John Burnside - Haus der Stummen / The Dumb House

  • Klappentext:
    John Burnside ist einer der faszinierendsten Literaten unserer Zeit, der in seinen Werken immer wieder die Abgründe der menschlichen Natur erkundet. Bereits in seinem ersten Roman zeigt sich Burnsides Meisterschaft: In spannungsgeladenen Sätzen zeichnet er das Porträt eines jungen Mannes, der von maßlosem Forschergeist in den Wahnsinn getrieben wird. (von der Verlagsseite kopiert)


    Zum Autor:
    John Burnside, geboren 1955 in Schottland, ist einer der profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. (von der Verlagsseite kopiert)


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: The dumb house
    Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben
    Erstmals erschienen 1997 bei Jonathan Cape
    Drei Teile, überschrieben mit „Karen“, „Lilian“ und „Die Zwillinge“; einzelne Abschnitte durch *** voreinander getrennt
    Debütroman des Autors, der erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde
    Aus der Ich-Perspektive erzählt
    251 Seiten


    Inhalt (vom rückwärtigen Cover kopiert):
    Akbar der Große, so die Sage, hat einst einen Palast errichtet, in dem eine Gruppe Neugeborener, isoliert von der Außenwelt und versorgt von Stummen, aufwachsen sollte: das Haus der Stummen. So wollte er erforschen, ob Sprache erlernt oder uns angeboren ist. John Burnsides Erzähler ist besessen davon, diese Frage aufs Neue zu klären. In der Tradition Akbars ersinnt er ein bizarres Experiment, für dessen Umsetzung er vor nichts zurückschreckt.


    Eigene Meinung / Bewertung:
    Schon die Anfangsworte des Buches erzeugen Grauen: Ein Ich-Erzähler berichtet in sachlich-nüchternem Ton, dass er 4-jährige Zwillingskinder tötete, nachdem er an ihnen eine Larygotomie (operative Entfernung des Kehlkopfes) vorgenommen hatte. Angeblich eine schicksalhafte Tat, die unumgänglich war, weil sie seinen Forschungen diente.
    Er forscht nach der Seele, dem Ursprung der Sprache und ordnet alles diesem anscheinend existenziellen Experiment unter.
    Dass er die Kinder Laborratten nennt, scheint logisch.


    Der Ich-Erzähler wuchs in enger Symbiose mit seiner Mutter auf, erlebte den Vater als Randfigur, den er missachtet. Er wohnt weiter im Elternhaus, geht offenbar keiner Arbeit nach; man erfährt nicht, wovon er lebt.


    Hier hat einer das Zeug, Jean-Baptiste Grenouille (Patrik Süskind, Das Parfüm) von der Spitzenposition um den abscheulichsten und widerwärtigsten Protagonisten der Literatur zu verdrängen. Grenouille suchte DEN Duft, weil er keinen Eigengeruch besaß, dieser Erzähler sucht die Seele. Weil er keine besitzt, jedenfalls keine, die Emotionen, Mitgefühl oder Empathie erzeugt - außer Liebe zur Mutter, die daran gipfelt, dass er sich nach deren Tod zur Leiche ins Bett legt und dort schläft.


    Schon als Kind erfreute er sich daran, Knochen verendeter Tiere zu sammeln oder sie lebendig zu sezieren. Frauen interessieren ihn nur in willenlosem Zustand oder als wehrlose Abhängige.


    Den Protagonist wahnsinnig zu nennen, greift zu kurz. Er ist ein Besessener, er glaubt sich im Recht, er handelt außerhalb jeder menschlichen Regung. Einzig getrieben vom Intellekt und einer Art Sendungsbewusstsein, hinter Geheimnisse der Menschheit zu kommen, die bisher vor allen verborgen sind.


