Ljudmila Ulitzkaja - Das grüne Zelt / Zelenyi sater / Зеленый шатер

  • Über den Autor:
    Ljudmila Jewgenjewna Ulitzkaja (auch Ulizkaja geschrieben) wurde am 23. Februar 1943 in Dawlekanowo, Baschkirien, geboren. Die Schriftstellerin führt die jüdische Erzähltradition mit moderner Erzählkunst zusammen. Die studierte Biologin arbeitete zunächst in Moskau in ihrem Beruf ehe sie in den 60er Jahren wegen Abschrift und Verbreitung illegaler Schriften des Samisdat verurteilt wurde. Seit Jahrzehnten arbeitet sie als freie Schriftstellerin, aber erst 1992 mit dem Roman „Sonetschka“ wurde sie einem breiteren Publikum als Prosaautorin bekannt. Seitdem werden ihre Werke auch in Deutschland verlegt. In ihren Erzählungen sind Alltagshelden durch Schicksalsfäden aufs Engste miteinander verbunden. Sie leben in einem Durcheinander aus Leidenschaft und Grausamkeit des Alltags und sie vergraben sich in ihr Leben. Die Schicksalsfäden entwirren sich, wenn die Geschichten vorwärts und rückwärts zergliedert werden. In der Literaturwissenschaft wird versucht, Ulitzkajas Werke einem Genre zuzuordnen, was die Autorin kommentiert mit „sollen sie halt!“ Gleichzeitig ist die Autorin auch politisch aktiv und bezieht Stellung, so z.B. im März 2014 auf dem Anti-Kriegs-Kongress in Moskau. (Quelle: Wikipedia)


    Buchinhalt:
    Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Ljudmila Ulitzkaja erzählt von drei Freunden, die in der Sowjetunion zu Dissidenten werden. Ilja, der Fotograf, vervielfältigt und verbreitet in seiner Freizeit verbotene Literatur. Als sich Jahre später herausstellt, dass er auch für den KGB tätig war, muss er fliehen. Micha ist Jude und schreibt seit seiner Jugend Gedichte. Wegen seiner Nähe zum Samisdat wird er denunziert und kommt ins Lager. Sanja kümmert sich während Michas Haft um dessen Frau und kleine Tochter. Dennoch hält ihn nach Michas Tod nichts mehr in der Sowjetunion. In ihrem großen Gesellschaftspanorama erzählt Ulitzkaja von Mut und Verrat, irregeleiteten Idealen, menschlicher Größe und Niedertracht - und immer wieder von der Liebe, die das Handeln der Menschen antreibt. (Quelle: Perlentaucher)


    Das Buch umfasst 581 Seiten untergliedert in 32 Kapitel, die sehr treffende, beschreibende Titel tragen. Angehängt sind 7 Seiten Anmerkungen zu zitierten Texten / Gedichten und erwähnten Personen der realen Geschichte und Literatur, sowie eine Danksagung der Autorin. Meiner gebundenen Ausgabe des Carl Hanser Verlages ist ein Lesezeichen beigelegt, das beidseitig die wichtigsten Personen der Geschichte auflistet und so für Klarheit der Zusammenhänge sorgt – man kann jederzeit schnell nochmals schauen, wer mit wem zusammenhängt.


    Meine Meinung:
    Ich bin sehr zwiegespalten bei diesem Buch – zum einen hat mich vieles fasziniert und begeistert, zum anderen war mir vieles zu wenig ausgearbeitet oder zu abgeschnitten. Das Buch beginnt spannend in den 50er Jahren in Moskau als die drei Jungen noch in die Schule gehen und einen neuen Lehrer bekommen. Dieser Lehrer Viktor Juljewitsch Schengeli begeistert und fasziniert seine Schüler, er zieht sie hinein in die Welt der russischen Literatur, die für ihn alles ist nachdem er die Gräuel der realen Welt während des 2. Weltkriegs am eigenen Leib erlebt hat. In diesem ersten Drittel des Buches werden die Jungen sehr detailliert vorgestellt: ihre Herkunft, ihre Familien, ihr Leben, ihre Charaktere, Wünsche und Träume. Dann gibt es einen Sprung von 10 Jahren und zumindest die erste weibliche Protagonistin, Olga, tritt in die Geschichte ein. Und hier sind wir bei einem meiner Minuspunkte: eigentlich dreht sich dieses Buch nur um Ilja und Olga, die anderen spielen nur Nebenrollen und kommen über lange Strecken gar nicht vor in diesem Roman. Das finde ich nach der Buchvorstellung im Klappentext sehr irritierend.
    Ilja, der schon immer eine Art Revolutionär und sehr unangepasst war, zieht die wohlerzogene, aus systemtreuer Familie stammende Olga in seinen Bann und in seine Kreise hinein. Durch ihn kommt sie in Kontakt mit dem Samisdat, der Untergrundorganisation in Russland, die verbotene Schriften verbreitete und gegen das herrschende Regime unter Chruschtschow und später Breschnew anschrieb. Der Samisdat war eine lose Organisation ohne feste Strukturen. Die beiden arbeiten mit all ihren Mitteln dabei mit, Ilja mit der Kamera und Olga mit der Schreibmaschine. Sie lieben sich und heiraten, aber ihre Ehe und Familie hat nur eine bedingte Zukunft und beide werden auf eine gewisse Weise zu Verrätern, müssen lernen, wie leicht man an die falschen gerät und sich mit ihnen einlässt. In großen Sprüngen erzählt die Autorin ab jetzt die Geschichte der beiden und der Menschen um sie herum. Während im ersten Drittel des Buches chronologisch die Jugendjahre der Jungen erzählt wurde, springt die Autorin im zweiten Drittel des Buches wild in der Zeit umher und außerdem noch wilder von Geschichte zu Geschichte. Es werden sehr viele Personen am Rand beschrieben, in kurzen Kapiteln, die eigentlich nicht wirklich oder nur sehr wenig mit der Geschichte und den Protagonisten zu tun haben. An dieser Stelle war ich mal kurz davor zu sagen „das war's, das ist nicht mein Buch“; ich hab mich gefragt, was das soll, und frage es mich noch immer..... In diesem wilden Drittel wird auch schon das Ende der beiden vorweggenommen, in einem extrem gefühlsbetonten Kapitel, das für mich auch nicht in die Geschichte hineinpasst (für mich wirkte dieses Kapitel leicht kitschig, vollkommen anders und herausgerissen aus dem restlichen Zusammenhang. Noch dazu endet es geradezu melodramatisch).
    Das letzte Drittel wird wieder chronologisch und die beiden anderen Jungen, Sanja und Micha, treten wieder auf den Plan. Nun werden ihre Geschichten erzählt, Ilja und Olga sind keine handelnden Personen mehr im Hauptstrang, auch wenn besonders Ilja noch auftritt. Aber die Geschichte dreht sich nun mehr um die beiden anderen bis zum Ende des Romans, wobei ihrer beider Leben doch enger miteinander gekoppelt sind als ihre Leben mit dem Iljas.


