Metin Arditi - La confrérie des moines volants

  • (ungefähre deutsche Übersetzung : « Die Bruderschaft der fliegenden/stehlenden Mönche »)
    Original : Französisch, 2013


    INHALT :
    Zwischen 1918 und 1938 hat das sowjetische Regime beinahe alles zerstört, beschädigt, ins Ausland verkauft, was der Russisch-Orthodoxen Kirche als Schätze galten : Ikonen insbesonders, aber auch Kreuze, liturgische Gegenstände etc. Mehr als tausend Klöstern wurden geschlossen (und unzählbare Kirchen). Sie wurden teils verbrannt, zerstört, in Gulags oder atheistische Museen verwandelt. Die NKVD exekutierte mehr als zweihunderttausend Priester, Mönche und Nonnen.


    Das Buch erzählt die Geschichte von Nikodim Kirilenko, einem Eremiten des Klosters Sankt Eustach am Ladogasee. Mit anderen Flüchtenden diverser Klöster organisiert er den systematischen « Diebstahl » der Kirchenschätze in der Gegend von Sankt Petersburg, dem damaligen Leningrad, um sie in Sicherheit zu bringen für jene Zeit, in der die russische Kirche wiedererstehen würde.
    (Quelle : Elemente aus der Vorbemerkung im Buch, französische Fassung, behelfsmässig von mir übersetzt)


    GLIEDERUNG :
    Das Buch besteht zwar aus vier römisch numerierten und nach den besprochenen Perioden betitelten Teilen, doch liesse sich einfachheitshalber in zwei große Einheiten aufteilen, die zeitlich weit auseinanderliegen. Die vier Teile wiederum bestehen aus einer Vielzahl von relativ kleinen Kapiteln (bis zu 37!), die mit dem jeweiligen behandelten Datum betitelt sind. Vom Schriftbild großzügig, fangen sie jeweils, mit neuem Kapitel, auf einer neuen Seite an. So entsteht der Eindruck eines recht zügigen Lesens trotz guter 350 Seiten. Und ich las es auch in einer persönlichen Rekordzeit von zweieinhalb Tagen.


    BEMERKUNGEN :
    Dieser Lesefluss täusche nicht über den Ernst des Beschriebenen : Insbesondere der erste, historisch sicherlich sehr realistische (wenn auch in den Einzelheiten fiktive? Ich fand es nicht heraus !) Teil, spielt also im Jahre 1937, dem Höhepunkt des stalinistischen Terrors. Was hier geschah übersteigt manches Vorstellungsvermögen, so daß ich sogar auf französischen Seiten unangebrachte Kommentare las über « unbekannte Aspekte der russischen Geschichte » (sic!).


    Nun will sich aber dieses Buch nicht schlichtweg als ein weiterer Archipel Gulag präsentieren, sondern erzählt insbesondere in diesem ersten Teil meines Erachtens existenziell mitreißend, und teils auf hohem spirituellen-geistigen Niveau (trotz einiger Einschränkungen), vom Eremiten Nikodim und seinen Gefährten. Er lebt seit Jahren eine Fußstunde vom Mutterkloster am Ufer des Ladogasees entfernt, zurückgezogen in Askese, dem Jesus-Gebet und auch unter einer schweren Last. Das scheint wohl mit irgendwelchen « fleischlichen » Sünden zusammenzuhängen, oder gar noch mehr ? Er kennt keine Ruhe, findet keinen rechten Frieden. Nach außen und zu seinen Brüdern hin ist er wohl eher der cholerische, mürrische Mönch.


    Eines Tages nun hasten zwei Jungmönche herbei, die gerade so dem Massaker im Mutterkloster entgehen konnten : die Nachrichten sind schrecklich – alle tot ! Nach einer raschen Beerdigung der Mitbrüder fliehen die drei mit wenig Gut durch die Wälder Kareliens bis sie sich in einem verlassenen Bruch niederlassen und dort das Klosterleben wiederaufnehmen. Nach und nach stossen vagabundierende Mönche ein, schliessen sich ihnen an. Für den eigenbrödlerischen Nikodim nahezu ein Kreuz. Bis er eines Tages wie einen befreienden Blick gewinnt und sie sich allesamt entschliessen, sich der Rettung der sakralen Gegenstände zu widmen, die gerade in der orthdoxen Kirche solch eine Bedeutung spielen... Und sie gründen die "Bruderschaft der fliegenden/stehlenden Mönche" oder "Das Neue Jerusalem".


    Dass eine Irina den Weg Nikodims kreuzt und ihn erneut vor die inneren Kämpfe stellt gehört hier dazu. Und auch, dass sie die Brücke zum entfernt im Jahre 2000/2002 handelnden zweiten Teil darstellt. Sie spielt eigentlich eine sehr zentrale Rolle, und wird doch etwas stiefmütterlich geschildert. Wäre da mehr angebracht gewesen ?


    Der Pariser Matthias, Photograph von Beruf, entdeckt beim Tode seines Vaters, dass dieser ihm seine Herkunft (er stammte von einer russischen Mutter ab) verschwiegen hat. Kurzum, sein Weg zu seinen eigenen Wiurzeln führt ihn nach Russland und auf die Suche des versteckten Schatzes aus den 30iger Jahren, der ihn aber lange Zeit eher gleichgültig erscheint... Und mehr will ich hier nicht verraten, das reicht auch schon dicke.


