Lionel Shriver - Großer Bruder/Big Brother

  • Klappentext:
    Pandora war immer nur die kleine Schwester. Ihr Bruder Edison, der geniale New Yorker Pianist, stand von Anfang an im Vordergrund und würde irgendwann ganz oben stehen, da waren sich alle sicher. Als er nun Pandora und ihre Familie im ländlichen Iowa besucht, muss sie erschreckt feststellen, dass der bewunderte große Bruder sich nicht nur in der Lebenslüge vom erfolgreichen Musiker eingerichtet hat, sondern inzwischen über 150 Kilo wiegt. Vor allem die Spannungen zwischen Edison und ihrem Mann Fletcher nehmen mit jeder Mahlzeit, mit jedem Gespräch über Disziplin und maßvolles Leben zu. Statt ihn rauszuschmeißen beschließt Pandora, Edison einer radikalen Diät zu unterziehen. Sie zieht mit ihm von zu Hause aus, um sich ganz diesem Ziel widmen zu können. Aber Fletcher weigert sich, Pandoras Plan zu unterstützen – und sie begreift, dass sie nur eines retten kann: ihre Ehe oder ihren Bruder. (von der Verlagsseite kopiert)


    Zur Autorin:
    Lionel Shriver, geboren 1957 in Maryland, USA, lebt mit ihrem Mann, dem Jazzmusiker Jeff Williams, in London und Brooklyn. Ihr in 25 Sprachen übersetzter Roman »Wir müssen über Kevin reden« wurde mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet. Auch ihr, um ein Gedankenspiel kreisender Roman »Liebespaarungen« erhielt international höchstes Kritikerlob und stand wochenlang auf den Bestsellerlisten. Zuletzt erschien von ihr der für den National Book Award nominierte Roman »Dieses Leben, das wir haben«. (von der Verlagsseite kopiert)


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: Big Brother
    Erstmals erschienen 2013 bei Harper Collins London
    Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Susanne Hornfeck
    In der Ich-Perspektive von Pandora erzählt. 335 Seiten


    Inhalt:
    Pandora hat ihr erfolgreiches Catering-Unternehmen verkauft und eine Firma für Sprechpuppen gegründet, mit der sie immens reich geworden ist. Mit diesem finanziellen Polster kann ihr Mann Fletcher Designer-Möbel bauen, die sehr schön, aber unverkäuflich sind. Aus einer früheren Ehe hat er seine Kinder Tanner und Cody mitgebracht, denen Pandora eine liebevolle Stiefmutter ist.
    Fletcher ist ein Kontrollfreak, er hält sich manisch in Form durch Radfahren und isst ausschließlich gesunde Produkte. Konflikte mit den Kindern sind vorprogrammiert.
    Als sich ein Mitbewohner ihres Bruders Edison meldet, dass er einen neuen Unterschlupf braucht, zögert Pandora nicht, ihn einzuladen. Doch bei seinem Anblick ist sie geschockt: Ihr wunderbarer, gut aussehender Bruder wiegt 150 Kilo und kann sich nur noch schleichend fortbewegen.
    Pandora leidet unter exzessivem Verantwortungsgefühl und will es allen Recht machen. Kein Wunder, dass sie sich in den Streitereien zwischen Fletcher und Edison aufreibt, bis sie versteht: Sie muss sich zwischen der Hilfe für Edison und ihrer Familie entscheiden.


    Eigene Meinung / Bewertung:
    Als mittleres von drei Kindern fühlte sich Pandora von den Eltern gegenüber dem schönen begabten Bruder Edison zurückgesetzt. Nun ist es aber sie, die als Erwachsene erfolgreich, zufrieden und angesehen lebt. Aus der Bewunderung für den großen Bruder wird, als sie ihn zum ersten Mal dick, fett und aufgeschwemmt sieht, Mitleid und aus Mitleid Verantwortung, obwohl die alten Geschwisterbande und –rollen immer noch greifen. Gegenüber Fletcher, der sofort klar sieht, was wirklich mit Edison los ist, nimmt Pandora ihn ständig in Schutz – so wie Geschwister gegenüber Eltern füreinander einstehen.
    Edison, der sich im selbst geschaffenen Wolkenkuckucksheim eines beschäftigten Musikers eingerichtet hat und die Realität ausblendet, nimmt, was er bekommen kann: Pandoras Gastfreundschaft, ihr Geld, ihre Zeit. Regeln gelten nur für gewöhnliche Sterbliche, aber nicht für ihn. Essen – man muss es „fressen“ nennen -, ist eine Sucht geworden. Wenn Pandoras Kühlschrank leer ist, futtert er auch schon einmal Zucker aus der Tüte. Die Konflikte spitzen sich zu, vor allem, weil Pandora mehr und mehr auf Edisons Seite steht und von Fletcher dafür Verständnis erwartet. In der angespannten Atmosphäre des Hauses fühlen sich auch die Kinder nicht mehr wohl, die mit ihren pubertären Problemen eigentlich genug zu tun hätten.
    Um den Konflikten zu entgehen und um Edison vor einem frühen Tod zu bewahren, zieht Pandora mit ihrem Bruder aus und lebt fortan mit ihm in einer kleinen Mietwohnung, denn sicher ist: Allein würde Edison eine Diät nicht durchhalten. Er braucht einen Coach, und er braucht sie als seinen Coach.
    Und weil es mit FdH oder Ernährungsumstellung nicht funktionieren würde und weil Pandora als Perfektionistin nur Alles oder Nichts kennt, wird Essen völlig gestrichen und die Geschwister nehmen nur noch Diät-Drinks zu sich. Etwa ein Jahr hat Pandora für Edisons Gewichtreduzierung vorgesehen. Ein Jahr muss Fletcher nun auf seine Frau verzichten und das Ende des Experiments abwarten, dessen Erfolg so sehr zweifelhaft ist.
    Doch es gelingt, Edison nimmt ab, unter den Geschwistern kommt es zu den lange aufgeschobenen Gesprächen über die gemeinsame Kindheit, über ihr jetziges Verhältnis und die Vorstellung der Zukunft. So wie die Körper Pfunde verlieren, werden alte Wunden, Missverständnisse und Ressentiments aus den Seelen katapultiert.
    Unterdessen befindet sich Fletchers Verständnis am Nullpunkt, Tanner reißt von Zuhause aus, und Pandora sehnt sich nach ihrem alten Leben. Und irgendwann müssen die Diätler wieder beginnen zu essen.
    … wäre da nicht die Pointe, mit der die Autorin das Handlungsgefüge unterbricht und ihr Buch abschließt.


    Leider gelingt es der Autorin nach starkem Beginn immer weniger, den Leser auf die Sichtweise der Protagonistin einzuschwören, im Gegenteil. Man würde sie gern rütteln und ihr den Platz zeigen, an den sie gehört. Und der ist sicher nicht an der Seite des fetten Bruders, der sich sehr schnell aller Sympathien des Lesers entledigt.
    In Shrivers Stil muss man sich einlesen. Sie umkreist Probleme, führt sie weit aus und springt von einer Assoziation zur nächsten, ehe sie zum Punkt kommt. Dadurch wird die Erzählung breiter und weitschweifender als nötig. Dennoch: Ihre Gedanken zum Umgang mit Hunger, Essen, mit Zuviel und Sättigung sind überlegenswert, desgleichen ihre Vorstellungen zu Familie, zu Nähe, Distanz und Zugehörigkeit.


    Fazit:
    Ein lesenswertes, über einige Strecken langatmiger Roman nicht nur zum Thema Diät.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Dieser anspruchsvolle Entwicklungs-und Familienroman erzählt die Geschichte von Pandora, die sich vom Leben zwischen die beiden Männer gestellt sieht, die ihr wichtig sind. Da ist zum einen ihr übergewichtiger Bruder Edison, der einfach nicht aufhören kann, immer mehr zu essen, und den Pandora irgendwann bei sich zu Hause aufnimmt, weil er mit einem selbständigen Leben nicht mehr zurechtkommt.


    Das genaue Gegenteil von Edison ist Pandoras Ehemann Fletcher, der radikal auf seine Fitness achtet und eine Ernährungsideologie verfolgt, die Pandora nicht nachvollziehen kann.


    Auf Kosten ihre Ehe entscheidet sich Pandora dafür, ihrem Bruder zu helfen, und fängt mit ihrem Bruder unter großen äußeren und inneren Gefahren eine radikale Diät an. Immer geht es um das Essen und seine Bedeutung, das Shriver zwischen den Zeilen immer wieder in eine sehr radikale Gesellschaftskritik münden lässt. Pandora verdient mit der Herstellung von Puppen ihr Geld, die markante Sätze wiederholen und ihre Eigentümer somit immer wieder mit ihrer Persönlichkeit konfrontieren. Als sie sich selbst eine solche Puppe schenkt, spürt Pandora, dass auch für sie eine schmerzhafte Entwicklung bevorsteht. Sie wird lernen, sich zu wehren und zu behaupten, ihre Unsichtbarkeit zu überwinden und zu sich selbst zu finden, jenseits der beiden Pole ihres esssüchtigen Bruders und ihres machtgierigen Ehemannes.


    Das Ende des Buches kommt überraschend. Man hat nicht mit ihm gerechnet, nach der Lektüre eines nachdenklichen Romans, der in die Tiefe geht.