Botho Strauß - Herkunft

  • Kurzmeinung

    Jean van der Vlugt
    Viele durch uneitle Schlichtheit rührende Passagen. Eine Vatersuche. Über die Suche nach der Unschuld des Einst.
  • Zitat

    Botho Strauß erzählt, wovon er noch nie erzählt hat: von seiner Kindheit und Jugend in den 40er und 50er Jahren, von Naumburg und Bad Ems, den Orten, in denen er aufgewachsen ist, von seinen frühen, prägenden Erinnerungen. Mit diesem Buch findet er noch einmal zu einer ganz neuen Seite seines Schreibens: zum Ton des Erinnerns, der Vergewisserung über die eigenen Ursprünge. Die Jugend ist die Zeit, da die Zukunft einem noch bevorsteht; jetzt lässt Strauß eine lang zurückliegende Gegenwart wiedererstehen. Vor allem ist es der Vater, dessen Bild immer deutlicher hervortritt, liebevoll gezeichnet, doch ohne Selbsttäuschung. Botho Strauß‘ "Herkunft" ist das konzentrierte, reiche Werk eines großen Erzählers aus Deutschland. (Quelle: Hanser Verlag)


    Für mich ist Botho Strauß einer der größten deutschsprachigen Gegenwartsschriftsteller und Dramatiker, einer der mich mit seiner Sprache verzaubert, und das bereits seit Anfang der 1980er Jahre als ich Kalldewey, Farce auf der Bühne sah, wo er zeigte wie die Jugend in Widerspruch der von den Älteren vorgelebten Welt geriet.


    Herkunft ist ein sehr persönliches Buch, das sich Botho Strauß zu seinem 70. Geburtstag (am 2. Dezember 2014) schenkt, gerade einmal 90 Seiten dünn, doch welche Macht der Sprache kommt dem Leser da entgegen! Als Botho Strauß 10 Jahre alt war, verließ die Familie Naumburg. Der Vater, Pharmazeut und kleiner Unternehmer, war wegen Zuckerschmuggels in Haft genommen worden, „durchsichtiger Vorwand, um die Fabrik zu enteignen und ins Volkseigentum zu überführen.“ (S. 91)


    Er erzählt schlicht und geradezu von seinem Elternhaus in Bad Ems. Die dreiköpfige Familie lebt in bescheidenen Verhältnissen. Der Vater, Jahrgang 1890, ist Kriegsveteran des 1. Weltkrieges, wo er in Lothringen ein Auge verlor.
    „…im Jahr 1916, als das Geschoß dem jungen, fünfundzwanzigjährigen Mann aus dem Saarland das Loch in die Stirn bohrte, im Knochensteckenblieb und ein Blutschwall das herausgedrückte linke Auge überströmte. Ringsherum das Stöhnen und Brüllen der sterbenden Kameraden; den ein oder anderen noch aus seiner Feldflasche trinken lassen, seinen letzten Brief an sich nehmen – davon konnte das Kind nicht genug Erzählung haben. Was gäbe ich dafür, ihn noch einmal alle Einzelheiten jener Inferno-Nacht schildern zu hören und die ganze Wucht des lebenswendenden Treffers durch die Gelassenheit des Erzählers, des Überlebenden in mir aufzunehmen!“ (S. 28)


    Der Vater ist introvertiert, ein Perfektionist, stets im Anzug mit Weste gekleidet, obgleich er nur noch zu Hause arbeitet. Er publiziert eine Zeitschrift, deren einziger Redakteur er ist, und verfasst pharmakologische Gutachten. Er war ein alter Vater, bereits 54 Jahre alt, als ihm das einzige Kind geboren wurde.


    Botho Strauß lässt die 1950er Jahre mit ihrem Zwang, in ihrer bürgerlichen Enge und mit ihren Konventionen auferstehen. In dichter Folge werden einzelne Anekdoten zu ziselierten Miniaturen. Durch Herkunft wird der Schriftsteller Botho Strauß zu einem ganz nahen Menschen. Selten fühle ich mich beim Lesen von einem Buch persönlich so angesprochen, so als ob mir der Autor sein ganzes Vertrauen schenkt und mir plötzlich ein neuer Mensch gegenüber sitzt.


    Ein Wort zum Einband, dem Hanser Verlag ist ein sehr schönes Hardcover gelungen, gebunden in leuchtend dunkelgrünem-schwarzen Leinen mit silberfarbenen Buchstaben.


    Der Autor

    Zitat

    Botho Strauß, 1944 in Naumburg/Saale geboren, lebt in Berlin. Bei Hanser erschienen neben einer vierbändigen Werkausgabe seiner Stücke die Reihe seiner Prosabände von Paare, Passanten (1981) bis Der Untenstehende auf Zehenspitzen (2004), Mikado (2006), Die Unbeholfenen (Bewusstseinsnovelle, 2007), Vom Aufenthalt (2009) und die erweiterte Ausgabe der Essays Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (2012). 2012 erschien die von Thomas Hürlimann herausgegebene Sammlung der Erzählungen Sie /Er. (Quelle: Hanser Verlag)

  • Wenn das Buch sich nicht schon auf meiner Wunschliste befinden würde, spätestens jetzt wäre es drauf. Danke für deine Rezension, Horus!


    Ein Wort zum Einband, dem Hanser Verlag ist ein sehr schönes Hardcover gelungen, gebunden in leuchtend dunkelgrünem-schwarzen Leinen mit silberfarbenen Buchstaben.


