Fjodor Dostojewskij - Der Idiot

  • Es ist ungefähr 15 Jahre her, daß ich „Der Idiot“ von Dostojewskij das erste Mal gelesen habe. Undeutlich erinnerte ich mich daran, daß ich seinerzeit mit den langen russischen Namen ( die für mich alle irgendwie ähnlich klangen ), ihren unterschiedlichen Kurz- und Koseformen ein wenig durcheinandergekommen bin, daß ich deshalb die Beziehungen der Personen untereinander nur in Teilen verstanden, größere Abschnitte nur überflogen und letztlich nicht wirklich verstanden habe, worum es in dem Roman geht, was es mit Fürst Lew Myschkin, dem titelgebenden Idioten auf sich hat. Nun, viele Jahre später, und nachdem ich zwischenzeitlich mein lesendes Herz an Tolstoi verloren habe, wollte ich einen Neuanlauf wagen und sehen, was mir der zweite der beiden großen russischen Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert an Leseerlebnissen geben könne und wie das Buch heute auf mich wirke.


    Zunächst: Das Dilemma mit den russischen Namen ist das alte geblieben. Ob Semjon Parfjonowitsch, Nikolai Andrejewitsch, Nastassja Filippowna oder Nina Alexandrowna - nach Einführung der 20. Person fiel es mir zunehmend schwerer, die Übersicht nicht zu verlieren, zu ähnlich klingen diese russischen Buchstaben-Aneinanderreihungen für meine mitteleuropäischen Ohren. Allerdings ist meiner Ausgabe ein erschöpfendes Namensregister angehängt und nach fleißigem und wiederholt vollzogenem Vorblättern zu diesem Register saßen die Namen und die familiären Zugehörigkeiten der Personen irgendwann. Vor allem gelang es mir, diesen Namen dann die von Dostojewskij zugeordneten Charaktaristika der jeweiligen Personen intuitiv zuzuordnen und in meinem Kopf ein Bild zu formen, sie vor mir zu sehen.


    Hat man diese Hürde überwunden, erschließt sich dem Leser ein Breitwandporträt der adeligen russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts: Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin kehrt nach einem mehrjährigen Aufenthalt in einem Schweizer Sanatorium, in dem er wegen seiner Epilepsie behandelt wurde, zurück nach St. Petersburg. Dort angekommen, wird Myschkin von der Familie Jepantschin, mit deren Hausherrin ihn eine entfernte Verwandtschaft verbindet, aufgenommen und umgehend in die Gesellschaft eingeführt. Innerhalb weniger Tage trifft er auf Aglaja Jepantschina, die schöne und vor allem unverheiratete Tochter des alten Generals Jepantschin, auf Rogoschin, einen zwielichtigen, zu Trunksucht und Gewalt neigenden jungen Mann; und er trifft auf Nastassja Filippowna, jene Femme Fatale der St. Petersburger Gesellschaft, die einerseits aufgrund ihrer Schönheit, ihres Vermögens und ihrer Bildung gerühmt und bewundert wird, die andererseits aber aufgrund ihrer Unabhängigkeit, ihres exzentrischen und eigenwilligen Wesens und ihrer selbstzerstörerischen Neigung, gesellschaftliche Konventionen mit Füßen zu treten, gefürchtet und verachtet wird.


    Myschkin ist die Verkörperung aller wahrhaft menschlichen Tugenden in reinster Form: ihn leiten weder Eitelkeit noch Geltungsbedürfnis, sein Handeln und Tun ist weder Berechnung noch Verstellung, im Gegenteil: Sein Wesen ist von Ehrlichkeit, Gutmütigkeit und Emphatie geprägt und seinen Mitmenschen begegnet er mit Sanftheit, Offenheit und Liebe. Fast erscheint er deshalb wie ein Heiliger, wie ein Christus des 19. Jahrhunderts. Im Kontrast hierzu steht die geschilderte Gesellschaft, in welche Myschkin eintritt. Die in ihr handelnden Personen sind gekennzeichnet durch Verstellung, Intrigen, das Hervorheben und Zurschaustellen falscher Äußerlichkeiten und ein schier grenzenloses Streben nach Profilierung und gesellschaftlicher Geltung.


    Ein um das andere Mal gerät Myschkin im Wirrwarr dieser Fallstricke ins Straucheln: Er verplaudert sich, plappert ihm anvertraute Geheimnisse aus, befremdet Andere mit der Offenheit seiner Sprache, der entblößenden Darlegung seiner Gefühle, sagt wahrheitsgemäß seine Meinung bei Gelegenheiten, zu denen er besser geschwiegen hätte und ergreift vehement Partei für Menschen, über die das gesellschaftliche Todesurteil längst gefällt wurde. So verkehren sich seine eigentlich besten Charaktereigenschaften aus dem Blickwinkel einer auf Täuschung und Schauspiel ausgerichteten Gesellschaft in etwas Negatives: Aus Offenheit und Zutrauen werden Leichtgläubigkeit, aus Freundlichkeit wird Naivität, aus dem Guten Menschen Myschkin wird der titelgebende Idiot.


    Myschkin zeigt sich den Intrigen und Beeinflussungen seiner Mitmenschen nicht gewachsen. Er wird, je nach Interessenlage und Nutzen, mal vor diesen, mal vor jenen Karren gespannt. Zwar erkennt und bewundert ein Jeder seine reine Seele, seine Unfähigkeit zur Verstellung und seine kindliche Unschuld, dennoch weiß niemand sich an ihm ein Beispiel zu nehmen und sich im entscheidenden Moment moralisch und ehrenwert zu verhalten und damit aus dem gesellschaftlichen Diktat der Zurschaustellung auszubrechen.


