Stephan Thome- Gegenspiel

  • Wenn man den neuen Roman von Stephan Thome zur Hand nimmt und sich noch gut an seinen letzten mit dem Titel „Fliehkräfte“ erinnert, da kommt einem eine literarische Parallele in den Sinn. Und zwar die beiden Bücher von Rachel Joyce, die zunächst in „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ von einem Mann erzählt, der sich auf den Weg zu seiner ehemaligen nun im Sterben liegenden Kollegin macht und einige Jahre später mit „Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry“ eben diese Kollegin Quennie ihre Version der Geschichte und ihr Leben erzählen lässt.
    Die Sätze, mit denen ich damals den Inhalt von Thomes „Fliehkräfte“ beschrieb, können sozusagen eins zu eins für das neue Buch „Gegenspiel“ übernommen werden:



    In seinem neuen Roman erzählt der in Biedenkopf in Hessen geborene Stephan Thome von einem Philosophieprofessor, dessen Leben und dessen Ehe aus den Fugen geraten sind, und der, seiner Vergangenheit nachdenkend und seiner Zukunft entgegenpilgernd, versucht, den „Fliehkräften“, die ihn und sein Leben auseinanderzureißen drohen, Einhalt zu gebieten.


    Wie schon die Hauptperson in Thomes gefeierten Debütroman „Grenzgang“ stammt auch Professor Hartmut Hainbach aus der oberhessischen Heimatstadt von Thome, die hier wie dort Bergenstadt heißt. Hartmut Hainbach ist Ende fünfzig, seine Tochter ist erwachsen geworden, und lebt in Santiago de Compostela mit einer Freundin zusammen. Gegen Ende des Buches wird sie ihren Vater über die wahre Natur dieser Freundschaft aufklären. Hartmuts Frau Maria stammt aus Portugal, wo die Familie über viele Jahre jeden Sommer verbracht hat.


    Doch seit zwei Jahren hat sie die gemeinsame Wohnung in Bonn verlassen, wo Hartmut Hainbach seit vielen Jahren eine Philosophieprofessur innehat. Sie lebt in Berlin und arbeitet dort als Assistentin und auch zeitweise Geliebte eines außergewöhnlichen Theaterregisseurs. Unglücklich über diesen Zustand, versuchte Hartmut Hainbach bislang vergeblich sich beruflich zu verändern. Da kommt ihm ein Angebot des Eigentümers eines wissenschaftlichen Verlags in Berlin gerade recht, wo er das philosophische Programm ambitioniert betreuen soll.


    Hartmut Hainbach weiß nicht, wie er sich entscheiden soll, nicht zum ersten Mal in seinem Leben. Er fragt sich, ob seine Frau überhaupt möchte, dass er nach Berlin kommt. Kann er aus seinem Vertrag an der Uni Bonn heraus? Wird er nicht erhebliche Teile seines Pensionsanspruchs verlieren? Das sind nur wenige der Hunderten von Fragen, die Stephan Thome seinen Protagonisten in diesem Roman immer wieder stellt. Fragen, die manches Mal keine Antwort finden und im Raum stehen bleiben.


    Hartmut Hainbach hält die unklaren Lebensverhältnisse nicht mehr aus. Er setzt sich in sein Auto, verlässt Bonn und bricht zu so etwas wie einer Pilgerreise auf, bei der ihm und dem Leser sein ganzes bisheriges Leben vor Augen geführt wird. In Paris trifft er seine erste große Liebe wieder, in Südfrankreich besucht er einen ehemaligen Bonner Kollegen, der vor Jahren schon der Uni aus Frust über den unsäglichen „Bologna-Prozess“ den Rücken gekehrt hat und am neuen Ort ein Weinlokal betreibt. Überall dort erhofft er sich Antworten und wird doch immer nur mit neuen Fragen konfrontiert. Wie auf einem echten Pilgerweg eben. Schon hier und erst recht auf seiner Weiterfahrt nach Portugal zu den Verwandten seiner Frau und seiner Tochter wird nicht nur ihm, sondern auch dem Leser deutlich, dass das Leben eines Menschen mehrere Anfänge hat, dass es aus Abschnitten besteht, die jeweils ihren eigenen Beginn, ihr eigenes Ende und ihren eigenen Sinn haben, auch wenn der sich nicht immer sofort und oft erst unter Schmerzen erschließt.


