Andrzej Stasiuk - Dojczland

  • Kurzbeschreibung (gemischt aus Buchumschlags- und Amazon-Text): "Andrzej Stasiuk, der bekannteste polnische Schriftsteller der Gegenwart, reist kreuz und quer durch die Bundesrepublik. Der literarische Gastarbeiter auf Lesereise verbirgt nicht, dass er lieber auf dem Bukarester Gara de Nord als am Stuttgarter Hauptbahnhof angekommen wäre. Warum fühlt er sich so unbehaglich? 'Man muß in Tulcea gewesen sein, um den Anblick von Frankfurt am Main bewältigen zu können. Man muß einen Abdruck der rumänischen Steppe im Herzen tragen, um da heil rauszukommen.' Warum wird er die Ängste nicht los? Und warum rührt ihn der deutsche Papst, der in Auschwitz niederkniet? Nach Deutschland fahren, das ist Psychoanalyse! So selbstironisch spielt Stasiuk mit Ängsten, Vorurteilen und Klischees, den eigenen, den fremden, daß ihn ein polnisches Skandalmagazin als bezahlten Einflußagenten Berlins anprangerte."


    Ein kurzer Erzählband (auf den ich - mal wieder - Dank eines Hinweises von @Hypocritia gestoßen bin :thumleft: ) mit kleinen, reportageähnlichen Eindrücken von Stasiuks Reisen durch Polens unheimlichen, großen Nachbarstaat. Die Fremde, das Vertraute ... Ich bin schon mal begeistert, wie schnell und leichtfüßig der Leser mitgenommen wird (nicht gerade Arm um die Schulter gelegt und los, aber doch: ein Nebeneinander in stillem Verständnis), mit welcher Eleganz Eindrücke herausgegriffen werden aus dem Getümmel und der Einsamkeit von Bahnhöfen und Städten, die Orte und Stimmungslagen trefflich und unverbraucht beschreiben. Und mit welcher sprachlichen Schönheit, Lakonie und Ernsthaftigkeit das passiert. Bisher nicht pampig, sondern eher sentimental. Ehrlich trifft es vielleicht, oder so, als ob jemand, mit dem man eigentlich kaum bekannt ist, plötzlich intime Momente oder tiefe Einsichten mit einem teilt.


    Ich zitiere einmal eine Textstelle, die mir sehr gefällt (von Seite 15), wo Stasiuk über einen Besuch auf der Leipziger Buchmesse in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre schreibt. Es sind noch andere, trinkfreudige polnische Schriftsteller vor Ort, auf deren Gegenwart Stasiuk aber keine Lust hat. Überall gibt es Essen. Soviele Lebensmittel auf einen Haufen hat er noch nie gesehen. Es hat was von der Hölle an sich. Er wandert durch ein Gänge-Labyrinth im Keller und sieht in einer Nische

    Zitat

    an einem langen, leeren Tisch [... den seit seiner Flucht 1967 in den USA lebenden polnischen Schriftsteller] Henryk Grynberg. Er aß etwas. Er hob etwas auf der Gabel zum Mund. Langsam und bedächtig. Er saß am Ende des Tisches ganz an der Wand. Der Tisch war vielleicht vier Meter lang. Ringsum lag Essen. Er war absolut allein. Ringsum ballte sich Leipziger DDR, und er hob langsam etwas auf der Gabel, und in der Tiefe der Ziegelnische blitzte seine Brille. Die Deutschen hatten seine Familie ermordet. Die Mutter, die durch ein Wunder überlebte, hatte ihn gerettet. Unter der deutschen Besatzung hatten die Polen seinen Vater ermordet. Er saß mitten in diesem teutonischen DDR-Karneval und guckte. Er guckte, um sich das einzuprägen und das Bild mitzunehmen, egal wohin er fahren sollte.

    Wie der Erzählerblick immer wieder ranspringt ans Objekt und wieder zurückspringt, Dinge wie in Zeitlupe noch einmal wiederholt, präzisiert (nicht nur "aß etwas", sondern auch "hob etwas auf der Gabel zum Mund"), vor und zurück in der Zeit springt - das hat doch etwas wirklich Filmisches an sich (dieses Attribut hört man so oft bezogen auf Literatur, meist falsch benutzt oder nur detaillierte Beschreibungen des Settings meinend), sehr dokumentarisch, ein irgendwie zärtlicher Blick, der sich nicht scheut, auch Wunden zu betrachten - und darüber hinaus zu schauen. Ich will unbedingt weiter - und danach mehr von Stasiuk lesen!