    Aus Mitleid entwickelt Fürst Myschkin leidenschaftliche Gefühle für Nastassja Filippowna, jene „gefallene Frau“, in der er eine Seelenverwandte entdeckt zu haben glaubt. Doch diese, unschlüssig in ihrer Zuneigung, standfest allein in ihrem Bestreben, sämtliche Konventionen und gesellschaftlichen Rituale verächtlich zu negieren, gibt dem Fürsten in letzter Minute einen Korb und flieht vor dem Traualtar, Hand in Hand mit Rogoschin, jenem dunklen, fast diabolischen Gegenspieler Myschkins. Auch mit Aglaja Jepantschina, zu der Myschkin von Außenstehenden aus gesellschaftlichem Kalkül solange eine Liebesbeziehung eingeredet wird, bis dieser selbst daran glaubt, verscherzt er es sich, als er sich, hin- und hergerissen zwischen den beiden Frauen, weder für die eine, noch für die andere entscheiden kann.


    Es kommt, wie es kommen muß: Myschkin scheitert am Ende an seinem untadeligen Charakter, welcher es ihm unmöglich macht, die Verstellungen und Verrenkungen einer pervertierten Gesellschaft mitzumachen und wird deshalb, nach einem weiteren epileptischen Anfall, auch physisch erneut zum Idioten.


    Dostojewskij schildert dies vor dem Hintergrund einer sich verändernden russischen Gesellschaft. Der alten Klassenstände überdrüssig, entledigt sich das russische Volk seiner traditionellen Vorbilder und überkommenen Werte. Gläubigkeit, Obrigkeitshörigkeit, Gehorsam und Gefügigkeit geraten in den Hintergrund, ohne daß neue Wertmaßstäbe sie gleichwertig ersetzen könnten. Nihilistische, anarchistische und beginnende sozialistische Denkweisen treten, vor allem bei jüngeren Menschen, an deren Stelle. Doch ist dies, bei allem Respekt vor der Leistung der bildlichen und umfassenden Darstellung eines gesellschaftlichen Umbruchs, für den heutigen Leser eher nebensächlich.
    Erstaunen muß vielmehr, wie Dostojeswkij seine Figuren entwickelt und ihnen ein psychologisches Tiefenprofil gibt, welches nur bewundert werden kann. Bis ins Detail ist jede Verstimmung, jede Verzweiflung, jedes Aufbegehren und jede Euphorie im Handeln eines Myschkin, eines Rogoschin oder einer Nastassja Filippowna nachzuvollziehen, so unterschiedlich die individuellen Beweggründe auch sein mögen. Daß dabei auch Längen entstehen, wenn Dostojewskij auf vielen, vielen Seiten eine entscheidende Szene oder eine emotionale Entwicklung in einer der Personen vorbereitet, schmälert das Lesevergnügen zwar manchmal ein wenig, aber nicht erheblich.


    Mein Fazit: Im direkten Vergleich zu Tolstoi fällt „Der Idiot“ ein wenig ab, denn er ist etwas handlungsärmer und in einigen Passagen etwas zu langatmig. Dennoch gibt es immer wieder Szenen oder Handlungsstränge, in denen das ganze Genie dieses Schriftstellers aufblitzt und demonstriert wird, was große Literatur darzustellen imstande ist. Mit Sicherheit wird dies nicht mein letzter Dostojewskij gewesen sein, im Gegenteil: mit „Böse Geister“ steht der nächste schon im Buchregal.

  • Ich habe zwar schon den "Bedanken"- Knopf gedrückt, doch as sei auch ausdrücklich gesagt: Ich habe selten in solcher Kürze eine bessere Einführung in die Welt des "Idioten" gelesen. Ganz ausgezeichnet, bravo :thumleft: ! Ich wünschte meinem Lieblingsschriftsteller mehr heutige Leser, denn in so vielen Dingen ist er dermaßen aktueller als unsere kleinen Verständnisschwierigkeiten verbergen mögen.


    Was den Vergleich zu Tolstoi anbetrifft wird man oft vor Alternativen gestellt, oder der zu treffenden Wahl: ja, wen ziehst Du denn vor? Ich finde diese Frage irreführend, denn meines Erachtens haben diese Genies verschiedene Ansätze und Schwerpunkte. Okay, ich habe das nicht studiert, aber ich würde aus dem Bauch mal sagen, dass Tolstoi eher der große Erzähler ist, den ich in den besten seiner Werke mit "Weite, Ausgeladenheit" etc verbinde.
    Dostojewskij ist wohl mehr und insbesonders an den Verästelungen und Wegen der menschlichen Seele interessiert, zeigt sich uns als Seelenkenner.


    Insofern: ich finde beide Ansätze interessant und wunderbar.


    Wie Du es anbei erwähnst sprechen viele Kommentatoren von Myschkin als einer "Christusgestalt". Ähnliches versuchten in der Folge andere Schriftsteller, und meine Nase sagt mir: es Dostojewskij gleichtun wollend. Eine herrliche Fassung (natürlich eine "andere" Geschichte!) stammt vom Japaner, Susako Endo und seinem "Der wunderbare Träumer". Nach anderen Übersetzungen, zB im Englischen "A wonderful fool" schließe ich, dass der Originaltitel dort ebenfals von einem "Idioten", einem Narren, spricht...