Louis Drax ist neun Jahre alt, doch dies ist bereits sein neuntes Leben. Die anderen acht hat er durch Unfälle aufgebraucht, für die er erstaunlich anfällig ist. Besonders der letzte Unfall hätte eigentlich wortwörtlich sein letzter sein sollen, denn nach dem Sturz in eine Schlucht war er tot ... bis er im Leichenschauhaus wieder zum Leben erwachte.
Und nun lebt er zwar, doch er befindet sich im Koma. Nachdem sich sein Zustand weiter verschlechtert, wird er in eine Spezialklinik in der Provence verlegt, in die Obhut von Dr. Dannachet, der für seine Erfolge mit Komapatienten berühmt ist. Dr. Dannachet ist nicht der einzige, der darauf wartet, daß Louis erwacht - auch die Polizei hofft darauf, denn Louis ist möglicherweise der einzige, der ihnen sagen kann, was wirklich bei jenem Picknick an der Schlucht passiert ist. Doch Louis unterhält sich lieber mit Gustave, dem bandagierten Mann ohne Gesicht, der in Louis' Kopf lebt ...
Das neunte Leben des Louis Drax von Liz Jensen (Originaltitel The Ninth Life of Louis Drax, 2004) ist ein Buch der etwas anderen Art. Es ist auf alle Fälle kein gewöhnlicher Krimi - um genau zu sein, es ist wahrscheinlich gar kein Krimi, obgleich es um Verbrechen und die Aufklärung eines Falles geht. Es ist vor allem eine Charakterstudie einer Gruppe von Leuten, deren Leben in verschiedenster Weise mit den neun Leben von Louis Drax in Berührung kommt und dadurch völlig aus den Fugen gerät. Und es geht in gewisser Hinsicht auch um die Wahrheit in dem altbekannten Ausspruch, daß niemand so blind ist wie jene, die nicht sehen wollen.
Liz Jensens Sprache ist schnörkellos, wie auch ihre Erzählweise, und sie hat ihre beiden Erzähler - Dannachet und Louis - meisterhaft "im Griff". Nichtsdestotrotz gelingt es ihr, den unwahrscheinlichsten Dingen eine fast märchenhafte Qualität zu verleihen, wie sich gerade an der Beziehung von Gustave und Louis beweist. Ebenso gelingt es ihr immer wieder, mit kleinsten Bemerkungen die Spannung aufrecht zu erhalten, indem sie das Gefühl erzeugt, daß sich jederzeit und überall ungeahnte Abgründe auftun könnten - besonders in den Kapiteln, die von Louis selbst erzählt werden und die oberflächlich das Geheimnis um Louis noch geheimnisvoller zu machen scheinen, doch tatsächlich die Lösung beinhalten. Am Beeindruckendsten ist jedoch, wie zutiefst menschlich Jensens Figuren - und damit auch ihre Geschichte - sind.
Das neunte Leben des Louis Drax ist eine packende Erzählung, verkleidet als Krimi, und Liz Jensen ist dem Leser immer einen Schritt voraus: Man mag denken, daß man längst auf die "Auflösung" gekommen ist, doch es fügt sich tatsächlich erst am Ende alles zusammen. Ein außerordentlich empfehlenswertes Buch, eindeutig nicht nur für Krimifreunde.
Gruß
Ute
P.S.: Ich bin übrigens auf dieses Buch durch die BBC-Sendung Page Turners aufmerksam geworden, in der die "Leseereignisse" aus 2004/2005 vorgestellt wurden. Ich habe inzwischen mehrere der dort besprochenen Bücher gelesen und muß sagen, daß ich bislang noch von keinem einzigen enttäuscht war. Die Liste dürfte auch für andere Büchertreffler den einen oder anderen "Fund" enthalten, also lohnt sich ja vielleicht mal ein Blick darauf ...