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (24/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

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    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • mit welcher Eleganz Eindrücke herausgegriffen werden aus dem Getümmel und der Einsamkeit von Bahnhöfen, die Orte und Stimmungslagen trefflich und unverbraucht beschreiben. Und mit welcher sprachlichen Schönheit, Lakonie und Ernsthaftigkeit das passiert. Bisher nicht pampig, sondern eher sentimental.


    Schön, dass Dir wenigstens schon mal die ersten paar Seiten gefallen :D . Mit der "sprachlichen Schönheit, Lakonie und Ernsthaftigkeit" stimme ich Dir hundert pro zu, auch für alles andere, was ich bisher von Stasiuk gelesen habe - verbale Aesthetik auch im größten Verfall, im liederlichsten Winkel, aber eben deshalb, weil er sich, wie Du sagst, verbal auf die Ernsthaftigkeit seiner Wahrnehmung einlässt (jetzt möchte ich doch glatt meinen Nabokov in die Ecke schmeißen und gegen einen Stasiuk eintauschen - Du musst echt aufhören, alles so interessant zu schreiben, Herr @Jean van der Vlugt :evil: , weil ich schließlich den Nabokov schaffen will)

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • Mir gefällt besonders der Dojcze Schäferhund auf dem Cover. :applause:

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Mir gefällt besonders der Dojcze Schäferhund auf dem Cover. :applause:

    Dann gefällt Dir vielleicht auch dieses Zitat, in dem Andrzej Stasiuk auf Seite 50 Rolf Jansen wiedergibt, der 1969 Präsident des Deutschen Hundezüchterverbandes war, und in dieser Funktion damals folgendes sagte:


    "Die Halter schmutziger Hunde tragen auch schmutzige Unterwäsche."


    Ich wusste ja, dass man in den Nachwehen der Achtundsechziger Gammlern und Studenten gerne am Zeug flickte, dass jetzt aber auch die Halter schmutziger Hunde verfemt waren, ist mir neu! :geek:

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  • Das ist ein Thema, das mich sehr beschäftigt. Unglaublich auf was für interessante Bücher man hier im Büchertreff stößt, und wie schön du das Buch beschrieben hast Jean van de Vlugt!

  • Das ist ein Thema, das mich sehr beschäftigt. Unglaublich auf was für interessante Bücher man hier im Büchertreff stößt, und wie schön du das Buch beschrieben hast Jean van de Vlugt!

    Es ist aber auch ein sehr anregendes Büchlein :uups: . Jetzt, wo ich damit durch bin, muss ich anmerken, dass es über seine 90 Seiten hinweg immer unkonkreter wird: Anfangs gibt es Eindrücke, die klar bestimmten Orten, Städten, Hotels oder Ereignissen zuzuordnen sind. Zum Ende hin verwischen die Eindrücke, es geht immer weniger um Deutschland, dafür mehr um das Bild Deutschlands im Ostblock und schließlich um den Ostblock (ähem, man sagt nicht mehr Ostblock ... aber es passt eigentlich recht gut, da die Befremdlich- und Befindlichkeiten, Klischees und Unverträglichkeiten ja aus früheren Zeiten herrühren).


    Stasiuk will in diesem Buch nichts erörtern oder analysieren. Er bleibt gewissermaßen an der Oberfläche (manche würden sagen: Was meckert er denn, wenn er sich "gar nicht richtig" für Deutschland interessiert?!). Dafür verwendet er "sowas wie Poesie", um das Vage zu schreiben: In seiner Vorstellung ist Deutschland immer ein klares Bild, der Osten dagegen verwischt. Deutschland im Regen (mit dadurch aufgelösten Formen) ist für ihn somit "erträglicher". Überhaupt sind seine Beschreibungen die ganzen 90 Seiten sehr treffend und grandios einfach, schlicht (aber mit Wumms!) - wenige Worte, viel Aussage. Ich gebe einfach mal noch ein Beispiel (von Seite 87):

