Walker Percy - Das Thanatos-Syndrom / The Thanatos Syndrome

  • Inhaltsangabe zitiert nach dem Buchumschlag meiner Taschenbuchausgabe: Der Psychiater Dr. Tom More entdeckt, stutzig geworden durch das Verhalten einiger Patienten, dass das Trinkwasser seines Wohnortes mit Wasser aus der nahegelegenen Nuklearanlage verseucht worden ist. Die Möglichkeit eines Unfalls ist ausgeschlossen. Ein staatliches Experiment?


    Da greift sich der etwa 70-jährige US-amerikanische Schriftsteller Walker Percy, der mit seinem Debütroman "Der Kinogeher / The Moviegoer" 1962 den National Book Award erlang (und seitdem gewissermaßen in einer Liga mit William Faulkner, John Updike, William Gaddis und John Cheever spielt), Ende der 1980er-Jahre sein Schreibgerät und verfasst einen Roman, der sich mit aktuellen ethischen und gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzt, die auch noch 25 Jahre später den "modernen Menschen" herausfordern – so etwas sollten sich bitte auch mehr deutsche Literaten trauen, anstatt noch weitere pathologische Beziehungsgeschichten oder vermeintliche Vergangenheitserklärungen zu produzieren. Was ist eine lebenswerte Gesellschaft? Was ein lebenswertes Leben? Muss man die Ursache seines Leidens wirklich erkennen, oder reicht die Behandlung der Symptome nicht völlig aus? Wie viel destruktiver Todestrieb ist in Ordnung, wie viel Unlustvermeidung eher schädlich, wie viel Regression vergnüglich?


    Auch wenn das Pressezitat auf dem Cover der Taschenbuchausgabe Krimi-Anleihen vermuten lässt (man hat es mitnichten mit einer "Mischung aus James Bond, Sherlock Holmes und Father Brown" zu tun; ein sehr irreführender Verweis!), bedient sich dieser vielfältige, moralische und existenzialistische Roman am ehesten bei wissenschaftlicher Science-Fiction: Eine Ärzteschaft wie die in der Geschichte vorkommenden Qualitarianer, die eine (gesellschaftliche) „Optimierung“ des Lebens über das individuelle Recht auf Entfaltung stellen – und munter Euthanasie von Alten, Behinderten und Aidskranken sowie Abtreibungen bis zum 18. Lebensmonat nach der Geburt durchführen – ist zum Glück Zukunftsmusik.


    Dem katholischen Existenzialisten Walker Percy erscheint das 20. Jahrhundert als ein Zeitalter des Tötens, in dem mehr Menschen gestorben sind als in vermeintlich barbarischen Vorzeiten – und das, obwohl die wissenschaftliche und gesellschaftliche Aufklärung, die Humanität und ihre fürsorgliche Hinwendung zum Menschen ihren bisherigen Höhepunkt erreicht zu haben scheinen. Abtreibungen lehnt Percy vehement ab, das Recht des Einzelnen auf sein individuelles Lebensglück (und sein individuelles Scheitern) gilt ihm als hohes, fast heiliges Gut. Wer zunächst "nur" Embryos tötet, schreckt vielleicht bald auch vor der Vernichtung unliebsamer Gesellschaftsgruppen nicht mehr zurück...


    Der Romanheld ist der gestrauchelte Psychiater Dr. Tom More, der übrigens schon in Percys Roman "Liebe in Ruinen / Love in the Ruins" 1971 die literarische Bühne betreten durfte. In letzter Zeit muss Dr. More immer weniger Patienten behandeln, da die Menschen mittels Medikamenten die Symptome ihrer Neurosen einfach ausblenden können. Nach und nach stößt er auf bestimmte charakterliche Veränderungen bei einigen seiner Mitmenschen. Alsbald wird auch eine Verbindung zum nahegelegenen Atomreaktor, der Trinkwasserversorgung und einer elitären Internatsschule ausgemacht. Um in der Folge alle ethischen, psychologischen und religiösen Fragen im „Thanatos-Syndrom“ besser an den Leser bringen zu können, werden sie also in eine genretypische Thrillergeschichte eingebettet, in der sich eine kleine Gruppe Wissender, nachdem sie eine ungeheuerliche Verschwörung der Mächtigen entdeckt hat, gegen deren staatstragende Übermacht durchsetzen muss.


