Lena Gorelik - Die Listensammlerin

  • Sofia, Tochter russischer Einwanderer, hat schon immer das Listenschreiben geliebt, es war seit ihrer Schulzeit ihr Zufluchtsort, wenn ihr das Leben zuviel wurde. Es gibt Listen von Dingen, die in Filmen Bedeutung hätten, Listen von Büchern, die sie gelesen hat, von lustigen Deutschfehlern ihrer Mutter, von Dingen, die sie über ihren verstorbenen Vater weiß - kurz, Listen über alles und jedes.

    Aktuell ist sie mit ihrem Leben gar nicht zufrieden. Am schlimmsten ist natürlich die Sorge um ihre kleine Tochter Anna, die einen Herzfehler hat und in Kürze zum dritten Mal operiert werden muss, doch auch Alltäglicheres quält sie - ihre schon länger andauernde Schreibblockade, die sie hindert, den Roman zu schreiben, den sie verfassen wollte; die langweilige Routine, die in ihrem Leben eingekehrt ist, wo sie früher doch mit ihrem Partner Flox die ganze Welt bereist hat; ihre Figur, die nach Annas Geburt den Bach hinuntergegangen ist. Ihre Großmutter lebt völlig dement in einem Pflegeheim, das Verhältnis zu ihrer Mutter ist angespannt wie eh und je, und selbst Flox' sonniges Gemüt geht ihr häufig auf die Nerven.

    Parallel wird von Sofias Onkel Grischa erzählt, dem schwarzen Schaf der Familie, über den nie gesprochen wurde und den sie nie kennengelernt hat. Er war als junger Mann in der Sowjetunion immer ein wenig anders als die anderen, plante mit einer Gruppe Gleichgesinnter Aktionen gegen das Sowjetregime und entsprach auch sonst eher nicht der "Norm".

    Lena Gorelik hat ziemlich viel in diese 350 Seiten hineingequetscht, erzählt auf zwei Zeitebenen die Geschichte von Sofias Familie, von innerfamiliären Auseinandersetzungen, Generationskonflikten, Erwartungshaltungen und der Unfähigkeit, die anderen Familienmitglieder so zu nehmen, wie sie sind. Durch Grischas Part bekommt das Buch auch noch einen historisch-politischen Touch, wobei hier vieles nicht explizit ausgesprochen wird und ohne zumindest ein wenig geschichtliche Vorkenntnisse schwer zu verstehen sein könnte.

    Auch wenn Sofias Mutter das wohl gerne hätte, war in der Familie noch nie Friede-Freude-Eierkuchen, was deutlich zum Ausdruck kommt. Die Erzählerin scheut sich nicht, Gefühle und Gedanken zu beschreiben, für die man sich üblicherweise eher schämt. Das ist einerseits authentisch und hat oft einen Wiedererkennungseffekt, andererseits hat mich Sofia gerade deshalb genervt, weil ich den Eindruck hatte, dass sie einfach alles negativ sieht und am liebsten den Kopf in den Sand stecken würde, statt sich dem Leben zu stellen. In gewisser Weise ist das natürlich verständlich angesichts von Annas Erkrankung, aber mit solchen Charakterzügen habe ich auch im richtigen Leben meine Probleme.

    Grischas Geschichte hat mir anfangs und zum Ende hin sehr gut gefallen - es muss sehr schwer gewesen sein, unter einem solchen Regime und in dieser Familie so zu sein wie er -, aber zwischendurch war mir zu wenig greifbar, worum es ihm und seinen Freunden eigentlich geht, so dass ich mich da nur schwer identifizieren konnte und mich streckenweise durch seinen Part gequält habe.

    Der sehr offene Schluss hat mich ein bisschen enttäuscht, und die Schlusspointe fand ich ein wenig künstlerisch "gewollt", wie auch manche Formulierungen.

    Ein gutes Buch, aber restlos begeistert bin ich nicht.