    Zitat

    In Karlsruhe stiegen erholungsbedürftige Massen ein. Rentner mit Spazierstöcken, bunt kostümierte Radfahrer, japanische Dachse, die sich eine Meinung über den Rest der Welt und Europa bilden wollten. In diesem Gedränge fuhr auch ein Pärchen, noch keine Dreißig. Sie standen im Gang sehr dicht beieinander und schauten aus dem Fenster. Bisweilen hielten sie ihre Köpfe aneinander, flüsterten sich etwas zu. Ich brauchte keine Worte zu hören, um zu erraten, daß sie aus dem Osten waren. Gar nicht einmal aus Polen, denn für meine Landsleute habe ich einen Riecher. Irgendwo aus der Ukraine, aus Rußland, Belarus, von dort. Sie waren etwas scheu und völlig ungekünstelt. Doch man merkte, daß sie für Angst ebensowenig empfänglich waren wie für Arroganz. Gekleidet mit der rührenden Eleganz von Provinzlern, die in die weite Welt aufbrechen, waren sie dennoch keine Spur lächerlich. Auf eine undefinierbare Weise erinnerten sie mich - auch wenn sie nur zu zweit waren - an die Heilige Familie auf dem Weg nach Ägypten.

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  • Hallo Jean van der Vlugt,


    danke für Deine Eindrücke; ich hatte gerade das Buch bestellt als Du anfingst, es zu kommentieren! In Deinem Regal sah ich, dass es der erste Stasiuk für Dich zu sein scheint?! Dann kann ich Dir nur dringend die anderen Bücher des Autors empfehlen. Einige sind hier schon besprochen worden, von Hypocritia und mir... Schau mal nach!


    Bis dann!

  • Hallo @tom leo, es ist tatsächlich das erste Buch Stasiuks für mich. Ich überlege gerade, welches ich wohl gerne als nächstes von ihm lesen würde. @Hypocritias und Deine Rezensionen und Bemerkungen sind da schon eine gute Richtschnur. Ich schwanke sehr zwischen Dukla und der Blechwand, mit einer Tendenz zu Dukla. Es scheint mir so, als ob die ruppige Blechwand besser wirkt, wenn man zuvor das poetische Dukla gelesen hat ...
    Bis dann!

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  • Das einzige Buch welches ich von ihm gelesen habe ist dieses und das auf Empfehlung meiner Schwiegermutter, die es natürlich auf polnisch gelesen hat und immer auf der suche nach neuen polnischen Schriftstellern war. Es ist schon ziemlich lange her aber es hat mir gut gefallen.
    Liebe Grüsse Mara

    :study: Ich bin alt genug, um zu tun, was ich will und jung genug, um daran Spaß zu haben. :totlach: na ja schön langsam nicht mehr :puker:

  • Das einzige Buch welches ich von ihm gelesen habe ist dieses und das auf Empfehlung meiner Schwiegermutter, die es natürlich auf polnisch gelesen hat und immer auf der suche nach neuen polnischen Schriftstellern war. Es ist schon ziemlich lange her aber es hat mir gut gefallen.

    Danke für den Tipp, Mara! Das hört sich ja wirklich auch gut an: verrottene LPGs, düster-alkoholisierte Verfallstimmung. Mein Buch eigentlich!!! :) Zwischenzeitlich war ich sicher, auf seinen heftigen Gefängnisromanerstling (Die Mauern von Hebron) umzuschwenken. Tja. Ein recht abwechslungsreicher Schriftsteller auf jeden Fall! Vor lauter Möglichkeiten habe die Anschlusssuche vorerst unterbrochen ... :wink:

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  • Hmm, schon erstaunlich, dass ich bis jetzt von ihm nichts gelesen habe. Es liegt wahrscheinlich daran , dass ich seit über 13 Jahren in Deutschland lebe..Der Name ist mir ein Begriff, aber ich hab bis jetzt keine Aufmerksamkeit diesem Autor geschenkt..Wird ja mal Zeit.