    Klingt ja nach einem wirklich schönen Einband, aber du weißt ja, Horus, spätestens wenn ich das Buch kaufe, erwische ich die Auflage ohne Leinen und silberfarbenen Buchstaben, wie bei der "Pfaueninsel" von Hettche. :totlach:

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


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  • Klingt ja nach einem wirklich schönen Einband, aber du weißt ja, Horus, spätestens wenn ich das Buch kaufe, erwische ich die Auflage ohne Leinen und silberfarbenen Buchstaben, wie bei der "Pfaueninsel" von Hettche. :totlach:


    Auch wenn Botho Strauß morgen seinen 70. Geburtstag feiert, und das Feuilleton ihn dementsprechend in den Vordergrund stellt, denke ich, dass Herkunft leider nicht einen vergleichbaren Rush erleben wird wie Pfaueninsel. Beiden Büchern ist gemeinsam, dass sie keinen Schutzumschlag tragen, also einfach beim Kauf auf den Einband achten :wink:

  • So einen Hype wie bei der "Pfaueninsel" wird das Buch mit Sicherheit nicht erleben, dass denke ich auch. Den Rest sehe ich ja dann :wink:

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  • Deutsche, italienische und niederländische Ausgaben:

    • Die deutsche Originalausgabe erschien im September 2014 im Carl Hanser Verlag in München. 2016 erschien eine Taschenbuchausgabe als dtv-Buch 14505 bei der dtv Verlagsgesellschaft in München (96 Seiten).
    • Im September 2014 erschien bei Hörbuch Hamburg eine ungekürzte Lesung mit Sprecher Burghart Klausner, für das rbb-Kulturradio aufgenommen in der Regie von Ralph Schäfer (161 Minuten auf 3 CDs).
    • Eine italienische Übersetzung von Agnese Grieco erschien im September 2015 unter dem Titel „Origine“ bei Il saggiatore in Mailand (86 Seiten).
    • Eine niederländische Übersetzung Gerrit Bussink erschien im September 2015 unter dem Titel „Herkomst“ im Verlag Wereldbibliotheek in Amsterdam (111 Seiten).


    Meine Einschätzung:
    Etwas wackelig sind die vier Sterne, aber viele durch ihre uneitle Schlichtheit rührende Passagen und die klare Sprache überwiegen den Leseeindruck. Ein angenehm unsentimentaler Blick auf die eigene bürgerliche Provinzkindheit in Ems an der Lahn, die Schulzeit und die ersten Schritte zum Theater. Erinnerungen ausgelöst durch den Moment, als die elterliche Wohnung 1990 aufgelöst wurde, in dem Jahr als der Vater (da schon seit bald 20 Jahren verstorben) seinen 100. Geburtstag gehabt hätte, was also einen zweiten Rückblick innerhalb dieses schmalen Prosastücks ausmacht - vom Jahr 2014 aus betrachtet, als „Herkunft“ erschien. Anregung bzw. Träger der Erinnerung sind die Zettel des Vaters und ein Stein, der ihm als Briefbeschwerer diente - was ein feiner Hinweis auf die Dinglichkeit von Erinnerung darstellt. Tatsächlich verbindet Vater und Sohn bei aller Verschiedenheit auch das Schreiben: literarisches bei Sohn Strauß, Gutachten für die Pharmaindustrie bei Apotheker-Vater Strauß. Vor allem geht es in „Herkunft“ um eine Beschreibung der ständigen Harmonie-Suche vom Sohn zu seinem Vater. Außerdem geht um das Verhältnis von dem Reden über Erinnerungen im Vergleich zum tatsächlichen, momentanen Erinnern. Ein schmales Buch über die Suche nach der Unschuld des Vergangenen, des einstigen Ichs.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 57 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Dieses Buch hat mit dem Erinnern zu tun, mit dem Zurückdenken an Kindheit und Jugend, zu einem Zeitpunkt, wenn alle diese Bezugspersonen schon verstorben sind.

    Unser Gedächtnis, das ja besonders oft episodisch vorgeht, in Sequenzen und Szenen die Erinnerung an Meschen einfängt,

    an die wir uns erinnern wollen, läßt uns ja oft an der einen Stelle im Stich, um uns gleich im Anschluß eine andere Begebenheit kristallklar vor die Augen zurückzuführen.


    Hier ist es der Vater des Autors, den dieser mit der Sicht auf dessen alltägliche Gewohnheiten zurückruft in ein geregeltes und unaufgeregtes Leben, das erst mit der einfühlsamen Beschreibung des Sohnes seine kleine Einmaligkeit und Tiefenschärfe bekommt. Der Liebesdienst, den der Sohn dem Vater noch leisten kann, ist das genaue Erinnern, das exakte Nachzeichnen.

    Man wächst hinein in das, was einem zu eng erschien, so die Erkenntnis nach all den Jahren.

    Annäherung durch Erinnerung und Sorgfalt.

    Die Kunst des Erinnerns als der selektivsten Form des Denkens.

    Unzählige Male bin ich abgeschweift bei diesem unsentimentalen und sensiblen kleinen Buch, in die Frage nach der eigenen Form der Erinnerung, die weit mehr ist als ein mentales Schema und meinen Umgang damit. Da ist dieses Buch eine Herausforderung.

    Besonders eingenommen hat mich die einfache und doch überaus exakte Sprache, genau angepasst ihrem Gegenstand und unerbittlich ehrlich, wie es denn schon weh tun kann, versucht man es selbst einmal.

    Das Büchlein ist aus einem Guss, nichts ist verwaschen oder verschwurbelt, es trifft die natürliche Sicht der späten Erinnerung genau, wenn auch nicht vertieft, sondern eher szenisch.

    Es war ein gutes Buch zur richtigen Zeit für mich und verdient 5 :bewertung1von5: