Alice Munro - Tanz der seligen Geister/Dance of the Happy Shades

  • Zum Inhalt:
    15 Kurzgeschichten, die in ihrer Mehrzahl unterschiedliche Nuancen des Phänomens gesellschaftlicher Unterschiede behandeln: Entstehung und Wahrnehmung sozialer Unterschiede, sowie damit verbundene mehr oder weniger sublime Demütigungen und die entsprechende gesellschaftliche Ausgrenzung. Beispiele hierfür sind die Kurzgeschichten „Der Walker Brothers-Cowboy“, „Die leuchtenden Häuser“, „ Bilder“, „Danke für die Schlittenfahrt“, „Ein Gläschen Medizin“, „Die Zeit des Todes“, „Tag des Schmetterlings“, „Postkarte“, „Sonntagnachmittag“ und „Tanz der seligen Geister“.
    Andere Erzählungen wiederum beleuchten Probleme, die entstehen können, wenn sich Jugendliche mit den an sie gestellten gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert sehen, z.B. in „Jungen und Mädchen“ oder „Rotes Kleid – 1946“.
    Was der Wegfall bzw. die Befreiung aus gesellschaftlichen oder persönlichen Erwartungen bedeuten kann, davon schreibt Alice Munro in „Ein Ausflug an die Küste“ und in „Der Friede von Utrecht“.


    Meine Meinung:
    Ich würde zuvor genannte Kurzgeschichten als gut bis sehr gut bewerten, wenn auch in einigen die unterschwellige Aussage der einzelnen Erzählungen in den jeweils letzten Sätzen recht plakativ oder zumindest für meinen Geschmack zu explizit ausgeschrieben ist, ganz deutlich der Fall z.B. in „Die leuchtenden Häuser“. Das wirkt auf mich schriftstellerisch ein bisschen ungeschickt, mag aber der Tatsache zuzuschreiben sein, dass Tanz der seligen Geister 1968 als Alice Munros allerersteKurzgeschichtensammlung herausgegeben wurde.
    Eine Geschichte, nämlich "Büro" , empfand ich sogar als ziemlich schlecht, da die Ich-Erzählerin irgendwelche Rechte auf (mir definitiv zu banalen) Aspekten weiblicher Gleichberechtigung ausüben will, sich dann aber durch das Verhalten eines dümmlichen Mannes, der sich ständig in alles einmischt, in der Ausübung ihrer Rechte gehindert sieht. Meiner Meinung jedoch lag das Scheitern nicht an dem unsympathischen Mann, sondern an der Unfähigkeit der Protagonistin, den für sich beanspruchten Rechten auch den nötigen Nachdruck zu verleihen. Au diesem Grund empfand ich "Büro" eher als peinlich statt gut.


    Dennoch sind die vierzehn restlichen in Tanz der seligen Geister dargestellten gesellschaftlichen Ausschnitte sehr angenehm und unterhaltend zu lesen, was unter Berücksichtigung der Aussagekraft in den Geschichten sicherlich auf ein erkennbares schriftstellerisches Potential schließen lässt. Deshalb habe ich mir vorgenommen, zu gegebener Zeit einen weiteren von Munros Bänden aus späteren Jahrzehnten zu lesen.



    Zur Autorin (Quelle wikipedia): Alice Munro (geborene Alice Ann Laidlaw)wurde am 10. Juli 1931 in Wingham, Ontario geboren und ist eine kanadische Schriftstellerin, deren Werk mehr als 150 Kurzgeschichten umfasst, von denen u.a. im Jahr 1994 Mütter und Töchter (Lives of girls and women) und 2006 An ihrer Seite (Away From Her) – basierend auf der Kurzgeschichte „The Bear Came Over the Mountain“ verfilmt wurden. Der wichtigste ihr zuerkannte Preis besteht eindeutig im diesjährigen Literaturnobelpreis.


    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

    2 Mal editiert, zuletzt von Hypocritia ()

  • Das Original trägt den Titel Dance of the Happy Shades


    (Bitte nicht davon irritieren lassen, dass beim Aufrufen der entsprechenden amazon-Seite das Buch fälschlicherweise als "Roman in französischer Sprache" angegeben ist.)