    Sehr geschickt wechselt Stephan Thome die Zeitebenen und lässt seinen Protagonisten immer klarer werden, ohne dass er gleich die Antwort auf seine Fragen wüsste. Aber er macht sich immer weniger selbst etwas vor, lässt seine Verzweiflung zu und kommt so langsam sich selbst und in der Folge dann auch den Menschen, die er liebt, wieder näher. Immer mit der Maxime: „Manchmal ist es besser, einen falschen Schritt zu tun, statt grübelnd auf der Stelle zu treten.“
    Soweit die Häutung von Hartmut Hainbach. Wie seine Frau, die aus Portugal stammende Maria, das alles erlebt, blieb in „Fliehkräfte“ eher dunkel bis unterbelichtet. Doch nun kommt sie als „Gegenspiel“ mit ihrer Lebensgeschichte zu Wort, die sich spannt von ihrer Jugend im Portugal kurz nach der Nelkenrevolution bis zu ihrem Wechsel von Bonn nach Berlin als Assistentin eben jenes exaltierten Regisseurs, den sie als Studentin in Berlin schon kannte und liebte, bevor sie Hartmut kennenlernte. Wir erfahren von ihren Träumen und Sehnsüchten, von ihren Problemen als junge Mutter und von ihrer immer weiter wachsenden Unzufriedenheit mit einer Schattenexistenz als Professorenfrau, die sich der Berufungspolitik der Universitäten mit ihrem Privatleben und ihrem Wohnort über eine lange Zeit unterordnet.

    Stephan Thome führt seine Leser in wechselnden zeitlichen Ebenen nicht nur in das nachrevolutionäre Portugal, sondern auch in die Hausbesetzerszene in Berlin in den achtziger Jahren, ins alternative Theatermilieu und in die deutsche Provinz vor und nach der Wende, sondern er lässt sie mit überraschender Sensibilität auch für seine weibliche Protagonistin teilhaben an Marias Entwicklungsprozess, ihrem Drang nach Freiheit, der unter dem Druck von sie einengenden Verhältnissen sie irgendwann ausbrechen lässt aus einer Ehe und Beziehung, in der sie sich selbst verloren hat.

    „Gegenspiel“ ist mehr noch als die Version der Geschichte der Hainbachs ins „Fliehkräfte“ ein stellenweise verstörender, aber auch durchweg berührender Roman über Täuschung und Selbsttäuschung, über Lebenslügen und den Aufbruch daraus, und immer wieder geht es um Verantwortung, nicht nur für den Partner, sondern für das eigene Leben. Und es wird am Ende darum gehen, wie echte Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben die einzige Möglichkeit ist, die einsturzgefährdete Brücke zum geliebten, aber entfremdeten Partner neu zu begehen.
    „Gemeinsame Lebenslügen sind komplizierte Gebilde“, schreibt Thome an einer Stelle, „aber das zugrundeliegenden Prinzip ist simpel: einer will nicht hören, was der andere sich nicht zu sagen traut.“

  • Thome scheint ein guter Autor zu sein; seine ersten beiden Bücher warten bei mir noch auf dem SUB...


    Aber das heißt also - wenn ich richtig verstehe und lese - dass in dieser Rezension nur der erste und letzte Abschnitt "neu" sind? Vielleicht hätte es doch etwas erfindungsreicher sein können?

  • @tom leo - ich habe den Roman zwar noch nicht gelesen, aber dafür die durchweg positiven Rezensionen.
    Vielleicht hilft dir diese Besprechung weiter, wo es heißt:
    "Gegen­spiel“ ist kein rei­ner Spie­gel­ro­man, von weni­gen Schlüs­sel­sze­nen abge­se­hen erzählt er eine neue Geschichte. Die Ent­wick­lung Marias steht im Vor­der­grund. Wir beglei­ten sie ins Lis­sa­bon der frü­hen Sieb­zi­ger." (Zitat)
    Auch die Besprechung vom Kulturradio rbb ist lesenswert.

