Elisabeth Gifford - Das Haus der Gezeiten / Secrets of the Sea House

  • Kurzbeschreibung (Quelle: Verlagsseite)
    Nur das Meer kennt die Wahrheit.
    Das Leben auf der kleinen schottischen Insel Harris orientiert sich seit eh und je am Lauf der Gezeiten. Hier hofft Ruth, das Zuhause zu finden, das sie seit dem Selbstmord ihrer Mutter vermisst. Zusammen mit ihrem Mann will sie ein altes Cottage zu einem Bed & Breakfast umbauen. Doch bei den Arbeiten machen sie einen grausigen Fund: Säuglingsknochen. Wer war das Kind? Woran ist es gestorben?
    Können ihr die Aufzeichnungen eines jungen Pastors, der vor über hundert Jahren in dem Cottage lebte, den Schlüssel zu diesem Geheimnis liefern? Der Geistliche war einem alten schottischen Mythos auf der Spur, und was er damals herausfand, wirkt fort bis in die Gegenwart und auf Ruths eigene Familiengeschichte …


    Autorin (Quelle: Verlagsseite)
    Elisabeth Gifford ist in einem kleinen Pfarrhaus in den Midlands aufgewachsen. Sie hat französische Literatur, Religionswissenschaft und kreatives Schreiben studiert. Heute lebt sie in London und schreibt regelmäßig für die «Times» und den «Independent».


    Allgemeines
    Erscheinungstermin: 1.März 2014 bei rororo, Taschenbuch mit 416 Seiten
    Titel der Originalausgabe: Secrets of the Sea House
    Übersetzer: Sabine Längsfeld
    Prolog, zwei Hauptteile mit insgesamt 42 Kapiteln, Danksagung, Quellenverzeichnis
    Handlungsort und -zeit: Nordschottische Insel Harris, 1860-1879, 1992-1996
    Ich-Erzählung aus den wechselnden Perspektiven der drei Protagonisten


    Zum Inhalt
    1992: Die junge Eheleute Ruth und Michael haben auf der Insel Harris ein heruntergekommenes Häuschen, "Das Haus der Gezeiten", gekauft, das sie renovieren, um daraus eine Pension zu machen. Unter den Dielen eines Zimmers finden sie eine Kiste mit dem deformierten Skelett eines Säuglings. Untersuchungen ergeben, dass das Baby seit mehr als 100 Jahren dort vergraben gewesen sein muss.
    Damit ist der Fund kein Fall für polizeiliche Ermittlungen, dennoch lässt er Ruth keine Ruhe. Sie beschließt, in alten Kirchendokumenten und den Aufzeichnungen von Alexander Ferguson, der in den 1860er Jahren als Pastor im "Haus der Gezeiten" lebte, nach Hinweisen auf die Identität des Kindes zu suchen. Der rätselhafte Todesfall setzt Ruth sehr zu, sie ist ohnehin seelisch instabil, da sie immer noch die Dämonen ihrer schrecklichen Kindheit bekämpft. Ihre alleinerziehende depressive Mutter beging Selbstmord, als Ruth zehn Jahre alt war. Danach wurde das verstörte Kind von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht und kam schließlich in ein Mädchenheim, in dem sie unglücklich war. Als Ruth schwanger wird, kommen die unverarbeiteten Erinnerungen wieder in ihr hoch und sie zweifelt trotz ihrer Vorfreude auf ihr Kind, ob sie eine gute, ausgeglichene Mutter sein kann.
    Der Inhalt der Unterlagen des Pastors aus dem 19.Jahrhundert wird als zweiter Erzählstrang in die Gegenwartserzählung eingefügt. Alexander Ferguson bemüht sich von Herzen, ein guter und gottgefälliger Mann zu sein, findet aber angesichts des Unrechts, das er mit ansehen und bei dem er gezwungenermaßen "mitwirken" muss, nicht zum Glauben. Er wird Zeuge, wie die armen Fischerfamilien der Gegend vom wohlhabenden Grundbesitzer Lord Marstone aus ihren armseligen Katen vertrieben und nach Kanada geschickt werden - eine Seereise, die viele Menschen nicht überleben. Durch seine aufgeweckte Magd Moira, die einer solchen ausgebeuteten Familie entstammt, erlebt Ferguson die Probleme der einfachen Leute hautnah mit. Er flüchtet sich in seine Forschungen, denn er ist - inspiriert von den Lehren Darwins und den Mythen über die "Selkies" (Robbenmenschen) - besessen von der Idee, ein Bindeglied zwischen Robbe und Mensch zu finden. Während er sich mehr und mehr der Realität entzieht und seinem Hobby zwischen Mythen und Fakten nachgeht, führt die patente Moira ihm den Haushalt und fungiert immer wieder als sein Fels in der Brandung bei Kummer und Krankheit.


    Persönliche Beurteilung
    "Das Haus der Gezeiten" ist ein komplexer Roman, der dem Leser Konzentration abverlangt. Die Handlung ist auf zwei zeitlichen Ebenen, im 20. und im 19.Jahrhundert angelegt, wobei die geschilderten Vorgänge aus den Jahren 1860 bis 1879 als jeweils neue Erkenntnisse von Ruth in den Erzählstrang der Gegenwart übergehen. In der Gegenwart tritt Ruth als Ich-Erzählerin auf, in der Vergangenheit wechseln sich Pastor Ferguson und seine Magd Moira Gillies in dieser Rolle ab.
    Ruths Erzählungen sind mit Einschüben (Erinnerungen) an ihre unglückliche Kindheit gespickt, die dem Leser nach und nach Umstände enthüllen, die ihre psychischen Probleme begreiflich und nachvollziehbar machen. Bei der Ausgestaltung der Romanfiguren stehen die drei Protagonisten im Mittelpunkt, die anderen Personen haben eher eine Nebenrolle inne.
    Inhaltlich ist der Roman sehr vielseitig. Neben der Thematik von Ruths Problemen und ihren aufrichtigen Bemühungen, sich endlich mit ihrer bisher verdrängten Vergangenheit auseinanderzusetzen, steht die schottische Mythologie im Hinblick auf die "Selkies" im Mittelpunkt. Selkies sind Wesen, die Merkmale von Robben und Menschen in sich vereinigen, sie schwimmen in einer Robbenhaut durch das Meer, um dann als wunderschöne Meerjungfrauen oder attraktive Robbenmänner an Land zu gehen. In den Aufzeichnungen des Pastors sind interessante Märchen/Sagen um die Selkies enthalten.
    Außer der ungewöhnlichen mythologischen Thematik beleuchtet der Roman auch historische Aspekte, indem er das harte Leben der Fischer und deren menschenverachtende Behandlung durch die reiche Landbesitzerschicht drastisch präsentiert. Auch Freunde von Naturbeschreibungen kommen auf ihre Kosten: der Roman enthält reichlich Szenen, die die karge, unwirtliche und doch schöne Insellandschaft anschaulich darstellen.
    Der Erzählstil ist anschaulich und erlaubt es dem Leser, sich in die Hauptfiguren gut einzufühlen. Der zweite Hauptteil des Romans, der nur die letzten 30 (von 416) Seiten umfasst, hätte etwas ausführlicher sein können. Obwohl eigentlich keine Fragen ungeklärt bleiben, erscheint das Ende ein wenig abrupt.
    Im Anhang gibt es ein umfangreiches Quellenverzeichnis, das zahlreiche Bücher zur Geschichte der Hebriden auflistet.


    Fazit
    "Das Haus der Gezeiten" ist ein vielversprechender Debütroman, der sowohl Freunde sozialkritischer historischer Romane als auch Liebhaber mythologischer Themen und Freunde von Naturbeschreibungen zu fesseln vermag.
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • danke für die Rezi, €nigma… überrascht hat mich das hier:

    steht die schottische Mythologie im Hinblick auf die "Selkies" im Mittelpunkt

    .. denn ich hab eine Fantasy-Trilogie, in der u.a. ein Selkie vorkommt. Ich hatte das immer für die Phantasie der Autorin gehalten, nie gewusst, dass damit ein schottischer Mythos verarbeitet wurde :wink: wieder was gelernt :D

  • .. denn ich hab eine Fantasy-Trilogie, in der u.a. ein Selkie vorkommt.

