Agota Kristof - Das große Heft / Le grand cahier

  • Kurzbeschreibung Amazon:
    Während des Zweiten Weltkriegs werden die Zwillingsbrüder von ihrer Mutter aus der großen Stadt zu ihrer Großmutter aufs Dorf evakuiert. Wie die beiden Kinder spüren und sehen, dass die Zeiten hart sind, machen sie Übungen zur Abhärtung: Sie essen tagelang nichts, frieren mit Absicht in der Kälte, arbeiten hart, und sie schlagen sich, um gegen Schmerz immun zu werden. Aber sie lernen auch selbst lesen und schreiben und sogar die Sprachen der jeweiligen Besatzer. Sie scheinen berechnend zu sein und wollen doch nur eines: überleben. Die zwei Brüder halten bedingungslos zueinander, was sie nahezu unverwundbar macht. Alles, was sie als wahr erachten, tragen sie in 'Das große Heft' ein. Gegen die Stärke der beiden Kinder, aber auch gegen ihre Erbarmungslosigkeit, müssen die Erwachsenen erst einmal ankommen.

    Meine Meinung:
    Eines vorab: Diese Erzählung von Agota Kristof ist nichts für schwache Nerven. Beim Lesen schwankte ich zwischen Faszination und Ekel.
    Die Geschichte der Zwillinge geht unter die Haut, wobei die bedrückende Atmosphäre durch die kurzen, fast adjektivlosen Sätze verstärkt wird.
    Die emotionslose Aneinanderreihung von Hauptsätzen unterstreicht die Brutalität des Krieges und der Geschichte.
    Die Zwilling quälen, stehlen, lügen und morden, scheinbar ohne mit der Wimper zu zucken. Obwohl die Autorin ohne jede Gefühlsregung zu schreiben scheint, werden beim Leser vielfältige Gefühle geweckt. Eines wird allerdings ganz besonders ins Bewusstsein gerufen:
    Die Abscheu vor dem Krieg, der Menschen dazu bringt, in ihrer Verzweiflung und Hilflosigkeit alle Skrupel fallen zu lassen, um die eigene Haut zu retten.
    Ein Buch, das man nicht so schnell vergisst.

    Liebe Grüße,
    Rita


    ~Ich wäre lieber ein armer Mann in einer Dachkammer voller Bücher als ein König, der nicht lesen mag.~
    Thomas Babington

    Einmal editiert, zuletzt von K.-G. Beck-Ewe ()

  • @ Rita: Spielt die Geschichte in einem fiktiven Land - es ist nur die Rede von "Stadt", "Dorf" und "Besatzern" - oder ist sie geografisch genauer angesiedelt? Der Name der Autorin klingt nach Osteuropäerin; oder habe ich daneben getroffen?


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • @ Marie,
    es gibt in dem Buch weder Ortsangaben, noch Namen oder Zeitangaben. Agota Kristof ist eine gebürtige Ungarin, die im Alter von 21 Jahren in die Schweiz emigrierte.
    Für ihre Trilogie, die mit "Das große Heft" begann, erhielt die Autorin einige Preise.

    Liebe Grüße,
    Rita


    ~Ich wäre lieber ein armer Mann in einer Dachkammer voller Bücher als ein König, der nicht lesen mag.~
    Thomas Babington

  • Ich habe "Das große Heft" zusammen mit den zwei Folgebänden in einer Gesamtausgabe bei Jokers als Restexemplar gekauft.


    Der Stil der Autorin ist kühl und nüchtern, aber der Inhalt ist dafür umso eindringlicher. Erschreckend und abstoßend ist es, was Agota Kristof beschreibt: Kinder, die sich selbst prügeln, um keine Schmerzen mehr zu empfinden, die sich selbst beschimpfen, um von Beschimpfungen nicht mehr verletzt zu werden, die freiwillig hungern, um vom Hunger nicht mehr überrascht zu werden. Es ist für mich als Leser schlimm zu erfahren, was der Krieg aus Erwachsenen und Kindern macht, wie schnell tierische Instinkte zu Tage treten, um das Überleben zu sichern.


    Das Buch liest sich recht schnell, worüber ich froh bin, denn allzulange möchte ich mich mit dem Thema auf diese Weise nicht auseinandersetzen.


    :flower:

    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
    Hape Kerkeling


    "Jemanden zu lieben bedeutet, ihn freizulassen. Denn wer liebt, kehrt zurück."
    Bettina Belitz - Scherbenmond


    http://www.lektorat-sprachgefuehl.de

  • Agota Kristof ist eine Schweizer Schriftstellerin ungarischer Herkunft, die ein Großteil ihrer Werke auf Französisch schrieb. Der Originaltitel von "Das große Heft" ist Le grand cahier.

    Ágota Kristóf war eine Schweizer Schriftstellerin, gestorben im Juli 2011 in Neuenburg


    Dieser Roman der erste Teil einer Trilogie ist sehr schwer verdaulich. Die Autorin verwendet eine schmucklose, schneidende Prosa.
    Schon die ersten Sätze lassen nichts Gutes ahnen, wie die Buben dem Gepräch zwischen Mutter und Grossmutter lauschen. Eine Grossmutter welche ihre Enkel als "Hundesöhne" betitlet und von den Leuten "Hexe" genannt wird. Die Schimpfwörter mit welchen die Kinder ständig von allen möglichen Personen konfrontiert werden, sind oftmals sehr bitter und sie versuchen zwar sich an die liebevollen Worte ihrer Mutter zu erinnern, wissen jedoch genau dass sie diese vergessen müssen.
    Nicht nur von der Grossmutter sondern auch von andern Leuten bekommen die Jungen Schläge, was sie auf den Gedanken bringt "sich abzuärten". Wie sie das Mädchen "Hasenscharte" kennenlernen kommt eine neue Erfahrung auf die beiden zu, genau so unwürdig.
    Mit dem Wörterbuch ihres Vaters und der Bibel lernen sie weiter, nachdem die Schule geschlossen wird, wobei sie die nötigen Schreibmaterialien auf sehr unkonventionelle Art erhalten haben. Der Krieg nähert sich auch "der kleinen Stadt" und löst neue Ängste in den Kindern aus, welche dies eigentlich gar nicht verstehen, aber auch von den Erwachsenen nichts erfahren, was ihnen ihre Furcht nehmen könnte. Die Grausamkeit des Krieges überollt das Dorf mit seiner ganzen Wucht, und was bleibt ist eine verlorenen Jugend.
    Der Satz beschreibt zutreffend die Situation der Kinder bei ihrer Grossmutter und im Dorf.

    Zitat von gaensebluemche

    Erschreckend und abstoßend ist es …

    Genau so ging es mir beim lesen, manchmal war es fast unerträglich.

    Beim Lesen schwankte ich zwischen Faszination und Ekel.

    Wie die beiden Buben das Überleben, üben, ja man kann sagen sie versuchen sich zu retten, liest sich oftmals sehr unmenschlich.
    Es ist ein unglaublich trauriges, bedrückendes Buch und man ist froh wenn man die Geschichte hinter sich lassen kann.
    Ich versuchte einige Male etwas positives zu erkennen bei den Schilderungen der Geschehnisse, es bleibt bis zum Schluss deprimierend.


    Die Erzählung wurde auch verfilmt wobei man hier einen interessanten Artikel darüber lesen kann.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • Ein Land in Osteuropa mitten im Zweiten Weltkrieg.

    Eine Mutter bringt ihre neunjährigen Zwillingssöhne zur Großmutter aufs Land, da sie in der „großen“ Stadt nicht mehr gut genug für sie sorgen kann.

    Die Kinder merken schnell, dass sowohl Angst als auch Liebe in solchen Zeiten Zeichen von Schwäche sind und üben sich von nun an in der Abhärtung in dieser härtesten aller möglichen Welten.


    Dieses Buch ist mit Abstand das grausamste, das ich jemals gelesen habe. Die Welt ist derart aus den Fugen geraten, dass es kein Gut und Böse mehr gibt, sondern alle Menschen beide Seiten in sich tragen, was bedeutet, dass es kein Vertrauen mehr geben kann. Noch nicht einmal das Ur - Vertrauen zwischen Kindern und Eltern bleibt verschont.


    Radikal ist auch der Stil. Durchgänig in der Wir-Form geschrieben, berichten die Zwillinge klar und präzise von ihrem Alltag und von ihrer Veränderung - bis zur Schmerzgrenze und weit darüber hinaus.

    Ich hätte beinahe abgebrochen, so übel sind die Erlebnisse und die Schilderungen der beiden.

    Da war sie dann, die Frage „Warum tu ich mir das an?“ bzw. „Warum tut der Autor uns das an?“... (da gibt es einige Deutungsversuche meinerseits, wahrscheinlich muss das jeder für sich beantworten)


    Direkt im Anschluss las ich Teil zwei und drei der Trilogie, ich brauchte einfach noch etwas „Tröstliches“, etwas „Versöhnliches“. Tatsächlich sind diese beiden Bände auch weit weniger grausam als Teil eins, aber leider beinhalten sie auch einige Erklärungsversuche/Auflösungen.


    Im Nachhinein finde ich, „Das große Heft“ sollte einfach für sich stehen.