  • Noch lese ich den Roman "Gegenspiel", der mir bislang sehr gut gefällt.
    Keineswegs empfinde ich diesen Roman als 1:1-Roman zu "Fliehkräfte" und kann mich nur dem von mir oben erwähnten Zitat anschließen:
    "Gegen­spiel“ ist kein rei­ner Spie­gel­ro­man, von weni­gen Schlüs­sel­sze­nen abge­se­hen erzählt er eine neue Geschichte. Die Ent­wick­lung Marias steht im Vor­der­grund. " (Zitat)


    Ein paar Schlüsselszenen sind gleich und natürlich nur die von Hartmut und Maria gesprochenen Worten - die Gedanken aber nicht! Während bei "Fliehkräfte" Hartmuts Gedanken erwähnt werden, liest man in "Gegenspiel" Marias Perspektive, was durchaus eine interessante Idee ist. Ich denke da z.B. an diese Autoszene.
    Und selbstverständlich begegnen uns ein paar Personen, die auch schon in "Fliehkräfte" auftreten.


    Ansonsten gibt es eine Menge Passagen, die so in "Fliehkräfte" nicht vorkommen, da Hartmut gar nichts Genaueres davon wissen kann, da er Maria zu jener Zeit noch nicht kannte: Jugendjahre in Portugal, Marias erste Zeit in Berlin und ihre Beziehung zu Falk.


    So ganz kann ich nicht verstehen, wieso Winfried Stanzick die Inhaltsangabe von "Fliehkräfte" aufführt und diese sogar mehr Raum einnimmt als die Passage über "Gegenspiel" (also: Maria) - ein Hinweis auf die vorhandene Rezension hätte sicher gereicht.

  • Also ich habe "Fliehkräfte" nicht gelesen und bin durch Zufall auf "Gegenspiel" gestoßen. Gerade habe ich den Roman beendet und kann mir noch nicht wirklich ein Urteil bilden. Auf gar keinen Fall ist es für mich ein 5 Sterne Buch, weil mich diese ewigen, schlecht gekennzeichneten Zeitsprünge an den Rand des Wahnsinns getrieben haben und mich die "chronisch depressive Frau voller Selbsthass" (S.431) teilweise sehr genervt hat. Aber ich scheine mit meiner Meinung ja ziemlich alleine da zu stehen. Ich denke, es wird ein Mittelding aus 3-4 Sternen. Mal sehen... :-k

  • Verlagstext

    Maria ist achtzehn und möchte raus aus Portugal. Mitte der Siebzigerjahre bietet das Land einer jungen Frau wenig Perspektiven. Maria aber will nicht heiraten und Kinder kriegen, sie will mehr vom Leben. Als das neue Jahrzehnt anbricht, geht sie nach Berlin, beginnt ein Studium und eine Beziehung mit einem rebellischen Theatermacher, die bald scheitert. Allen Plänen vom unabhängigen Leben zum Trotz findet sich Maria schließlich als Ehefrau und Mutter in der nordrhein-westfälischen Provinz wieder und schaut ihrem Mann Hartmut beim Karrieremachen zu. Lang arrangiert sie sich mit den Verhältnissen, aber als die Tochter erwachsen und auf dem Sprung aus dem Haus ist, trifft Maria eine Entscheidung. Lissabon nach der Nelkenrevolution, die Hausbesetzer-Szene in Westberlin, die deutsche Provinz vor und nach der Wende: Stephan Thome erzählt in markanten, spannungsreichen Szenen eine bekannte Geschichte neu und völlig anders. Gegenspiel ist ein berührender und manchmal verstörender Roman über Täuschung und Selbsttäuschung, über Aufbruch und Verantwortung, auch gegenüber dem eigenen Leben – ein Roman voller Empathie und psychologischer Raffinesse.


    Der Autor

    Stephan Thome wurde 1972 in Biedenkopf/Hessen geboren. Nach dem Zivildienst in einer sozialpsychiatrischen Einrichtung in Marburg studierte er Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie in Berlin, Nanking, Taipeh und Tokio. Von 2005 bis 2011 arbeitete er in Taipeh als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Forschungseinrichtungen und veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zur modernen Philosophie Chinas. Sein Roman Grenzgang stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2009 und gewann den aspekte Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres. Seit 2011 arbeitet Thome als freier Schriftsteller.