    Ich lese überhaupt keine Fantasy Bücher, deshalb war mir der Selkie ganz unbekannt. :wink:

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Ruth und Michael haben ein altes Haus auf der kleinen schottischen Hebrideninsel Harris gekauft, renovieren es in mühevoller Kleinarbeit und freuen sich auf ein idyllisches Zuhause und die Frühstückspension, die sie eröffnen wollen. Doch die Arbeiten fördern einen grausigen Fund zutage: unter dem Haus liegt die skelettierte Leiche eines Babys begraben.


    Ruth, die selbst keine glückliche Kindheit hatte, ohne Vater aufwuchs und ihre Mutter früh verlor, als diese im Meer ertrank, ist zutiefst erschüttert und verspürt ein großes Bedürfnis, die Geschichte dieses Kindes zu ergründen.


    Hundertfünfzig Jahre zuvor lebte der Pfarrer Alexander Ferguson in dem Haus am Meer, ein junger Mann, der bei seinen Schäflein beliebt war und eine Schwäche für die alten Mythen und Sagen der Gegend hatte, die sich häufig um Meeresmenschen ranken (angeblich wurde auf einer Nachbarinsel sogar eine Meerjungfrau gesichtet).


    Seine Aufzeichnungen sind es, die Ruth bei ihren Nachforschungen in die Hände fallen und schließlich zur Aufklärung des Geheimnisses beitragen. Doch bis dahin dauert es einige Zeit, in der sich Ruth auch den "Geistern" aus ihrer eigenen Vergangenheit stellen muss, die sie immer wieder einholen.
    Die rauhe Landschaft der Hebriden ist wie gemacht für eine mysteriöse Spurensuche und für die Legenden um die Menschen aus dem Meer, die heute noch faszinieren. Diese karge, windgepeitschte Inselgruppe wird vor dem inneren Auge durch Elisabeth Giffords Schilderungen richtiggehend lebendig, und auch die Menschen, die dort wohnen, sind irgendwie besonders, an ein einfaches Leben gewöhnt, eng mit dem Meer verbunden, das gleichermaßen Lebensgrundlage wie Lebensgefahr für sie bedeutet.


    Der Ansatz, Bücher um Geheimnisse aus der Vergangenheit auf zwei Zeitebenen zu erzählen, bewährt sich auch hier, so dass wir uns der Lösung des Rätsels sozusagen von zwei Seiten her nähern. Dabei begleiten wir die Protagonisten in Vergangenheit und Gegenwart auch durch einige tiefe persönliche Krisen. Ruth kämpft mit Depressionen und Ängsten, und Alexanders weitgehend sorgenfreies Leben wird durch ein einschneidendes Erlebnis stark erschüttert.


    Das Buch hat eigentlich alles, was das Genre erfordert, und liest sich auch spannend und unterhaltsam; die Figuren wirken teilweise allerdings ein wenig stereotyp. Ich glaube, mir hätte es besser gefallen, wenn Ruth nicht noch selbst so viele Probleme gehabt hätte. Ihre psychische Labilität und die Gründe dafür kamen mir stellenweise etwas überzeichnet vor.


    Trotzdem nette Lektüre, vor allem für Meeresmythen- und Schottlandfans.

  • Ein richtiges Wohlfühlbuch. Ich mag Bücher, die auf verschiedenen Zeitebenen spielen wie dieses. Sowohl in der Gegenwart von Ruth, die nach Informationen zu ihrer Herkunft auf der Spur ist, als auch in der Vergangenheit geht es spannend zu und man möchte wissen, wo es hinführt.
    Man hat die teils karge Landschaft der Inseln vor Augen und das Leben der Menschen.
    Die Autorin benutzt des öfteren Beschreibungen, die ich irgendwie komisch finde. Als würde sie ewig sitzen und überlegen, was jetzt besonders ausgefallen klingen würde. Jetzt konnte ich die besten Beispiele nicht mehr finden, aber so in der Art wie diese hier: "...und ihr Gesicht war so frisch wie neue Seife..." oder "...war die See zu meiner Rechten enzianblau und lag da wie ein ausgerollter Ballen Seidenstoff...".
    Die Sagen von den Selkie und Robbenmännern fand ich auch sehr schön.