Jane Kramer - Der einsame Patriot / Lone Patriot

  • Die Autorin (nach Klappentext und Amazon): Jane Kramer, geboren 1938 in Providence, Rhode Island, ist eine US-amerikanische Journalistin und Schriftstellerin. Nach einem Anglistik-Studium sammelte sie erste journalistische Erfahrungen. Seit 1964 schreibt sie Reportagen für den New Yorker. 1981 etablierte sie sich als dessen ständige Europa-Korrespondentin und Kolumnistin, deren Texte unter dem Titel Letter from Europe erscheinen. Sie hat ein besonderes Interesse an Außenseitern, die sich nur schwer in das "Neue Europa" einfügen. Nach dem Bombenanschlag in Oklahoma City im Jahr 1995 wandte sie sich dem Themenbereich der rechtsextremen Milizen zu und veröffentlichte 2002 das Buch Lone Patriot, dessen deutsche Übersetzung im Jahr 2003 in der edition TIAMAT erschien. Jane Kramer lebt in Paris und New York. 1993 erhielt sie den europäischen Essay-Preis Charles Veillon. Auf deutsch sind von ihr unter anderem die Titel Sonderbare Europäer (Frankfurt 1993) und Unter Deutschen. Briefe aus einem kleinen Land in Europa (Berlin 1996) erschienen.


    Jane Kramers literarische Reportage Der einsame Patriot zeichnet ein beunruhigendes Bild der amerikanischen Provinz und gewährt einige sehr interessante Einblicke in verschwörungsgläubige Parallelgesellschaften, bestehend aus weißen Rassisten, sezessionistischen Regionalisten, bewaffneten Regierungskritikern, schlichten Antisemiten und christlichen Fundamentalisten im Whatcom County, der Gegend um Seattle im äußersten Nordwesten der USA.


    Inhalt (nach Klappentext): Im Jahr 1996 unternahm Kramer die erste von zahlreichen Reisen nach Whatcom County im US-Bundesstaat Washington, um sich mit John Pitner und einigen Altgedienten der Washington-State-Miliz „Alpha One“ zu unterhalten. Durch den Mund dieser Männer, vor allem ihres Anführers Pitners, erzählt Kramer die Geschichte einer Bewegung, die in den Neunzigerjahren, kurz vor der Jahrtausendwende, in Amerika in Erscheinung trat und die sich in das neue Jahrhundert hinein erhalten hat – wobei die weltgeschichtlichen Ereignisse in Folge des Terroranschlags vom 11. September höchstens geeignet waren, sie in ihrer Entschlossenheit zu bestärken.


    Der Reportage will allerdings (entgegen dem Klappentext) weniger eine allgemeine Geschichte "freiheitlicher", patriotischer und rechtsextremer Milizen im Amerika sein, als vielmehr das Psychogramm eines seltsam-charismatischen Einzelfalls: Es geht um den Anstreicher John Pitner, einen politischen Wirrkopf, der sich zum Anführer der rechtsextremen, bewaffneten, aber im Grunde einflusslosen Washington-State-Miliz aufschwingt, und um einige Menschen, die ihm folgen, um gegen die „Neue Weltordnung“ zu kämpfen. Die kurze Karriere eines amerikanischen Milizionärs.


    Über John Pitner schreibt Jane Kramer:

    Zitat

    Als ich ihn kennen lernte, hatte er praktisch das Reflektieren verlernt. Er konnte reden, aber er konnte nicht zuhören. Seine Überzeugtheit war so nahtlos, tief und heimlich wie die erste Liebe, und vielleicht begann er deshalb mit seinem Kopf so umzugehen, wie er es bei einem Computer gelernt hatte, und die Realität auszulöschen, als wäre sie ein eifersüchtiger oder bösartiger Rivale. Es gab die Menschen, die Durchblick hatten, und die anderen, die das nicht hatten, und mehr ließ sich dazu nicht sagen.

    (S. 88f.)


