Original : Französisch, 2014
INHALT :
Zwei Stimmen als Zeugen eines Ereignisses, des spanischen Bürgerkrieges : jene von Georges Bernanos, dem französischen Schriftsteller, Journalisten, der seit 1933 in Mallorca wohnte und dort Zeuge des schrecklichen Terrors der Nationalisten (= Frankisten) wird, unter dem Segen und der Zustimmung weiter Teile des Klerus. Und jene Stimme von Montse, Mutter der Erzählerin, 75 Jahre nach den Ereignisen, an die sie sich trotz der Erinnerungslücken über spätere Zeiten erinnert. Im Jahre 1936 erlebte sie einen unvergesslichen Sommer, der in einigen Städten Kataloniens von einer euphorischen, anarchistischen Aufbruchsstimmung begleitet wurde.
Zwei Blickwinkel auf eine Epoche mit unterschiedlichen Protagonisten, zwischen unglaublicher Gewalt und idealistischem Aufbruch.
(Entspricht in etwas der französischen Verlagsbeschreibung)
BEMERKUNGEN :
Die Ich-Erzählerin schildert die Erzählungen und Erinnerungen ihrer 90igjährigen Mutter im Jahre 2011. Diese hat nahezu alles vergessen, was circa nach 1938/39 passiert ist, aber an diesen vielleicht prägendsten Sommer ihres Lebens im Jahre 1936 erinnert sie sich sehr wohl. Die schon Jahre früher ausgerufene Republik wird in Frage gestellt. Und für mich war es teils neu (beschämend für mich) zu erahnen, dass die Ereignisse, Protagonisten und Parteien noch viel komplizierter und verwickelter waren als ich dachte. Nun, Salvayre wird nicht ein Epos des gesamten Spanischen Bürgerkrieges schreiben, doch die Beschreibung des Lebens ihrer Mutter, ihrer Familie, ihres Ehemannes, ihres Heimatdorfes und ihrer « Eskapade » für einige Wochen in die von libertären, anarchistsischen Kräften euphorisch beseelte nächste Kleinstadt stehen stellvertretend für die Vielfalt der Einstellungen.
Die Erzählung berichtet von den sehr armen Kleinbauern, größeren Besitzern, hier einer alten Frömmigkeit, dort vom Hass auf den einseitig die « Reichen » und die bestehende Gesellschaftsordnung stützenden Klerus. Einige gehören der kommunistischen Partei an, die auf ihre Weise zunächst auch Angst einflößt. Ihr Bruder José wiederum und sein Freund Juan- und Montse schließt sich ihnen bei ihrer Flucht in die Stadt an - sind von den Idealen Bakunins ( http://de.wikipedia.org/wiki/Michail_Alexandrowitsch_Bakunin ) und einer wahren Euphorie gekennzeichnet, sehnen eine freie Gesellschaftsordnung heran, in der man aus freien Stücken quasi teilt. Nach anfänglichen « Bekehrungen » wenden sich die Dorfbewohner doch wieder alle ab, suchen später bei der geregelteren « KP » ihr Heil. Die Tante von Diego aber, des zukünftigen Ehemanns von Montse, die aus der überschwenglichen Atmosphäre der Stadt schwanger zurückgekommen war, ist nicht nur eine bigotte, ausgetrocknete Jungfer, sondern auch Bewunderin Frankos.
Von Dorf zu Dorf waren die Konstellationen oft verschieden und herrschten andere Zustände. In dem hier beschriebenen kommt es natürlich ebenso zu Spannungen, hier noch dramatisiert durch die Tatsache, dass sie innerhalb einer Familie herrschen.
