Mariama Bâ – Ein so langer Brief/Une si longue lettre

  • Original : Une si longue lettre (Französisch/Senegal, 1979)


    INHALT :
    Nach dreißig scheinbar glücklichen Ehejahren wird eine Frau von ihrem Mann verlassen. Aber nicht wegen einer Geliebten: Er heiratet ein zweites Mal; ein Schulmädchen, das dieselben Rechte haben wird wie sie.
    Dieser preisgekrönte Briefroman ist ein erschütternder Aufruf zum Kampf gegen die Tradition der Polygamie und die Selbstaufgabe der Frau.
    (Quelle : List/Ullstein Buchverlag)


    BEMERKUNGEN :
    Im Herzstück des Romans : ein ellenlanger Brief in 27 kurzen Kapiteln von Ramatulai an ihre Freundin Aissatu. Erstere befindet sich nach dem Tode ihres Mannes Modu durch Herzinfarkt in der traditionellen Zurückgezogenheit in den ersten Wochen der Witwerschaft. Mit Fortgang dieser Wochen schreibt sie vom Tode ihres Mannes, dem erlebten Glück aber auch den Erniedrigungen, rückblickend und dabei stets ihre Freundin ansprechend, die im Allgemeinen auf dem Laufenden war und ist. Beide Frauen teilen ein gewisses Standing : Ramatulai lernte erfolgreich und teilte mit Aissatu den Durst zur Veränderung ; sie war Lehrerin, und dann stammten aus ihrer Ehe mit Modu zwölf Kinder. Und dann passiert das Unglaubliche, Unfassbare : nach dreißig Ehejahren und ihrer Hingabe sucht sich Modu einfach eine « Nebenfrau », gar einfach die Freundin ihrer eigenen Tochter ! Jene setzt sich durch mit ihrer Familie und insbesondere die neue « Schwiegermutter » profitiert von der Situation, erzwingt Sonderbehandlungen.


    Unsere Protagonistin aus Dakar/Senegal empört sich über so manche Traditionen (Polygamie, Zwangsheirat, Vorherrschaft des Mannes...), die die Rolle der Frau unterbuttern und nicht anerkennen. Ihr Schreiben ist nicht nur eine persönliche Klage oder ein Erzählen und Jammern, aber eine Anklage, ein Einfordern. Manche Aspekte überschreiten eine pure Beschreibung und werden zur politischen Feststellung und Aufgabenstellung. Und ohne Weiteres können wir dann in einem solchen Roman erste Schritte eines Befreiungskampfes der afrikanischen Frau sehen, eines Kampfes, in dem die Autorin stark engagiert war. Wie die sozialen und Geschlechtergrenzen, die Schwerfälligkeit von Traditionen überwinden ?


    Dabei bedient sich Bâ bei allen realistischen Beschreibungen und Inhalten einer sehr schönen und teils lyrischen Sprache. Das Buch läßt sich gut lesen (ich las es im französischen Original).


    Und gibt es wohl auch einen Raum für die Fiktion, so sind bei oberflächlichem Vergleich zwischen der Biographie der Autorin und der angedeuteten Lebensgeschichte unserer Romanheldin doch Parallelen da : die Herkunft und Stellung als Frau in einer oft von starken, auch einengenden Traditionen beherrschten Gesellschaft, die zahlreichen Mutterschaften, eine durch eine zweite Heirat des Mannes, Tod oder Scheidung gebrochene und angeschlagene Ehe...


    In der deutschen Ausgabe ist das Buch mit dem Untertitel versehen « Ein afrikanisches Frauenschicksal » - ein sprechender Hinweis auf den Inhalt. Dabei geht es indirekt aber doch um mehrere Frauen, auch wenn die Ich-Erzählerin (-schreiberin) im Mittelpunkt steht.


    Auf meine Suche nach guten afrikanischen Romanen wurde mir dieser Briefroman von einem senegalesischen Bekannten wärmstens empfohlen. Und ich gebe diese Empfehlung gerne weiter : insbesondere die gesellschaftlich interessierten Leser(innen) zur Lage der Frau in Afrika finden zwischen und in den Zeilen eine Menge Hinweise auf diese Situation.


    AUTORIN :
    Mariama Bâ (* 1929 in Dakar, Senegal; † 1981 in Dakar) war eine senegalesische Schriftstellerin. Sie gehörte zum Volk der Fulbe. Aus einer traditionell islamisch geprägten Familie stammend besuchte sie nach dem Tod ihrer Mutter eine französische Schule und zeichnet sich von Anfang an durch ausgezeichnete Leistungen aus. 1943 wechselte sie an eine weiterführende pädagogische Schule in Rufisque, die sie 1947 mit einem Abschluss als Lehrerin verließ. In den folgenden 12 Jahren widmete sie sich ihrem Beruf, beantragte dann aus gesundheitlichen Gründen ihre Versetzung in die regionale Schulbehörde.

    Von ihrem Ehemann, dem Abgeordneten des senegalesischen Parlamentes Obèye Diop geschieden, lebte sie als Mutter von neun Kindern. Nach der Trennung engagierte sich Mariama Bâ in zahlreichen Frauenvereinigungen und setzte sich mit einer Reihe von Reden und Artikeln in lokalen Zeitungen für Bildung und Frauenrechte ein.

    Ihr erster Roman Une si longue lettre (Ein so langer Brief) wurde bei seiner Erscheinung 1980 sogleich mit dem Noma-Preis für afrikanische Literatur ausgezeichnet.

    Im folgenden Jahr verstarb sie an Krebs, kurz vor der Veröffentlichung ihres zweiten Romans. Eine weiterführende Schule in Dakar (Maison d’éducation Mariama Bâ) ist nach ihr benannt.

    Ihre Romane beschäftigen sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen ihres Umfeldes und den daraus resultierenden Problemen, wie Polygamie, Kastensystem, Unterdrückung der Frauen - in ihrem ersten Roman – oder familiärer Widerstand und Kulturschock bei interkulturellen Ehen – in ihrem zweiten Roman.


    Taschenbuch: 141 Seiten
    Verlag: List Taschenbuch (1. November 2002)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3548602738
    ISBN-13: 978-3548602738

  • Das Buch läßt sich gut lesen (ich las es im französischen Original)

    Das Buch lässt sich auch in der deutschen Übersetzung gut lesen. Das liegt zum Einen an den 27 kurzen Kapiteln, zum Anderen an der Anrede in diesem Briefroman. Die vertrauensvolle Mitteilung an die langjährige Freundin macht es dem Leser leicht in die Erzählung einzutauchen. Sicherlich muss man bereits Interesse an der Thematik mitbringen: 35 Jahre alte senegalesische Literatur über Polygamie und Unterdrückung der Frau klingt nicht gerade nach einem Pageturner. Dennoch ist die Lektüre empfehlenswert, und auch der aktuelle Bezug scheint weiterhin gegeben... Mir gefiel vor allem, dass die Erzählung kein einseitiger Vorwurf und Lamentieren über untreue Männer ist, sondern die Thematik "Gleichberechtigung, Treue, Stellenwert der Frau in der Ehe" anhand verschiedener Verhaltensweisen dargestellt wird: Aissatou, die Freundin, verhält sich anders als die Erzählerin, die eine Tochter (Daba) heiratet einen Mann, der sie nicht als Dienerin oder Sklavin, sondern als gleichwertige Partnerin betrachtet, und Aissatou, die Tochter, scheint mit ihrem Liebhaber ebenfalls einen modern, bzw. westlich geprägten Mann gefunden zu haben. Insofern scheint für die Zukunft Hoffnung zu bestehen...
    Die deutsche Ausgabe des Ullstein-Verlags enthält zudem ein sechsseitiges Nachwort von Rolf Italiaander über den Senegal, den Islam und der Rolle der Frau; allerdings ist meine Ausgabe von 1996. Ich frage mich, ob und was sich seitdem geändert hat?

  • Für die Klassiker-Challenge habe ich endlich in die Tat umgesetzt, was ich mir vorher schon jahrelang vorgenommen hatte: ein Reread von diesem einzigen zu ihren Lebzeiten veröffentlichten Roman von Mariama Bâ zu machen. Beim Lesen habe ich mich dann (wie schon so oft bei Rereads) gefragt, warum um alles in der Welt ich damit so lange gewartet habe…

    Das schmale Werk ist eins der Bücher, bei denen ich mich noch genau an meine aufgewühlten Gedanken und Gefühle bei der Erstlektüre erinnern konnte, obwohl diese etwa fünfundzwanzig Jahre zurückliegt. Sie fiel in eine Zeit (und war auch kein Zufallsgriff), in der ich mich erstmals bewusst mit Rassismus auseinandergesetzt habe. Bâ verbindet in ihrem Briefroman, oder eher Romanbrief, die Emanzipation der jungen afrikanischen Nationen – eine philosophische und politische Haltung, die im frankophonen Westafrika mit dem damals progressiven und in den Übersetzungen heute teils problematischen Begriff „Négritude“ einherging – mit der Emanzipation der (muslimischen) westafrikanischen Frauen. Anhand verschiedener, aber eng miteinander verknüpfter Lebenswege von Frauen aus unterschiedlichen Generationen und sozialen Schichten zeigt sie, wie alte, frauenfeindliche Traditionen ganze Familien zerstören können, aber an anderen Stellen auch bröckeln oder gezielt in Frage gestellt werden – von Frauen und Männern.


    Dabei schafft Bâ es, dass ich eine emotionale Nähe zu vielen der beteiligten Figuren aufbauen konnte, auch wenn ich ihre Entscheidungen und Handlungsweisen nicht immer nachvollziehen oder gutheißen konnte. Wie schon beim ersten Lesen hat mich auch jetzt wieder verblüfft, wie komplex die Figuren und ihre Lebenswege bei den wenigen Seiten doch angelegt sind. Ich mag es, wenn Figuren so menschlich-ambivalent sein dürfen, mal sperrig, mal müde, mal überraschend, und oft voller Liebe, Verständnis und Großherzigkeit auch Personen gegenüber, die das auf den ersten Blick nicht „verdienen“.


    Meine persönliche Lebenssituation ist eine weitgehend andere, aber Bâs Blick auf die Menschen, die Gesellschaft und auf Leid und Glück im Leben haben mich beim Lesen oft innehalten und meine eigene Werteskala reflektieren lassen. Gleichzeitig habe ich mich wie Nungesser gefragt, was sich in den gut vierzig Jahren seit Erscheinen des Buches im Senegal bzw. grundsätzlich in der muslimischen Gesellschaft Westafrikas vielleicht verändert hat. Zu dieser Thematik werde ich sicher noch weiter lesen und recherchieren.


    Von mir 4,5 Sterne für ein kurzes, aber bewegendes Buch.

    :study: Han Kang - Griechischstunden

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :montag: Jane Austen - Stolz und Vorurteil (Reread)

    :montag: Sally Coulthard - Am Anfang war das Huhn





  • Ihre Romane beschäftigen sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen ihres Umfeldes und den daraus resultierenden Problemen, wie Polygamie, Kastensystem, Unterdrückung der Frauen - in ihrem ersten Roman – oder familiärer Widerstand und Kulturschock bei interkulturellen Ehen – in ihrem zweiten Roman.

    Diesen hatte ich vor langer Zeit ebenfalls gelesen, ohne dass er einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen hätte... Auch hier plane ich ein Reread und bin gespannt, ob und wie sich meine Wahrnehmungen evtl. verändern!

    :study: Han Kang - Griechischstunden

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :montag: Jane Austen - Stolz und Vorurteil (Reread)

    :montag: Sally Coulthard - Am Anfang war das Huhn





  • Vielen Dank für Deine Leseeindrücke Sarange !

    Das erinnert mich daran, dass „Der scharlachrote Gesang“ seit Jahren bei mir ungelesen herumliegt. Dann bin ich mal auf Deinen Reread gespannt :lol:

    Ausserdem hatte ich mir damals nach der Lektüre unten verlinkten Werk zugelegt, aber irgendwie die Literatur aus dem Senegal doch nicht weiter verfolgt. Ich bin gespannt auf Deine weiteren Recherchen und Eindrücke…

  • Ausserdem hatte ich mir damals nach der Lektüre unten verlinkten Werk zugelegt

    Über dieses Buch bin ich auch schon gestolpert, aber die Kritiken klingen recht durchwachsen...


    Ansonsten subt bei mir noch Ken Bugul, und Aminata Sow Fall wollte ich ebenfalls seit Jahren rereaden.


    Ich bin gespannt auf Deine weiteren Recherchen und Eindrücke…

    Durch diese Linkliste werde ich mich dieser Tage mal ein wenig klicken...

    https://taz.de/Senegal/!122173/


    Vielleicht lohnt es sich, die Bücher von Fatou Diome zu entdecken?

    https://www.afrikaroman.de/senegal-buecher/

    :study: Han Kang - Griechischstunden

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :montag: Jane Austen - Stolz und Vorurteil (Reread)

    :montag: Sally Coulthard - Am Anfang war das Huhn