    Stilistisch liest sich das Buch hervorragend, überraschenderweise (für mich) schreibt Ljudmila Ulitzkaja nicht russisch-schwermütig sondern leicht und mit einem einfangenden Stil. Vom ersten Satz an war ich in der Geschichte drin. Dieser leichte, fesselnde Stil ließ mich auch das mittlere Drittel durchhalten. Trotz allem Chaos der Geschichtchen und Geschichten in diesem Teil war es eben leicht zu lesen und ich hoffte einfach, dass sich ein Zusammenhang noch ergeben würde. Ich allerdings hab keinen erkannt. Dieser herrliche Stil ist auch für mich das große Plus an diesem Roman. Außerdem führt uns die Autorin massiv in die russische Literatur ein, indem sie sehr viele Gedichte und Texte zitiert und in den Anmerkungen immer erläutert, wen sie da grade aus welchem Werk zitiert. Ich hab in den letzten 20 Jahren nicht so viele Gedichte gelesen wie in diesem Roman. Durch den Lehrer Schengeli erzählt sie uns im ersten Drittel des Romans auch ebensoviele Geschichten und Geschichtchen über russische Autoren und literarische Figuren aus deren Werken während wir ihn und seine Schüler bei ihren Spaziergängen durch Moskau begleiten.


    Nun zu dem Minus: mir war das Buch zu konfus, in vielen Teilen zu zusammenhanglos. Vielleicht liest ein Russe mit seiner eigenen Geschichte das Buch nochmals ganz anders und erkennt Zusammenhänge, die sich mir nicht erschlossen – vielleicht aber auch nicht. Meiner Meinung nach hätte das Buch auch um gut 100 Seiten kürzer, aber dafür dichter sein können. Die russische Geschichte, die Geschehnisse unter Chruschtschow und Breschnew, kamen mir eindeutig zu kurz. Auch hier haben Menschen mit guten Kenntnissen der jüngsten russischen Geschichte einen großen Vorteil. Ich habe da leider einiges zur Erklärung der Verhaltensweisen der Personen vermisst. Überhaupt die handelnden Personen: ihre Gefühle, ihre Liebe, ihre Träume werden häufig wunderbar beschrieben, aber über die Triebkräfte, die sie zu ihrem Handeln veranlassen, wird oft geschwiegen. Nachdem die Jungen anfangs so detailliert eingeführt wurden, hat mich das irritiert und gestört. Außerdem gingen etliche Protagonisten der Geschichte einfach unter. Nachdem der Lehrer Schengeli zum Beispiel so einen immensen Einfluss auf die Jungen in ihrer Schulzeit hatte, taucht er viel später nur noch mal am Rande auf – als ein alkoholabhängiges Wrack, das sein Leben nicht gemeistert hat. Warum es soweit kam, erfahren wir Leser leider nicht. Dabei ist diese Figur von Anfang an spannend und doch sehr wichtig für die Jungen. Das fand ich persönlich sehr schade. In dieser Hinsicht fehlte mir wirklich viel Tiefgang in diesem Roman, da blieben zu viele Lücken übrig.


    Bei all den vielen Pros und Cons bleiben für mich 3 Sterne in der Bewertung über. Ich habe es nicht bereut, das Buch gelesen zu haben, aber in der Gesamtsicht kann ich ihm keine höhere Bewertung geben, da für mich die negativen Teile besonders in der Ausarbeitung der Protagonisten überwiegen.

    viele Grüße vom Squirrel



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