  • Ich persönlich halte die "Galizischen Geschichten" für mein Lieblingsbuch. Doch da reagiert ja jeder anders... Die Mauern von Hebron sind ganz starker Tobak! Nichts für zartbesaitete Seelen! Und nah dran an Perversion und Obszönität.

  • Hmm, jetzt im Nachhinein, nach der anfänglichen Euphorie, kommen mir auch ein paar kritische Gedanken in den Sinn. Ich hab das Buch "Galizische Geschichten" noch nicht gelesen, aber ich werde es tun, schon alleine um zu überprüfen , ob meine Vermutungen zutreffen.
    Ich hab aber die Rezension zu diesem Buch, die hier bei uns zur Verfügung steht, gelesen, und das Werk selber werde ich auf jeden Fall auch in Augenschein nehmen denn ich möchte mir meine eigene Meinung bilden. Lange Rede, kurzer Sinn.
    In erster Linie geht es um den Begriff Galizien. Ich gehöre der jüngeren Generation, und dieser Begriff ist für mich ein wenig befremdlich, um ehrlich gesagt ein wirkt er auf mich wie ein rotes Tuch. Wie in der Rezension richtig vermerkt, ist diese Gegend schon lange kein Galizien mehr. So wurde sie von der damaligen Besatzungsmächten genannt. Damals befand sich Kleinpolen unter dem Österreichischen Joch (Erste Teilung Polens). Heute (auch Anfang der 90er) sagen wir einfach Kleinpolen.


    verrottene LPGs, düster-alkoholisierte Verfallstimmung.


    Sollte diese Gegend in dem Buch wirklich so dargestellt werden, so macht mich das traurig, denn ich bin dort geboren, und kenne es von einer ganz anderen Seite: idyllische Grünlandschaften, Berge, reißende Bäche und Flüsse, hart arbeitende Menschen, ob Bauer, oder Städter, die irgendwie versuchen gegen die Hürden des gnadenloses Kapitalismus anzukämpfen..Kleinpolen besteht zu einem großen Teil aus Land, das stimmt, aber die Landwirte kämpfen um ihr Überleben, und es sind schon lange nicht mehr kleine, arme Bauern.
    Bei mir auf dem Gymnasium gehörte ca. 30 % der Klassenkameraden zur Landbevölkerung, und manchen von denen ging es viel besser, als uns in der Stadt. Und auch Städte gehören zu Kleinpolen..Und welche Städte! Krakau zum Beispiel, dessen Altstadt im Ganzen zur UNESCO- Weltkulturerbe gehört, das lange vor Warschau die Hauptstadt, die Königsstadt von Polen war, mit einer der ältesten Universitäten Europas, Tarnow (ebenfalls eine alte Handelsstadt), Nowy Sacz, Stary Sacz, viele Kurorte alle toll restauriert. Das ist das "Galizien", wie ich es kenne.
    Es mag sein, dass nach der Wende die Welt etwas anders aussah, und ich davon nicht viel mitgekriegt habe, weil ich erst 7 Jahre alt war, aber man kann nicht alles schlecht machen. Die Menschen dort haben sich aufgerappelt entgegen alle Hindernisse. Und das ist wichtig, denn Medien, darunter auch Bücher, Literatur tragen auch zu dem Bild von Polen in der Welt bei.
    Deswegen werde ich das Buch lesen, um mir mein eigenes Urteil zu bilden, denn ich sehe dieses Land schließlich auch mit den Augen einer Galiziern, nein, einer Kleinpolin.

  • Sollte diese Gegend in dem Buch wirklich so dargestellt werden, so macht mich das traurig, denn ich bin dort geboren, und kenne es von einer ganz anderen Seite: idyllische Grünlandschaften, Berge, reißende Bäche und Flüsse, hart arbeitende Menschen, ob Bauer, oder Städter, die irgendwie versuchen gegen die Hürden des gnadenloses Kapitalismus anzukämpfen..Kleinpolen besteht zu einem großen Teil aus Land, das stimmt, aber die Landwirte kämpfen um ihr Überleben, und es sind schon lange nicht mehr kleine, arme Bauern.