    Am Ende muss sich nicht nur Dr. More (sondern auch der Leser) die Frage stellen, was denn so schlecht sei an einer Gesellschaft, die durch klammheimliche radioaktive Anreicherung des Leitungswassers eine Verringerung von Straßenkriminalität, Drogenmissbrauch und Selbstmorden nebst einer Steigerung schulischer Lernerfolge, der Erinnerungsfähigkeit und der Sexualität erreicht. Da sollte eine Verflachung individueller Lebensgeister und eine Verödung des Charakters (bis hin zur Regression in animalische Vorstufen der Evolution) und die Gleichschaltung der Gehirne doch hinzunehmen sein. Oder etwa nicht?


    Ein spannendes, überraschendes und "gegenwärtiges" Buch über moralische Dilemmata, gesellschaftliche Verantwortung und das Gegenüber von Religion und Wissenschaft, Psychologie und neurologischer Regelhaftigkeit, Euthanasie und Lebensoptimierung, befreiter Sexualität und abstoßender Pädophilie, Kindererziehung und sklavenhaftem Genuss am Gehorsam, das eine Zeit lang vermeintlich dahinplätschert, um dann nach etwa 200 Seiten umso stärker der Thriller-Schiene zu folgen – und dabei durch die Bank weg voller anregender, weit verstreuter kultureller Referenzen, trefflicher Sätze und unerhörter Beschreibungen und Zuspitzungen von Figuren und Szenen ist - die manchmal auch die Grenzen des "guten Geschmacks" übertreten. Aber wie soll man seinen moralischen Standpunkt auch sonst verorten, wenn man nicht die Grenzen des Diskursfeldes auslotet!


    Das Einzige, was man meiner Meinung nach dem Roman vorwerfen kann, ist im Übrigen die Überbetonung seines moralischen Standpunktes. Aber so begreift wenigstens auch der Dümmste, was gemeint ist. Merke: Der Zweck heiligt niemals die Mittel!

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 57 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Der Roman trägt im Original, 1987 bei Farrar, Straus & Giroux in New York erschienen, den Titel "The Thanatos Syndrome". Diese US-Wiederveröffentlichung bei Picador stammt aus dem Jahr 1999. Eine Kindle-Ausgabe gibt es auch.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 57 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Ich bin sehr dankbar, Jean, hier mal eine weitere Meinung zu desem großartigen Autour zu lesen, der Literatur auf höchstem Niveau geschrieben hat. Ich habe inzwischen mehrere seiner Bücher schon im BT besprochen; dieses hier liegt schon auf dem SUB...


    Und ich schmunzle: wie es sich halt zufällig trifft lese ich gerade das letzte posthum veröffentlichte Buch von Albert Camus. Percy fühlte sich ihm, wie seltsam das für einige auch ausschauen mag, sehr verbunden. Er war eine Referenz für ihn.

  • Das freut mich! Bei mir ist's andersrum: Mehrere andere seiner Bücher liegen auf meinem SUB: “Liebe in Ruinen“, “Die Wiederkehr“ und “Lancelot“, angeschafft, nachdem ich von dem hier so begeistert war. Und mich fragte, warum ich von Percy bis vor etwa 2 Jahren (weiß gar nicht mehr wieso dann) noch nie gehört hatte. Und damit zumindest in Deutschland auch nicht alleine bin! Na, “Stoner“ wurde wiederentdeckt, vielleicht auch bald “Der Kinogeher“?!

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 57 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • @Jean van der Vlugt : Danke für die Vorstellung dieses Buches! Hat mich gleich so überzeugt, dass es ich es mir bestellt habe.


    Heute ist es eingetroffen und liegt nun auf meinem "das kommt gleich mal als nächstes dran" -SUB. Bin schon sehr gespannt.

    :study: Audre Lorde: Sister Outsider (eBook)

    :study: Joseph Roth: Hiob (eBook) - MLR

    :study: Thomas Chatterton Williams: Selbstportrait in Schwarz und Weiss - Unlearning Race



    „An allem Unrecht, das geschieht, ist nicht nur der Schuld, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert.“

    Erich Kästner

    "Das fliegende Klassenzimmer"


    Warnhinweis:
    Lesen gefährdet die Dummheit

    :study:


  • Heute ist es eingetroffen und liegt nun auf meinem "das kommt gleich mal als nächstes dran" -SUB. Bin schon sehr gespannt.


    Ich hoffe, es gefällt Dir! Manche finden es ja langweilig. Würde mich freuen, wenn Du beim oder nach dem Lesen “deinen Senf“ dazu abgibst! Viele Grüße, der Jean.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 57 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)