Eingestreut in diesen bei Weitem überwiegenden erzählerischen Teil sind Hinweise auf den bekannten französischen Schriftsteller Georges Bernanos und seinen Beobachtungen auf Mallorca. Er, der gläubiger Katholik war und selbst anfangs einen Sohn bei den Falangisten hatte, lebte von 1934 bis 1937 in Palma/Mallorca, von wo aus er die nationalspanische Falange und den Opportunismus der katholischen Bischöfe und insbesondere der Jesuiten nach einem Umlernprozeß scharf attackierte. Er schrieb ein heftiges, scharfes Pamphlet, das für Furore sorgte (siehe Weiteres unten). Er allein, nahezu, findet bei Salvayres Bestandaufnahme der christlichen Seite Gnade. Wobei sie sich auf die Hierarchie beschränkt. Was da passierte an Blindheit und Parteilichkeit vonseiten der Hierarchie der katholischen Kirche ist verheerend und zutiefst traurig. Das kann man nicht wegwischen. Selbst wenn es anscheinend – was nicht erwähnt wird – Ausnahmen gab, auch im Episkopat. Und natürlich jeder einzelne Christ Teil der und Zeuge für die Kirche ist. Und es auch nicht hilfreich ist, wenn insbesondere im ersten Teil die Autorin teils selber so empört ist, dass ihre Aussagen sehr giftig und polemisch werden. Doch – durchaus wahr – darin ähnelte sie Bernanos, dessen Werk auch als Pamphlet verstanden werden kann.
Im Laufe des Werkes wird Salvayre aber auch erwähnen, dass Greueltaten eben auch von republikanischer Seite begangen wurden. Sie dämpfen den Enthusiasmus der wirklichen Humanisten.
Die Autorin benützt verschiedene Stile, Perspektiven, sei es nun in den Teilen aus der Sicht Bernanos’, sei es in den langen Schilderungen aus ihrer Sicht auf das Geschehene (wo ihre Mutter in der 3.Person mit Montse bezeichnet wird), sei es in den « Erzählpassagen » ihrer Mutter, wo jene in einem amüsanten, vom spanischen Einfluß geprägten Französisch erzählt : hier tauchen spanische Wortwendungen auf, Hispanizismen etc. Das hat manchen französischen Leser wohl verärgert, weil da ein massakriertes Französisch verwendet wird. Vielleicht wären Fußnoten mit den Übersetzungen angebracht gewesen ? Ich weiß nicht, wie man dieses wichtige von der Autorin gewählte Stilelement in einer deutschen, sicherlich anstehenden, Übertragung wiedergeben wird. Manchmal kommen angedachte Sätze zu keinem Abschluß (den man aber erahnt) oder enden mit drei Pünktchen.
Das Buch mag vielen einen guten Zugang zu Themenstellungen rund um den Spanischen Bürgerkrieg, bzw die Parteienlandschaft im Vorfelde liefern. Die Schreibweise, die Sprache Salvayres mag gewohnungsbedürftig sein, doch hat mE ihre Reize und einen Stempel mal von Authentizität, mal von Engagement, mal von normaler Erzählweise. Und, neben einer Art der politischen Bestandsaufnahme, ist dies eben auch eine gut erzählte Geschichte vom Schicksal ihrer Mutter.
Knapp vor Kamel Daoud (siehe hier: Kamel Daoud – Meursault, contre-enquête ) gewann Lydia Salvayre mit diesem Roman 2014 den begehrten Goncourt-Preis. Wobei ich mich angesichts der offensichtlichen Nähe zur Biographie ihrer Mutter und dem Leben Bernanos’ frage, ob eine andere Bezeichnung als Roman eventuell auch gepasst hätte : Schilderung ?
Interessant ! Ich bin dankbar, es gelesen zu haben !
AUTORIN :
Lydie Salvayre (geborene Arjona; * 1948 in Autainville, Département Loir-et-Cher) ist eine französische Medizinerin und Schriftstellerin. Ihre Werke sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt worden. Sie wuchs als Tochter geflohener spanischer Republikaner in Auterive in der Nähe von Toulouse auf. Ihre Mutter stammt aus Katalonien, ihr Vater aus Andalusien. Mit Spanisch als Muttersprache lernte sie Französisch in der Crèche. Nach dem Bac studierte sie moderne Literatur und Spanisch an der Universität Toulouse. Sie schloss 1969 ein Medizinstudium an und spezialisierte sich auf Psychiatrie. In Marseille und in Bouc-Bel-Air war sie bis Ende 1970er Jahre in der Psychiatrie berufstätig. Nach ihrer Scheidung 1983 zog Lydie Salvayre nach Paris und arbeitete als Pädiaterin in einer Praxis in Argenteuil.
Broché: 278 pages
Editeur : Seuil (21 août 2014)
Collection : Cadre rouge
Langue : Français
ISBN-10: 2021116190
ISBN-13: 978-2021116199