    Inhalt

    Zu Beginn der Handlung sind Maria Antonia Pereira und ihr Ehemann, dessen Namen sie nicht trägt, ein Ehepaar in den besten Jahren und an einem Wendepunkt in ihrer Beziehung angelangt. Die einzige Tochter hat gerade zum Studium das Elternhaus verlassen. Philosopieprofessor Hartmut hat sich vergeblich um Professuren und andere Stellen beworben, um seiner Frau zuliebe die westfälische Provinz verlassen zu können. Falls Hartmut seine derzeitige Stelle aufgeben würde, müsste das Paar seine Ansprüche zurückschrauben und Maria müsste zukünftig den Lebensunterhalt verdienen. Maria studierte in den 70ern in Berlin und entkam so ihrem katholischen Elternhaus und der Salazar-Diktatur in Portugal. Ihr Studium in einer fremden Sprache musste sie sich sehr viel härter erkämpfen als ihre deutschen Altersgenossen und war nie wirklich sicher, ob ihre Leistungen den Ansprüchen genügen. Ihre Altersgenossen in jener Zeit erklärten allein das Lästern über ihr Elternhaus bereits zur politischen Haltung. Berlin war Marias Lebenstraum; in der Gegenwart wird die Stadt erneut ihr Fluchtpunkt. Nach Jahren als Hausfrau und Mutter arbeitet Maria nun an einer kleinen Berliner Bühne und lebt mit Hartmut eine Fernbeziehung. Leiter des Theaters ist ihr Ex-Freund Falk. Maria und Helmut haben die Wahl zwischen zwei Karrieren an zwei Wohnorten oder aber dem Ende ihrer Beziehung.


    Rückblenden bieten Einblick in Marias Jugendjahre in Portugal, die Hausbesetzer-Szene der 70er und Marias erste Beziehung zu Falk, der damals Bewunderung suchte, aber keine Partnerschaft. Mit Hartmut lebt Maria anschließend eine klassische Versorgungsehe, in der eine Ehefrau mit eigener Muttersprache höchstens stundenweise als VHS-Dozentin vorstellbar ist. Als Marias Tochter in den 80ern zur Welt kommt, waren Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch weitgehend feministische Utopien. Nach der Geburt magert Maria stark ab und schafft kaum noch, das Baby zu versorgen. Hartmut erkennt zunächst nicht, dass seine Frau an postpartaler Depression erkrankt ist. Ohne eigenes Familiennetzwerk in Deutschland und frisch in eine neue Stadt gezogen, gehört Maria zur Hauptrisikogruppe für eine Wochenbettdepression. Hilfe kommt von Hartmuts Schwester, die bereits Kinder hat, und der jungen Familie entschlossen unter die Arme greift. Ängste, ob ihre Tochter Philippa durch die Vernachlässigung geschädigt wurde, lassen Maria fortan nicht mehr los.


    Die Handlung umfasst Ereignisse aus rund 30 Jahren auf verschiedenen Zeitebenen und ist zum großen Teil in Dialogen in Szene gesetzt. Besonders Maria schlägt dem Leser so die Widersprüche bundesrepublikanischer Wirklichkeit gnadenlos direkt um die Ohren. Als Einwanderin beobachtet sie den ihr noch immer fremden Planeten Deutschland durch eine besonders scharf gestellte Linse. Die aktuelle Krise des Paars, charakteristisch für die in den 50ern geborene Generation, ist die Summe aus Erschöpfung eines langen Berufslebens, aus nicht Ausgesprochenem und der Sorge um alternde Eltern. Die angespannte Situation wird noch befeuert durch jugendlich-vorschnelle Urteile der Tochter, die bisher wenig über das Leben ihrer Mutter weiß.


    Fazit

    „Gegenspiel“ zeichnet äußerst nüchtern Brüche zwischen Schein und Wirklichkeit bundesdeutschen Alltags auf. Die Figur der Maria und ihr kritischer Blick haben mich dabei besonders berührt.


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