    In sehr weiten Teilen, insbesondere der ersten großen Einheit, gelingt es dem Autor meines Erachtens sehr gut, Aspekte der Geschichte unter Stalin offenzulegen, auch dem Lebenseinsatz vieler, für ihren Glauben bis zum Äußersten zu gehen. Nikodim und seine Mönche werden vielen heute eventuell fremd erscheinen in ihren Vorstellungen von Sünde, Askese, Umkehr, Notwendigkeit der Vergebung, aber auch einer Art Tanz mit dem Teufel, oder den « Versuchungen ». Schade ist es ein wenig, wenn der ein oder andere Leser hier eventuell alleine herausfiltert, dass dies etwa eine rein sexuell verklemmte Frage wäre. Als ob es nichts Wichtigeres gebe. Da liegt wohl eher die Versuchung des Autors, bzw des heutigen Lesers ? Doch wer sich darüber ein wenig erheben kann erfährt nebenbei dann auch (man möchte fast sagen « spielerisch?) den ein oder anderen Aspekt aus einer Spiritualität, die Millionen genährt hat und noch nährt. So von Ferne erinnerte mich dann der Roman an den Film von Pawel Loungin, « Die Insel » ( http://de.wikipedia.org/wiki/Ostrov_%E2%80%93_The_Island ). Auch da die Frage von Schuld und Vergebung. Einem langen Kampf. Und den inneren Gegensätzen, Widerständen. Oder an die spirituellen Spionageromane eines Vladimir Volkoffs (siehe auch : http://de.wikipedia.org/wiki/Vladimir_Volkoff ).
    Hier zeigt der schweizerische Autor ein ziemlich gutes Verständnis spiritueller Vorgänge und Fragen, auch wenn sie mit anderem durchmischt sind. Doch er erzählt halt nicht nur reißerisch eine "schöne Geschichte", sondern macht sich zum Zeugen der Erhaltung einer Tradition, eines Erbes, eines lebendigen Glaubens, der auch fähig macht zu widerstehen.


    Ein anderes Problem – in Hinsicht auf die Prioritäten des Romans – könnte darin bestehen, dass es eher um den Erhalt von Gegenständen geht. Ja, es stimmt, dass diese in der Orthodoxie nicht allein dinglich zu betrachten sind, dennoch : es geht wohl auch noch um mehr. Da mag ein Manko liegen (das ich eventuell alleine so empfinde?!).


    Von der Eindringlichkeit her fällt der zu lang geratene zweite Teil ab, der die Suche der Sakralobjekte und das neue Russland in den Vordergrund stellt. Die Diskrepanz erscheint mir erzählerisch und exisenziell unterschiedlich. Dennoch auch dort eine gewisse Authentizität, die einigen fremd vorkommen könnte. Manche Situationen und Konflikte, auch politisch-kirchliche, werden angeschnitten und auch teils gut beschrieben.


    Dennoch (?) empfehle ich gerne dieses Buch, vielleicht in Erwartung einer Übersetzung – es ist ja gerade erst ein Jahr alt. Für manche wird es eine lierarische Annäherung an ein Thema sein, das eben vielen doch etwas fremd geworden ist. Dem man aber durchaus nicht aus dem Wege gehen sollte ?


    AUTOR :
    Metin Arditi (* 1945 in Ankara/Türkei) ist ein französischsprachiger Schriftsteller türkischen Ursprungs, Mäzen und Unternehmer und lebt seit seiner Kindheit in Genf. Arditi studierte Physik und Wirtschaftswissenschaften an der École polytechnique fédérale de Lausanne und erlangte nicht nur als Autor philosophischer Essays und einiger Romane, sondern auch als Präsident des Orchestre de la Suisse Romande und als Begründer einer Stiftung für Hochschulabsolventen weltweit Anerkennung. Er ist Botschafter guten Willens der UNESCO.


    Auf Deutsch liegen bislang vor
    Letzter Brief an Theo
    Tochter des Meeres


    Broché: 352 pages
    Editeur : Grasset (21 août 2013)
    Collection : Littérature Française
    Langue : Français
    ISBN-10: 2246804396
    ISBN-13: 978-2246804390

  • Leider liegt von Metin Arditi bislang erst ein Buch in deutscher Übersetzung vor, "Tochter des Meeres" (siehe Verlinkung):


    Spetses – eine kleine griechische Insel in den 50er-Jahren. Die Brüder Nikos und Spiros sterben bei einem rätselhaften Unfall auf dem Meer. Pavlina und Aris sind die Kinder der Brüder und wachsen wie Geschwister auf. Als Pavlina siebzehn ist, verliebt sie sich in ihren Cousin, der aber mit ihren Gefühlen nichts anzufangen weiß. Trotzdem kommt es zu einer folgenreichen Liebesnacht zwischen den beiden. Nach den gemeinsamen Stunden am abgelegenen Steg springt Aris ins Meer – und kehrt nicht wieder. Das Leben der jungen Pavlina wird von da an nie wieder so sein wie zuvor ... (Quelle: Kurzbeschreibung)


    In der frankophonen Welt aber ist Arditi inzwischen schon recht bekannt geworden, so insbesondere durch "Turquetto".