Cerstin Gammelin/Raimund Löw - Europas Strippenzieher: Wer in Brüssel wirklich regiert

  • Da das meine erste Rezension ist und ich hier keine Stilvorlagen fand, bitte ich um Verzeihung, falls ich irgendwelche Kriterien übersehen habe. Wie auch immer, ich fang einfach mal an.


    Vorweg: Wer sich von diesem Titel verspricht, dass irgendwelche konspirativen Machenschaften der "nicht gewählten Eurokraten" in der "EUdSSR" mit ihrem "Bürokratie-Wahn" dort anhand von selektiven Vorkommnissen und einer Menge Phantasie erfunden werden, den muss ich gleich enttäuschen. Für Verschwörungstheoretiker, die es bleiben wollen, ist das Buch schlichtweg ungeeignet.


    Zu den Autoren: Gammelin und Löw sind Korrespondenten aus Brüssel, die über Jahre insbesondere "Hinterzimmer"-Gipfeltreffen begleitet haben und an vertrauliche Protokolle herankamen, die nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren. Diese Protokolle haben sie über Jahre gesammelt und in Form dieses Buches veröffentlicht.


    Dabei wurden aber keineswegs dröge Politikerreden abgetippt, sondern meist die größeren Rahmenbedingungen erläutert und die Zusammenhänge zu Gesprächen und Entscheidungen dargestellt. Also das genaue Gegenteil dessen, was manch "Panik-Autor" macht, wenn er vom Kleinen aufs Ganze schließt statt vice versa. Die Autoren haben dies zudem in einem sehr spannenden, guten Schreibstil getan, sodass man durchaus Jürgen Habermas zustimmen kann, der sagte: „Ein spannender Krisenbericht von zwei kompetenten Brüsseler Journalisten. Dieser Wirtschaftskrimi öffnet deutschen Lesern die Augen über die problematischen Seiten des Krisenmanagements ihrer Regierung.“


    Persönlich fand ich auch sehr interessant, wie Politiker miteinander umgehen und wie man merkt, dass es doch auch nur Menschen sind, so abstrakt und fern manchmal die Europapolitik auch im Alltag eines einzelnen Bürgers erscheinen mag. Von langjährigen Freundschaften über persönliche Eitelkeiten, Absprachen hinter dem Rücken anderer sowie Druckausübung von einstige Kollegen ist alles dabei, ob bei der Abwahl Berlusconis, der politischen Krise Griechenlands 2012 oder bei Reformvorschlägen osteuropäischer Mitgliedsstaaten. Hauptsächlich geht es hierbei um die sogenannte Eurokrise, die, anders als ihr Name andeutet, keine Währungs-, sondern Finanz- und Wirtschaftskrise einzelner Länder in Europa ist und noch heute die Politiker in Europas Hauptstädten beschäftigt.


    Des Weiteren hat das Buch auch beiläufig einen informativen Charakter, da es einem hilft die Strukturen der Europäischen Union zu verstehen. Wer ist denn gemeint, wenn in einer Zeitung vom Rat oder der Kommission gesprochen wird? Wer steckt da genau hinter und was können sie tatsächlich (nicht) entscheiden? Wird es der Sache gerecht, wenn man einen Staatenverbund personifiziert und als ein ominöses, abstraktes Etwas darstellt, das bei Bedarf als Sündenbock dient ohne dass man schaut, welche Köpfe es genau sind? So manch Vorurteil dürfte sich dort in Luft auflösen. Und dafür kann ich das Buch schon empfehlen. Aber natürlich ist dies kein "Friede, Freude, Eierkuchen"-Buch, im Gegenteil. Viel zu schockierend sind manch Befindlichkeiten und irrationalen Handlungen jener, die tatsächlich Entscheidungsgewalt haben und langfristige Ziele für kurzfristige "nationalegoistische" Erfolge zu opfern bereit sind.


    Zwar habe ich schon viele politische Bücher gelesen, aber bisher keins, das mich mit Informationen, Spannung, "Aha"-Momenten und einem sauberen Schreibstil so fesseln konnte. Daher gibt's von mir die volle Punktzahl. Wer die ersten Seiten, die sich in einer Brüsseler Spelunke abspielen, gelesen hat, wird dies wohl verstehen. Inhaltlich möchte ich aber auch nicht zu viel schon vorweg nehmen. Das würde vermutlich auch etwas den Rahmen sprengen. Fragen beantworte ich aber gerne zeitnah. :)

  • Vielen Dank für diese sehr interessanten Bemerkungen!



    Vorweg: Wer sich von diesem Titel verspricht, dass irgendwelche konspirativen Machenschaften der "nicht gewählten Eurokraten" in der "EUdSSR" mit ihrem "Bürokratie-Wahn" dort anhand von selektiven Vorkommnissen und einer Menge Phantasie erfunden werden, den muss ich gleich enttäuschen. Für Verschwörungstheoretiker, die es bleiben wollen, ist das Buch schlichtweg ungeeignet.


    Ich muss gestehen, dass ich genau das befürchtet hatte beim Lesen des Threadtitels..., doch Du erhellst uns/mich mit Deinen sehr guten Bemerkungen. Nochmals: Danke!


    Ist doch prima, zumal es auch noch eine erste Rezi ist: Manchmal kann man dann noch zB Gliedrung, Aufbau einerseits und Kommentar, persönliche Bemerkungen andererseits auseinanderhalten. Oder noch zusätzliche Infos zu den Autoren anfügen. Aber ich für meinen Teil finde das schon echt gelungen!