    Warum mutet man sich ein so schauderhaftes, entsetzliches Buch zu?
    Warum liest man nach den bereits unerträglichen ersten Seiten weiter?
    Burnsides Sprache – gleichzeitig distanziert und poetisch – entwickelt einen Sog, der nicht loslässt. Der Erzähler und seine Taten fesseln – trotz Ekel und Abscheu.
    Sicher könnte man noch Anmerkungen zu den Gedanken des Erzählers über Sprache und Kommunikation machen; dazu müsste man das Buch ein zweites Mal lesen, denn die Handlung dominiert so sehr, dass kein Platz für Abstraktes bleibt.


    Als wäre das Experiment nicht grässlich genug, scheint das Ende eine Fortsetzung anzudeuten. Das Schaudern bleibt über das Lesen hinaus.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • @Marie Vielen Dank für deine Rezension. Das Buch klingt sehr spannend. Sprache und menschliche Abgründe. Außerdem steht Burnside immer noch auf meiner Liste der "Muss-ich-unbedingt-noch-lesen"-Autoren.
    Wie sieht denn deine Bewertung in Sternform aus? Die hast du anscheinend vergessen.

  • Lesen solltest du ihn unbedingt. Hier noch eins seiner Werke, das mir gefiel:

    Danke für den Tipp.
    Meine Mutter mag die Bücher von Burnside auch so sehr. So kann ich mir alle Werke glücklicherweise von ihr ausleihen kann. Daher gehe ich auch davon aus, dass dein rezensiertes bald bei ihr Einzug halten wird und ich es dann in Reichweite habe.

  • Danke für Deine interessante Rezi, Marie.



    Akbar der Große, so die Sage, hat einst einen Palast errichtet, in dem eine Gruppe Neugeborener, isoliert von der Außenwelt und versorgt von Stummen, aufwachsen sollte: das Haus der Stummen. So wollte er erforschen, ob Sprache erlernt oder uns angeboren ist. John Burnsides Erzähler ist besessen davon, diese Frage aufs Neue zu klären. In der Tradition Akbars ersinnt er ein bizarres Experiment, für dessen Umsetzung er vor nichts zurückschreckt.


    Ja, wie man wohl darauf kommt? Bzw der Autor? Meine Assoziation war unmittelbar: es gab tatsächlich ein in diese Richtung laufendes Experiment. Wir sprachen darüber in einer Unterrichtseinheit über Angeborenes und Erlerntes. Es war der liebe Friedrich der 2., der Kinder, bzw Säuglinge, ohne jedwedes Angesprochenwerden und Zuwendung aufwachsen liess. Siehe zB hier: http://www.wissen.de/welche-sp…-friedrich-ii-mit-kindern
    und, wenn sich jemand weiter däfür interessiert, hier: https://www.google.fr/#q=fried…iment+kinder+neugeborene+
    Erschreckend, nicht? Und ich denke schon, dass Burnside davon etwas gewußt hat?!

  • Ja, wie man wohl darauf kommt? Bzw der Autor? Meine Assoziation war unmittelbar: es gab tatsächlich ein in diese Richtung laufendes Experiment. Wir sprachen darüber in einer Unterrichtseinheit über Angeborenes und Erlerntes. Es war der liebe Friedrich der 2., der Kinder, bzw Säuglinge, ohne jedwedes Angesprochenwerden und Zuwendung aufwachsen liess. Siehe zB hier: wissen.de/welche-sprachexperim…-friedrich-ii-mit-kindern
    und, wenn sich jemand weiter däfür interessiert, hier: google.fr/#q=friedrich+der+gro…iment+kinder+neugeborene+
    Erschreckend, nicht? Und ich denke schon, dass Burnside davon etwas gewußt hat?!

    Davon gehe ich aus, denn genau an dieses Experiment habe ich auch direkt gedacht, als ich die Zusammenfassung des Buchs las. Das Experiment ist ja doch sehr populär, daher kann ich mir kaum vorstellen, dass Burnside es nicht im Hinterkopf (oder gar als Inspiration) hatte.