    Man erhält Einblicke in die entrüstete, aber kleingeistige und provinziell-fundamentalistische Gemütslage von Menschen, die vom sozialen und wirtschaftlichen Einfluss auf die Gesellschaft „abgehängt“ sind. Für den Mann aus dem lokalen Kramladen entspricht John Pitners Verhalten dem Verhalten „der ganzen Gegend, nur in überdimensionierter Form (…) Die Menschen in Whatcom County seien alle ein bisschen komisch (…) Darin bestehe der Reiz des Ortes und natürlich auch sein Problem. (…) Die Menschen haben ihre Überzeugungen, aber man muss ja auch zusammenleben. Man nennt das Verleugnung. (S. 231)


    Tatsächlich ist Der einsame Patriot also auch eine Geschichte über die Provinz. Das Buch nimmt schnell Fahrt auf und hat einen schön erzählerischen Tonfall, dessen Ironie sich in angenehmem Rahmen hält. Vorgeführt wird keine der Figuren. Es spielt in einem tristen, verregneten Vorstadtamerika, das von sehr seltsamen Menschen bevölkert ist. Die Autorin schreibt über die Formierung der Washington-State-Miliz bis hin zur Verhaftung und Verurteilung John Pitners und einiger einflussreicher Mitstreiter. Ihr Weltbild wimmelt von all den typisch-ausgelutschten Feindbildern: Die Welt (bzw. die USA) werden regiert von jüdischen Bankern und Wall-Street-Kommunisten; der Staat kontaminiert das Leitungswasser mit Fluor, um die Bevölkerung dumm und arbeitswillig zu halten; die Frauenbewegung und das Engagement für die Rechte von Homosexuellen zerstören das traditionelle Leben in Amerika, Sexualkundeunterricht und Darwins Evolutionslehren bringen noch ältere Bekenntnisse zum Wanken; außerdem fehlt der USA seit 1806 überhaupt jede staatliche Legitimation, weswegen viele der „freiheitlichen“ Mitglieder der Truppe keine Einkommenssteuer an den Staat entrichten. Außerdem hat Bill Clinton die Armee an die Vereinten Nationen verkauft. Und an dem Recht, verdeckt Waffen tragen zu dürfen, darf keinesfalls gerüttelt werden!


    Tatsächlich reden die Milizionäre sehr häufig von der Freiheit, jedoch ist ihr Umfeld ein derart engstirniges Milieu, das ihnen ständig bedroht vorkommt und umgeben scheint von Feinden, dass ich mich beim Lesen so beengt fühlte wie schon lange nicht mehr. Eine triste Stimmung legt sich über die geschilderten Ereignisse, Versammlungen und Führungsstreitigkeiten. Tatsächlich hat diese spezielle Bürgerwehrtruppe überhaupt nichts zuwege gebracht - außer, Reden zu schwingen und einander intern zu verdächtigen, für "den Feind" zu spionieren. Auch das gesamte gesammelte Geld wurde von Anführer Pitner noch nicht einmal in die versprochenen Waffenlager im Wald investiert – alles nur Potemkinsche Dörfer zur Beruhigung der Mitläufer.


    Jämmerliche Menschen, deren Gefährlichkeit dennoch nicht zu unterschätzen ist! Schön fand ich insofern, dass Jane Kramer diese waffentragenden, regierungsfeindlichen, die falsche Freiheit liebenden Wirrköpfe, die mit Rohrbomben und automatischen Waffen in der Hand entweder den Untergang des Abendlandes erwarten oder den Untergang am liebsten herbeiführen würden, nicht zu bemeitleidenswerten, einsamen Nerds stilisiert hat. Das wäre vielleicht vergnüglicher gewesen, aber auch ein allzu billiger Spaß. Stattdessen liegt ein lähmender Schleier des Unwohlseins, des schleichenden Entsetzens über der Lektüre. Das Buch passt, obwohl schon im Jahr 2003 erschienen, ziemlich gut in die gegenwärtige Geisteslage des Jahres 2015 hierzulande, in der Verschwörungstheorien und rechtslastige Bürgerklüngel mal wieder Oberwasser haben. Es ist beileibe keine rein amerikanische Geschichte.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • Und das ist die originale Hardcover-Ausgabe von 2002. Lone Patriot ist aber auch als englisches Taschenbuch und Kindle-Ausgabe erhältlich.

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  • Und schon wieder habe ich ein "nicht" vergessen: Im letzten Absatz ist ihre Gefährlichkeit natürlich NICHT zu unterschätzen. ](*,)

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  • Ich war so frei und hab es Dir im Text eingesetzt :)

    Cool, vielen Dank! :thumleft: Ich hatte schon überlegt, mal deswegen anzufragen, wollte dann aber nicht mit so Kleinigkeiten ankommen ... :uups:

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  • Cool, vielen Dank! :thumleft: Ich hatte schon überlegt, mal deswegen anzufragen, wollte dann aber nicht mit so Kleinigkeiten ankommen ... :uups:


    kannst Du ruhig machen - immerhin verändert diese Kleinigkeit ja ausschlaggebend den kompletten Satz :wink: