Hanns-Josef Ortheil - Die Erfindung des Lebens

  • Es hätte ein richtig guter Roman werden können …
    Johannes, der Protagonist, wäre eigentlich der fünfte Sohn seiner
    Eltern gewesen, doch alle vier Brüder starben kurz nach dem Krieg, er
    ist der einzige Sohn seiner Mutter geblieben, die auf dieses Schicksal
    mit Stummheit reagiert. Und so schweigt sie ihren Sohn an, verlebt mit
    ihn in Köln eine sehr ruhige Kindheit, die sich nur zwischen der Wohnung
    und kurzen Einkäufen, oder kurzen Spaziergängen an den Rhein bewegen.
    Völlig in sich gekehrt erlebt der Protagonist dann das allabendliche
    Ritual, wenn sein Vater nach Hause kommt, am Wasserhahn trinkt und die
    Zettelchen der Mutter gelesen werden.


    In dieser stillen Zeit bleibt auch Johannes stumm, das ändert sich
    erst als er eingeschult wird und man ihn aufgrund dessen in der Schule
    moppt und triezt. Da erst schreitet der Vater ein, nimmt seinen Sohn von
    der Schule, fährt mit ihm, ohne die Mutter, in seinen Heimatort und
    dort erst erfährt Johannes was Leben wirklich heißt … Es dauert auch
    nicht lange bis er anfängt zu schreiben, zu lesen und dann auch zu
    sprechen. Er lernt schwimmen, er lernt zu leben …


    Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich das Buch sehr gerne gelesen, denn
    Ortheil erzählt ganz eindringlich, die Geschichte von Johannes, die
    vielleicht auch die seine ist. Als dann der Roman immer mehr aus der
    römischen Perspektive geschildert wird und sich der Erzähler ständig in
    die Handlung einmischt, nein vielmehr die Handlung erklärt, wird der
    Roman teilweise zur Farce. Die Erzählung hat keinen Fluss mehr, der
    Leser wird ständig vom schmökern abgehalten und belehrt, dabei könnte
    man diese Geschichte so wunderbar erzählen – fließen lassen –schade
    drum!

  • Ich teile im Großen und Ganzen den Eindruck Buchkrümels von dem Buch, wenn mein Urteil auch um einiges negativer ausfällt.

    Den ersten Teil, in dem die Stummheit des Jungen und die damit verbundenen Hemmnisse beschrieben werden, fand ich gut, auch der ruhige Erzählstil gefiel mir. Es gibt einige schön beschriebene Szenen, wie zum Beispiel die sonntäglichen Kirchenbesuche oder das Bad der Mutter im See. Allerdings erklärt Ortheil für meinen Geschmack zu viel, anstatt die Dinge einfach durch ihre Darstellung wirken zu lassen. Wie eng zum Beispiel die Symbiose zwischen Mutter und Sohn ist, begreift der Leser schon anhand der Beschreibung, sie muss nicht extra erläutert werden und schon gar nicht mehrmals. Diese Art, dem Leser alles noch mal auseinanderzusetzen, hat für mich etwas Betuliches. Überflüssig sind auch die hin und wieder eingestreuten Bemerkungen des Autors, er greife jetzt vor, nicht so eilig, das käme erst später, alles der Reihe nach usw. Fast alle modernen Romane benutzen das Stilmittel von Vorschau und Rückblende, das muss nicht eigens angekündigt werden. Als Mittel zur Spannungserzeugnis wirkt es auf mich jedenfalls reichlich plump und auch ein wenig kindisch.

    Mit dem zweiten Teil ging es mir wie schon bei Ortheils Roman "Die große Liebe", ich habe ihn zunächst gern gelesen, fand ihn dann aber zunehmend belangloser und uninteressanter. Ortheil erzeugt eine "Wohlfühlatmosphäre", was ich keineswegs als positiv empfinde. Sie kommt dadurch zustande, dass die Geschichte so glatt verläuft und dem Leser weder sprachliche noch inhaltliche Widerstände bietet. Sprachlich nicht, weil sie unkompliziert erzählt und dazu noch so bequem in Absätze mit Leerzeile dazwischen gegliedert ist, dass man den Text gemütlich herunterlesen kann, ohne sich groß anstrengen zu müssen. Inhaltlich nicht, weil sie im Grunde frei von allem Verstörendem und Beunruhigendem ist. Ich habe nichts dagegen, wenn ein Roman ein positives Lebensgefühl ausdrückt. Trotzdem gehört zum Leben auch immer das Hässliche und Gemeine, das Traurige und Bittere. Hier ist jedes Problem irgendwie lösbar, es geht immer voran. Alles ist durchwoben von Bildung, Lebensart und schönem Ambiente. Es gibt keinen hässlichen oder auch nur tristen Ort oder Raum, keine wirklich gemeine oder unangenehme Person, dagegen die harmonische Gemeinschaft mit den Eltern, die harmonische Gemeinschaft auf dem Bauernhof, wo alle zwar hart, aber gern arbeiten und abends an langen Tischen im Freien zusammen wunderbar tafeln, und natürlich die harmonische Gemeinschaft mit eigentlich allen Bewohnern Roms. Auch die Liebesgeschichte mit Clara gefällt mir nicht, weil sie in ihrer Rauschhaftigkeit nicht echt, sondern ausgedacht und idealisiert erscheint, auch wenn sie scheitert. Überhaupt ist der Teil, der in Rom spielt, schwach. Er liefert ein romantisch verklärtes Bild der Stadt, so wie es die Touristen lieben. Überall Musik und Kunst, überall schattige Plätze und gemütliche Bars, überall herzliche und hilfsbereite Leute, überall Lebensart und Lebensgenuss. Das sinnliche Erleben des Protagonisten wirkt oberflächlich und konstruiert, ganz davon abgesehen, dass er ausschließlich um den eigenen Nabel kreist, alles und jedes nur in Bezug auf sich selbst wahr nimmt und sich kaum dafür interessiert, was in anderen Personen vor sich geht. Das ließe sich zwar als eine Folge seiner isolierten Kindheit erklären, trägt aber auch zur Eindimensionalität und mangelnden Tiefe des Romans bei. Insgesamt ist das Buch ziemlich banal und von kultivierter Langweiligkeit. Von Ortheil werde ich keinen weiteren Roman mehr lesen.


    Gruß
    mofre

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