  • Es war der liebe Friedrich der 2., der Kinder, bzw Säuglinge, ohne jedwedes Angesprochenwerden und Zuwendung aufwachsen liess


    genau an dieses Experiment habe ich auch direkt gedacht, als ich die Zusammenfassung des Buchs las


    Daran habe ich auch gedacht, und ich wunderte mich, dass Burnside den hierzulande eher unbekannten Akbar als Beispiel nahm und nicht das wesentlich bekanntere Experiment Friedrichs II. Daraufhin googelte ich und fand heraus, dass die Gelehrten sich uneinig sind; es könnte sich auch um eine Legende handeln (hier). Das Experiment ist nur von dem Mönch Salimbene von Parma bezeugt, einem Widersacher des Königs, der ihn diskreditieren wollte (hier) .
    Weil ich mir daher über den historischen Kontext nicht sicher bin, habe ich ihn lieber aus der Rezension herausgehalten.


    edit: Ich habe gesehen, dass der Link zum ZDF nicht klappt, daher hier die ganze Adresse: http://www.zdf.de/die-deutsche…-experimente-5350328.html

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Vielen Dank für die Rezension @Marie .John Burnside gehört zu meinen Lieblingsautoren. Nicht zuletzt auch aufgrund seiner kristallklaren und wunderbar
    poetischen Sprache. The Dumb House habe ich vor längerer Zeit auch gelesen, weil es auf meiner >Unbedingt noch lesen< Liste zu Burnside noch fehlte.
    Wenn ich jedoch beurteilen soll, warum nur so wenige seiner Bücher und Gedichte übersetzt wurden und so herausragende Romane wie >Waking up in Toytown<
    >Living Nowhere< und seine Erzählungen >Something like happy< nie einer breiteren deutschen Leserschaft vorgestellt wurden, habe ich so meine Probleme.
    >The Dumb House< habe ich damals nur mit viel Widerwillen zu Ende gelesen, weil ich es schon ziemlich abscheulich fand. Gehalten hat mich da auch nur die
    Sprache, die einen solchen Sog entwickelt, dass man einfach Schwierigkeiten hat aufzuhören.


    Es ist sein erster Roman und als ein Versuch sich langsam an diese neue Form heranzutasten, hat er sicher auch seinen Stellenwert.
    Interessant ist, dass man bei den Romanen von Burnside feststellen kann, wie er sich in Form und Stil immer weiter entwickelt hat. So bin ich bei jeder Neuerscheinung
    fast schon nervös und kann kaum abwarten, wie diese Entwicklung fortschreitet. >A Summer of drowning< und sein neuestes Werk >I put a spell on you< (ein Memoir)
    zeigen weiter, dass diese Entwicklung noch lange nicht zu Ende sein wird.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

    :study: Matt Ruff - Ich und die anderen

  • Interessant ist, dass man bei den Romanen von Burnside feststellen kann, wie er sich in Form und Stil immer weiter entwickelt hat. So bin ich bei jeder Neuerscheinung
    fast schon nervös und kann kaum abwarten, wie diese Entwicklung fortschreitet. >A Summer of drowning< und sein neuestes Werk >I put a spell on you< (ein Memoir)
    zeigen weiter, dass diese Entwicklung noch lange nicht zu Ende sein wird.


    Jetzt wo du es geschrieben hast, wird es mir so richtig bewusst, wie sehr sich Burnside von Roman zu Roman steigert. Zufälligerweise hatte ich sie in der entsprechenden Reihenfolge gelesen. "A Summer of drowning" bzw. "In hellen Sommernächten" ist mir im Moment sein liebstes Buch von ihm. Deshalb war ich schon sehr verwundert als das "Haus der Stummen" und nicht "I put a spell on you" als neuestes Buch in Übersetzung von ihm auf den Markt gekommen ist. Bleibt nur zu hoffen, dass sich ein Verlag auch seiner anderen Werke annehmen wird.
    Bis dahin werde ich mich mit Hilfe eines Wörterbuches mal an "Living Nowhere" ran wagen. Bei meinen Sprachkenntnissen wird es ein eher schwacher Trost werden, weil mir einfach noch zu viel entgeht :cry:

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


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