    Mach' Dir keine Sorgen, @Magnolie - niemand fühlt mehr zu Hause in Polen als Andrzej Stasiuk. Er findet die Möglichkeit, im Vergänglichen und im Verschwinden eine Aesthetik zu schaffen, die in mir persönlich eine Sehnsucht wecken kann, wie ich sie aus postkartenähnlichen Touri-Beschreibungen nie ziehen könnte - eine Sehnsucht nach dem Wesen, das sich aus den Landstrichen, den Menschen, ihrer Historie und ihrem Umbruch ergibt. Mag sein, dass Stasiuk nicht alles so anpreist, wie man es gewohnt ist, aber Stasiuks wesentliches Polen lebt viel mehr im Leser als ein Abziehbildchen-Polen, würde ich mal behaupten, weil es u.a. viel mehr Respekt einflößt. Seit diesem Autor (dank tom leos BT-Rezensionen) sehe ich Polen und die Balkanländer mit Respekt und mit Interesse. Aber Stasiuk ist mehr was für's Innere, das ist mir eigentlich viel zu privat, um das Bedürfnis zu haben, die entstehenden Gefühle großartig im Netz lüften zu wollen.
    Es hat schon seinen Sinn, wenn diese Geschichten mit "galizische Geschichten" betitelt wurden, denke ich - da verhindert doch schon der Titel, dass alles, was mal war, in Vergessenheit gerät und in die mentale Nicht-Existenz abgeschoben wird.



    Und das historische Siebenbürgen und seine Gesellschaft, wie Miklós Banffy es beschrieben hat, finde ich auch toll, auch wenn das nun in eine ganz andere Schublade gehört (wobei: Stasiuk gehört nicht in eine Schublade, sondern immer greifbar neben das Bett :wink: ).

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    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
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  • @Magnolie : Danke für Deine Einwände! Und wie passend, dass ich mir vorhin nun ausgerechnet dieses Buch bestellt habe! :wink: Dann werde ich mich wohl beizeiten ranmachen mit Lesen! Allen Renzensionen über Stasiuks Bücher entnehme ich, dass sein (oder des Erzählers) Blick immer wohlwollend auf der Seite der Menschen, über die er schreibt, ruht. Ich denke, das wird auch in diesem Buch der Fall sein. In diesem Fall geht es ja anscheinend, um Menschen "mit denen etwas geschieht", die gewissermaßen von den Zeitläuften überrollt werden. Einer Zeit des Übergangs vor bald 30 Jahren! Ich bin fast sicher, auch in den Galizischen Geschichten kriegen nur die ihr Fett ab, die es verdienen. :) Mehr dann später dazu ...

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  • Mach' Dir keine Sorgen, @Magnolie - niemand fühlt mehr zu Hause in Polen als Andrzej Stasiuk.


    Na, gut, ich versuche unvoreingenommen an das Buch heranzugehen, obwohl das schwierig ist :wink: , jeder hat so seinen eigenen Blick auf die Heimat, und meiner ist auch teilweise sehr kritisch,aber halt von einer anderen Seite. Ich freu mich jetzt wirklich auf diesen Autor.


    Es hat schon seinen Sinn, wenn diese Geschichten mit "galizische Geschichten" betitelt wurden, denke ich - da verhindert doch schon der Titel, dass alles, was mal war, in Vergessenheit gerät und in die mentale Nicht-Existenz abgeschoben wird.


    Das klingt einleuchtend :).

  • Hmm... Ich hab meinen Vater , der in Polen lebt gefragt, ob er Stasiuk kennt. Er sagt: "Ja wohl, so ein polnischer Hemingway". Das hört sich doch gut an..

  • Ich stolperte gerade über dieses Zitat aus Stasiuks "Winter", das ich allerdings nur auf Französisch besitze, Dir aber einen Eindruck vermitteln kann, was ihn bei der Beschreibung Polens so bewegt:


    "[...] aux régions dans l'opulence, je préfère celles plus pauvres où les objets possèdent une vraie valeur, où, probablement, les gens les aiment ne serait-ce qu'un peu parce qu'ils n'en possèdent pas d'autres."


    also ungefähr:
    "... den Gegenden des Überflusses ziehe ich die ärmeren vor, wo die Gegenstände einen wahren Wert besitzen und wo, wahrscheinlicherweise, die Leute diese lieben, und sei es auch ein wenig allein deshalb, dass sie keine anderen besitzen."