John Berger- A und X/ From A to X

  • Es gibt in diesem Briefroman von John Berger eine Schlüsselstelle, als die weibliche Hauptperson Aida, die als Apothekerin arbeitet, auf der Straße einem Mann begegnet, dem sie einst mit einem Stück Zucker das Leben gerettet hat. Dieser Mann erzählt ihr, dass er tagsüber als Straßenkehrer arbeite und früh morgens und abends seiner eigentlichen Berufung folge und Gedichte schreibe: „Vielleicht schreibt kein Dichter mehr als ein einziges Gedicht, und es dauert sein Leben lang. Er glaubt , er schreibe an mehreren kurzen Texten, aber in Wirklichkeit sind es nur Teile von einem einzigen langen.“ Und auf die Frage Aidas, wovon denn dieses lange Gedicht handele, antwortet er: „Es preist das Leben und seine Fülle“.

    Selten habe ich den Sinn und die Aufgabe von Lyrik und Literatur generell schöner beschrieben gesehen und John Berger meint damit sicher auch sein eigenes Schreiben, das man, wenn man auf seine Werke zurückblickt, auch als einen einzigen langen Text sehen kann, den er verfasst im Bewusstsein, dass sich dieses Leben in seiner Fülle aber auch immer gegen die Ungerechtigkeit dieser Welt stellen muss, dass den Mächtigen der Welt dieses Leben nichts wert ist und dass es deshalb wichtig ist, zusammen mit anderen Menschen gegen diese Missachtung des Lebens, das Berger profanheilig ist.

    Das Buch versammelt die Briefe die Aida an ihren Geliebten Xavier schreibt , der im Gefängnis sitzt. Da die beiden nicht verheiratet sind, darf sie ihn nicht besuchen und so bleibt nur der Briefkontakt. Xavier sitzt in einem nicht genannten Land im Knast, wegen Terrorismus zu zweimal lebenslänglich verurteilt von einem repressiven Regime, das namenlos bleibt.

    In ihren Briefen versucht Aida dem etwas entgegenzusetzen. Sie schreibt von ihrem Alltag, von den Menschen, denen sie begegnet, sie berichtet von Freunden und der politischen Lage ( wenn auch nur in Andeutungen) und sie schreibt immer wieder von ihren Gefühlen und ihrer Liebe für ihn und der Macht, die sie für sie bedeutet mitten in der Machtlosigkeit , die die politische Repression mit sich bringt.

    Antwortbriefe sind nicht erhalten, so die einleitende Bemerkung des fiktionalen Herausgebers der Briefsammlung. Nur kurze Bemerkungen, die Xavier auf die Briefe gekritzelt hat sind überliefert, politische Statements, Buchkontakte, Gefängniserlebnisse.

    Man kann den Originaltitel „From A to X. A Story in Letters“ durchaus metaphorisch lesen als den Versuch einer Erlösungsgeschichte, wobei A für Anfang steht und X für Christus. Das liegt auch deshalb nahe, weil der Briefroman weit über die erzählte Gegenwart hinaus weist in eine Art metaphysischen Raum: „Vor langer Zeit dachte ich , wir könnten der Ewigkeit nie näher kommen, als in dem seligen Moment nach der Liebe. Nun denke ich, die Ewigkeit ist etwas, von dem man gerüchteweise hören und etwas auf der Straße aufschnappen wird, wenn die Zukunft beginnt, und die Straßen gepflastert sind, die Gewehre zu Hause bleiben und die Väter den Kindern das Rechnen beibringen.“

    Ein sehr poetisches Buch mit einer lebendigen Hoffnung. Ein großes Alterswerk.