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • Inhalt

    Alice Munros Geschichten wirken nur auf den ersten Blick wie Familien-Anekdoten, denen Kinder schon immer begierig lauschten. Geschichten, die nur selbst erlebt sein können und später von Generation zu Generation weitergegeben werden, ohne ihre zeitlose Gültigkeit dabei zu verlieren. Sie zeigen die Welt aus der Sicht von Frauen, deren Platz vor schätzungsweise 60 Jahren noch fest vorgeschrieben war. Mit dem Vorbild der Mutter, die sich auf einer Farm oder in einem Laden abrackert, können Mädchen sich entweder zum Tanz auffordern lassen und der Rolle der Mutter nacheifern oder eine alte Jungfer werden wie die Klavierlehrerin Miss Marsalles, deren alljährliches Sommerfest für ihre Schülerinnen dem Erzählband Munros den Titel gab. Verbunden sind die Geschichten zum Teil durch die Erzählperspektive von Mädchen an der Grenze zur Pubertät, das sinnlichen Erfahren heißer Sommertage und durch die Suche der Figuren nach einem eigenen Platz in der Welt der kanadischen Provinz. Die Farmen sind hier so farblos, dass sie ungeeignet sind, um auch nur Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst zu spielen, stellt die altkluge Erzählerin der ersten Geschichte fest, die die knappe Zeit genießt, die der Vater ohne den jüngeren Bruder mit ihr als der Älteren verbringt. In der Welt von Munros Figuren sprangen unverheiratete Cousinen noch tatkräftig ein, wenn Kranke zu pflegen waren. Die Pflege der an Parkinson erkrankten Mutter kann jedoch auch die latente Eifersucht zwischen zwei Schwestern zum Ausbruch bringen, von denen eine als maximal denkbaren Ausbruch wagte, ihren Heimatort zu verlassen und mit ihrer Familie in einer anderen Stadt zu leben. (Der Friede)


    In "Ausflug" stellt das Leben der Großmutter der jungen Erzählerin May die vorgegebene Rollenverteilung infrage. Die steinalte Oma, bei der das Mädchen lebt, betreibt einen Laden undverkündet stolz, dass sie weder krank war noch die Sorge anderer für sich in Anspruch genommen hat. Von Vätern, Ehemännern oder Söhnen ist in ihrem Lebensentwurf keine Rede. May kommt gerade in die Pubertät und soll in diesem Sommer nicht mehr mit den Jungen gemeinsam im Fluss baden.

    --Textauszug

    "Während sie rechnete, meinte sie, ein Geräusch zu hören, als sei jemand auf dem Hof; ein wunderbares Unterfangen erfasste ihren Körper von den Fußsohlen her, so dass sie die Zehen krümmte und die Beine ausstreckte, bis sie das Ende der Couch erreichten. Ihr ganzer Körper fühlte sich an, wie sich ihr Kopf anfühlte, kurz bevor sie niesen musste. Sie stand so leise wie nur möglich auf und ging behutsam über die kahlen Bretter des Hinterzimmers, die unter ihren Füßen sandig federten, zum rauhen Küchenlinoleum. Sie hatte ein Baumwollnachthemd von Hazel an, das weich und geisterhaft um sie wallte." (S. 297/298)


    "Jungen und Mädchen" ragt für mich durch Munros Beobachtungsgabe für feine Zwischentöne aus ihren fein komponierten Erzählungen noch heraus. Die Icherzählerin denkt sich gern Geschichten von sich selbst als furchtloser Heldin aus. Sie lebt mit den Eltern und ihrem jüngeren Bruder auf einer Farm; der Vater züchtet Füchse, um die Pelze zu verkaufen. Mit dem Wissen, dass die Mutter die Gerüche beim Abpelzen der Füchse abstoßend findet, sucht dieses Exempel einer Vatertochter ihren Platz in der Familie bei der Farmarbeit. Die Arbeit außerhalb des Hauses erscheint ihr bedeutender als die Arbeit der Mutter. Obwohl das Mädchen den Haushalt hasst, wird ihre Arbeit auf der Farm mit dem Tag beendet sein, wenn ihr jüngerer Bruder Laird alt genug ist, um mit dem Vater zu arbeiten. Es genügt nicht fleißig und zuverlässig zu sein, ein Mädchen muss so werden, wie die Mutter es erwartet, vermittelt die Entthronung durch den Bruder.


    Auch in "Rotes Kleid" muss sich eine Tochter mit den Erwartungen der Mutter auseinandersetzen, die sich in dem sozialen Druck äußert, einen ansehnlichen Tanzpartner auf sich aufmerksam zu machen.

    -- Textauszug

    "Aber als ich die wartende Küche sah und meine Mutter in ihrem ausgeblichenen, fusseligen Paisley-Morgenrock mit ihrem müden, aber hartnäckig erwartungsvollen Gesicht, da verstand ich welch eine geheimnisvolle und bedrückende Pflicht ich hatte, glücklich zu sein, und dass ich bei dem Versuch, diese Pflicht zu erfüllen, beinahe gescheitert wäre und wahrscheinlich jedes Mal scheitern würde, ohne dass meine Mutter es ahnte." (S. 275).


    Fazit

    Mit dem Wissen aus Munros biografischen Erzählungen "Wozu wollen Sie das wissen?" lassen sich in ihrem ersten ins Deutsche übertragenen Kurzgeschichtenband (das englische Original erschien zuerst 1968) eine Reihe von biografischen Bezügen entdecken, die Munros Geschichten aus dem Leben durchschnittlicher Personen in einem eigenen Licht erscheinen lassen.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Toibin - Long Island

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow