Joyce Carol Oates- Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe / Two or Three Things I Forgot to Tell You

  • Die Quaker Heights Day School ist eine angesehene Privatschule in der Nähe von New York. Marissa, einer der Hautfiguren des neuen Jugendromans von Joyce Carol Oates zählt zu den besten Schülerinnen dort. Ihre Noten sind hervorragend, die Lehrer schätzen ihre fundierten Kommentare, und so wundert sich niemand, als Marissa schon vor Ablauf des letzten Schuljahres die Nachricht erhält, dass sie an der angesehenen Brown University aufgenommen wird.
    Doch schon bald verfliegt die Freude. Ihr Vater, der sich zunehmend zurückgezogen hat – angeblich weil er beruflich so eingespannt ist –, verkündet, dass er von zu Hause ausziehen wird, um etwas Abstand von seiner Frau zu bekommen. Weder Marissas Mutter noch Marissa selbst trauen sich zu fragen, ob er eine andere Frau kennengelernt hat.
    Marissa zieht die Situation zuhause herunter, Entlastung verschafft ihr das heimliche Ritzen, von dem niemand etwas weiß. Und auch in der Schule beginnt sie nachlässig zu werden. Immer wieder muss sie auch an Tink, ihre Freundin, denken, die vor nicht so langer Zeit an die Quaker Heights gekommen war und vor kurzem Selbstmord begangen hat. In Tagträumen spricht Marissa sogar mit Tink, die ihr erscheint … Tink war überhaupt nicht angepasst, hat sich nicht um die Meinung anderer gekümmert und infolgedessen gemacht, was sie wollte – allerdings hatte sie auch eine Menge Probleme.

    In drei Abschnitte hart Oates ihr Buch geteilt. In einem ersten Teil geht es, seltsam unabgeschlossen um Marissas Geschichte, ein zweiter erzählt von Tink und ihrer Zeit vor dem Suizid und ein dritter von Nadia, eine dicken Mädchen, das auch mit Tink befreundet war und ebenfalls oft an sie denken muss.

    Die drei Teile stehen recht unverbunden nebeneinander und haben doch ein verbindendes Element. Sie erzählen von Mädchen, die versuchen eine kreise zu überwinden. Mit großem psychologischen Einfühlungsvermögen, dennoch vieles aber auch offen lassend bzw. nur andeutend, beschreibt Oates meisterhaft, gekonnt, was Mädchen heute zu schaffen macht, was sie beschäftigt, worunter sie leiden.
    Es ist ein Buch, das man als Erwachsener nicht so leicht verdaut, und das eine Ahnung davon gibt, unter welchem Druck viele Jugendlichen, speziell Mädchen heute leiden.

  • Klappentext:
    Es ist das letzte Schuljahr für Merissa, Tink und Nadia. Joyce Carol Oates beschreibt, wie die drei jungen Mädchen sich durchschlagen, die eine erfolgreich und selbstbewusst, die andere rebellisch, die dritte schüchtern. Alle haben sie zu kämpfen mit den hohen Erwartungen, die an sie gestellt werden, mit Selbstzweifeln und Verlustangst. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis das dünne Seil reißt, auf dem sie gehen? (dtv-Verlagsseite)


    Zur Autorin:
    Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport /New York geboren. Sie studierte Englisch und Philosophie, lehrt heute englische Literatur an der Princeton University. Für ihre Romane, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke erhielt sie zahlreiche Preise, u.a. den National Book Award, den O'Henry-Preis sowie den Lotus Club Award of Merit. Sie gehört zu den bedeutendsten Autorinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. (dtv-Verlagsseite)


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: Two or Three Things I Forgot to Tell You
    Erstmals erschienen 2012 bei Harper Teens, New York
    Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit
    Drei Teile: Merissa – Das perfekte Mädchen; Tink Tink Tink Tink … - Ein Sammelalbum; Nadia – Die Schlampe
    Merissa: personale Perspektive
    Tink: unbeteiligter Beobachter
    Nadia: personale Perspektive
    Gelegentlich taucht ein erzählendes, aber nicht identifizierbares „Wir“ auf
    316 Seiten


    Persönliche Meinung:
    Drei gleichaltrige Mädchen an derselben Schule – drei unterschiedliche Familienkonstellationen, drei unterschiedliche Arten sich selbst wahrzunehmen, drei unterschiedliche Lebensweisen.


    Merissa, die tüchtige, der die guten Noten in den Schoß fallen, die allerseits beliebt ist und der man eine glänzende Zukunft prophezeit. Sie scheint das perfekte Mädchen zu sein. Besser kann es keiner gehen.
    So wirkt sie nach außen. Obwohl sie sich über ihre Aufnahme an einer renommierten Hochschule freut, kommt sie sich unzulänglich und dumm vor. Sie ist dünn, dennoch besorgt um ihre Figur. Wann immer Verzweiflung, Schmerz oder der Ekel vor sich selbst sie packen, nimmt sie eine Nagelschere und fügt sich Schnitte zu. Ganz schlimm wird es, als der Vater die Familie verlässt.


    Tink scheint selbstbewusst, als könne ihr nichts passieren. Zusammen mit ihrer allein erziehenden Mutter spielte sie als Kind in einer bekannten Fernsehserie. Ihr vergangener Ruhm hängt ihr inzwischen zum Hals heraus, und sie wirkt stark, selbstbewusst, kümmert sich weder um Schulnoten noch um enge Freundschaften und lässt niemanden an sich heran. Am Ende trifft sie eine einsame Entscheidung.


    Nadia, rundlich, versponnen und allein, lebt mit ihrem Vater, der Geld jagt, und ihrer Glamour-Stiefmutter zusammen. In der Schule wird sie gemobbt, verspottet und gering geschätzt, und dementsprechend liegt ihr Selbstbewusstsein am Boden. In ihrer Not und Dummheit begeht sie einen folgenreichen Fehler und gerät in eine oberpeinliche Situation.


    Die exemplarischen Schicksale der drei Mädchen machen eines klar: Nichts ist, wie es scheint, und jeder ist anders als er sich gibt. Das mag nicht der Weisheit letzter Schluss sein, doch Oates gelingt es, daraus Geschichten zu machen, die lebendig und real sind.
    In den verschiedenen Typen, die die Autorin vorstellt, wird sich sicher die eine oder andere wieder erkennen.


    Wie immer schreibt die Autorin routiniert und flüssig, so dass sich das Buch – im Gegensatz zu manchen ihrer Erwachsenenbücher – leicht lesen lässt. Allerdings vermisst man das Eindringliche und die Tiefe, die andere Oates’ Bücher auszeichnet.
    Mich würde interessieren, wie das Buch von 15-18-jährigen Mädchen gelesen wird und wie sie dazu stehen

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Inhalt

    Merissa scheint die von allen bewunderte erfolgreiche Modellschülerin zu sein. Am Ende des vorletzten Schuljahres erhält sie schon eine Studienplatz-Zusage für eine amerikanische Elite-Universität, sie schreibt stets Bestnoten, führt das Hockeyteam und bekommt natürlich im Schultheaterstück die begehrte weibliche Hauptrolle. Doch bei einem Blick hinter die begeisterten Fassaden sieht die Sache ganz anders aus. In der Schule und auch zuhause wagt Merissa es nicht, anderen den Rücken zuzudrehen, weil sie stets damit rechnet, dass dann etwas Gemeines über sie gesprochen wird. Als lustvoll, weil verboten, empfindet Merissa das heimliche Ritzen. Ihre Narben trägt sie wie ein verstecktes Tattoo. Der elitäre Vater-Tochter-Bund bröckelt, der die weniger intellektuelle Mutter ausschloss und aus der Zeit stammt, als Merissa noch klein und niedlich war. Die Siebzehnjährige fühlt sich als fast Erwachsene vom Vater nicht mehr beachtet. Mädchen dürfen nicht wachsen und nicht erwachsen werden, so die unterschwellige Botschaft. Merissas gesamte Lebensplanung ist der Bewerbung um den Studienplatz untergeordnet. Sie spielt nicht Hockey, weil sie es will, sondern weil es für die Bewerbung taktisch sinnvoll ist, auch Theater, Musik und ihr soziales Engagement werden taktisch klug eingesetzt. Merissa, Nadia und Tink waren einmal eine eingeschworene Dreierclique. Doch seit Tink die Freundinnen durch ihren Selbstmord verlassen hat, haben die Zurückgebliebenen umso stärker mit ihrem Gefühl der Wertlosigkeit zu kämpfen. Tink fand es nicht nötig, anderen zu gefallen und nahm dadurch die Rolle eines Anti-Paradiesvogels ein. Nadia findet sich im Vergleich zu ihrer jugendlich-kapriziösen Stiefmutter zu dick und gerät an der Schule ungeschickt in einen Strudel aus Sexting (Mobbing mit sexuellen Inhalten) und üblem Tratsch. Beiden Mädchen ist die tote Tink immer noch so nahe, dass man beim Lesen sogar an Tinks Tod zweifeln könnte. Tinks Tod wirkt auf die Mädchen so bedrohlich, dass Merissa das Wort nur mit einem Stern zensiert zu denken und zu schreiben wagt.


    Fazit

    Joyce Carol Oates hat mich schon auf den ersten Seiten ihres neuen Jugendromans damit gefesselt, dass sie die Häme hinter der Fassade von Glück und Erfolg nur beobachtet. Die Fäden verknüpfen und die Vorgänge analysieren müssen ihre Leser ganz allein. Ihr Buch gehört zu den besten Jugendbüchern, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Es verursacht dieses bestimmte Kribbeln, mit dem sich ein klassischer, völlig zeitloser Text ankündigt, über den man auch noch in vielen Jahren ebenso kontrovers diskutieren kann wie heute. Die Persönlichkeit Merissas hat mich im ersten Drittel des Buches mit Abstand am stärksten gefesselt, wenn auch die Zusammenhänge erst mit der Charakterisierung der Dreier-Clique deutlich werden. Merissas Lebensumstände karikieren den amerikanischen Traum vom Aufstieg aus eigener Kraft, halten überehrgeizigen Eltern den Spiegel vor und entlarven nicht zuletzt die Häme, die die Beziehung zwischen den Jugendlichen vergiftet. Ein starkes Buch.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

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