buch zu lesen, da es thematisch es in vielen Aspekten dicht an meinem Leben dran war und daher sehr berührt hat (so konnte ich mich sowohl gut mit der Frau als Mutter identifizieren, ls Ärztin kenne ich sowohl den Alltag des Protagonisten als auch die Situation einer provisorischen Krankenversorgung in Krisenländern). Viele Gedanken und Beobachtungen fand ich hilfreich, meine eigene Sichtweisen nochmal zu prüfen. Insbesondere die Thematik, wie fremd oder nah uns Menschen sind, wie gleich und wie fremd wir uns doch alle sind, fand ich sehr gelungen. Ebenso die Beschreibung der Beziehungsdynamik des Pärchens (bei der es eigentlich auch um die Analyse von Nähe und Fremdheit geht), wobei ich mitnichten Liat als Nebenfigur eingeordnet hätte. Liat war immer dabei, als Spiegel, Projektionsfläche, Ausrede, insbesondere als der Blick/Das Urteil der Anderen. Die psychologische Betrachtungsweise mit langen, ausführlichen Darstellungen der Innensicht fand ich anfangs sehr spannend und wichtig, für mich stellte das Buch eher eine psychologische Studie als eine Kriminalgeschichte o.ä. dar. Erst gegen Ende, als sich die Ereignisse überschlugen, störten mich die weiterhin ausführlich gehaltenen Gedankengänge dann doch und ich hätte mir mehr Tempo und Lesefluss gewünscht.
    Ich stimme Squirrel aber zu, dass der Plot insgesamt nicht ganz stimmig scheint, insbesondere das Ende fällt plötzlich dürftig und irgendwie ernüchternd aus. Vielleicht wäre alles andere auch kitschig :-k .
    Insgesamt 4 Sterne.

    :study: Junge mit schwarzem Hahn- Stefanie vor Schulte


    No two persons ever read the same book (Edmund Wilson)

  • für mich stellte das Buch eher eine psychologische Studie als eine Kriminalgeschichte o.ä. dar.

    Da bin ich ganz Deiner Meinung - der Unfall ist meiner Meinung nach nur Mittel zum Zweck in dieser Geschichte

    da es thematisch es in vielen Aspekten dicht an meinem Leben dran war und daher sehr berührt hat

    Dann hast Du natürlich einen ganz anderen Zugang zu der Geschichte als ich. Hast Du evtl. auch mehr Wissen / Erfahrungen in Bezug auf den israelischen Alltag als ich? Ich hab noch immer das Gefühl, dass ich mit meinem Hintergrund so manches zwischen den Zeilen einfach nicht erkannt habe.

    dass der Plot insgesamt nicht ganz stimmig scheint, insbesondere das Ende fällt plötzlich dürftig und irgendwie ernüchternd aus. Vielleicht wäre alles andere auch kitschig

    Kitschig sollte es auf gar keinen Fall werden, aber ich finde es interessant, dass Dir der Plot hier auch unstimmig erscheint. Aber ich habe das Gefühl, dass Du genauso wenig wie ich den Finger auf den Punkt legen und sagen kannst, was nicht stimmt, was fehlt. Ich kann es noch immer nicht benennen. :-k

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • @SquirrelJa, ich denke, ich fand das Buch v.a. gut, weil es mir persönlich etwas sagt. Mit Israel allerdings habe ich gar keine Erfahrung. Hier fand ich es wiederum spannend, in eine so fremde Welt hineingezogen zu werden. Aber auch hier: Das Thema"fremd und nah" bleibt. Was weiss ich schon über Israel, über das Leben dort- und doch fühlte ich mich den Protagonisten oft sehr nah.
    Was das Ende angeht

    :study: Junge mit schwarzem Hahn- Stefanie vor Schulte


    No two persons ever read the same book (Edmund Wilson)

  • Ein Neurochirurg in Israel überfährt einen illegalen Einwanderer und begeht Fahrerflucht. Doch tags darauf steht die Frau des Opfers vor seiner Tür und macht ihm einen Vorschlag, der ihn komplett aus der Bahn wirft.

    Das ist der Plot dieser Geschichte. Die Autorin ist Psychologin, beobachtet großartig, schreibt faszinierend und spricht dabei sehr viele Probleme an. Der Weg des Sünders, der Buße tut. Es gibt immer wieder neue überraschende Wendungen, es gibt gut durchdachte Nebenhandlungen und einen kleinen Einblick in das Innenleben Israels. Nicht so sehr Politik, sondern die verschiedenen Richtungen des jüdischen Volkes (die sich schon untereinander nicht als gleichwertig ansehen), die Araber, die Beduinen und dazu noch die illegalen Einwanderer. Die Hitze der Wüste, Die Schönheit eines Rosenstrauchs, das Brüllen der Löwen, das Plappern der Kinder.

    Ein Dreiecksverhältnis bahnt sich an - der Arzt, der sich schuldig fühlt, seine Frau, die Polizistin, die den Fall des getöteten Eritreers untersucht und Sirkit, die kaltblütige Einwanderin, die sich nimmt, was sie kriegen kann.

    Das Buch hat immer wieder Längen, aber das hat mich kaum gestört. Nur der Schluss ist etwas .... seltsam.


    Trotzdem: ich vergebe 5 :bewertung1von5: für ein Buch, das mich sehr gefesselt hat.

    Nicht jeder, der das Wort ergreift, findet ergreifende Worte :-,


    (frei nach Topsy Küppers)