Michal Zamir- Die Siedlung/ Mitkanim we-Atrakziot

  • Eine der „aufregendsten Neuentdeckungen der israelischen Literatur“ hat die Frauenzeitschrift Brigitte die 1964 geborene und mit ihrer Tochter in Tel Aviv lebende Schriftstellerin Michal Zamir genannt. Schon in ihrem ersten Roman „Das Mädchenschiff“ hatte sich die Tochter des ehemaligen Chefs des israelischen Geheindienstes Mossad als kritische und gleichzeitig solidarische Chronistin des Alltags im israelischen Militär gezeigt. In Israel hatte diese armeekritische Buch für großes Aufsehen gesorgt, in manchen Kreisen, so bei ihrem eigenen Vater, einen Skandal erregt und wurde von den Literaturkritik ihres Landes als „Wegscheide“ der neueren israelischen Literatur gefeiert.

    Entsprechend hoch waren auch die Erwartungen auf der einen Seite, entsprechend groß die Befürchtungen auf der anderen Seite, die mit dem Erscheinen dieses Buches verknüpft waren.
    „Die Siedlung“ hat sie es genannt und Ruth Achlama hat es in gewohnter Sicherheit ins Deutsche übertragen. Es ist die Siedlung, die in den fünfziger Jahren für die Elite des Landes gebaut worden war und in der neben der Familie Zamir alle anderen Größen an einem Ort lebten: Yitzchak Rabin, Mosche Dajan und viele mehr.

    Michal Zamir nennt die Siedlung im Buch Newe Chanit, die Oase des Speers. Die vielen Generäle verbringen jetzt dort ihren Ruhestand, alt und machtlos geworden. Aber ihre Häuser und Grundstücke sind viel wert und geraten bald in den Blick des Immobilienmakler Gabi Chayek, der den Alten nach und nach ihre Häuser abwirbt und sie in einem Seniorenwohnheim unterbringt. Aus der Siedlung macht er eine Art Wellnesszentrum. Doch der Siedlungsrat leistet Widerstand und sieht in den Plänen nur ein Indiz für den Niedergang der israelischen Gesellschaft.

    „Die Siedlung“, vollgesogen mit der biographischen Auseinandersetzung um den Abschied von den eigenen Eltern, kommt anders daher als „Das Mädchenschiff“. Wurde dort auf den Höhepunkt einer 20 Jahre dauernden pazifistischen Rebellion gegen den militaristischen Vater hart abgerechnet, zeigt Michal Zamir hier fast versöhnliche Züge. Das Buch beschreibt liebevoll den Ort ihrer Kindheit und kann gleichwohl als eine Parabel gelten auf die Situation im gegenwärtigen Israel, wo die Ideale der Gründerväter, denen Zamir durchaus nachtrauert, nichts mehr gelten und nur noch das Geld regiert.

    Es geht um die auch von anderen israelischen Schriftstellern der Gegenwart dauernd gestellte Frage, wo ein Land hinsteuert, das die Verbindung zu den Werten der Gründergeneration verloren hat. Schon als sie „Das Mädchenschiff“ schrieb, wurde ihr klar, dass „ wir den Palästinensern nicht, wie mir immer gesagt wurde, ein gutes Leben gebracht haben.“

    In „Die Siedlung“ setzt sie, eingebunden in die Handlung und die Charaktere ihrer Protagonisten, diese Auseinandersetzung fort und findet in den zionistischen Idealen durchaus Erhaltenswertes, ohne selbst eine Zionistin zu sein.

    Das Buch ist ein weiteres Stück israelischer Literatur (vgl. auch David Grossmans „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“), die sich zum Teil selbstquälerisch fragt, wie es dazu kommen konnte, dass das Land so zerrissen ist, fast all seine Ideale verloren hat, die es begründeten und zusammenhalten. Wie lange wird das noch gut gehen? Hat Leon de Winter Recht, der Israel in seinem Buch „Das Recht auf Rückkehr“ 2024 auf einen Stadtstaat Tel Aviv geschrumpft sieht?

    Nicht nur wegen des besonderen Verhältnisses von Deutschland zu Israel, sondern auch aus politischen Gründen darf uns die Zukunft dieses Landes nicht gleichgültig sein.