Christoph Ransmayr – Atlas eines ängstlichen Mannes

  • Original : Deutsch, 2012


    INHALT :
    Ein großer erzählter Weltatlas. Der ›Atlas eines ängstlichen Mannes‹ ist eine einzigartige, in siebzig Episoden durch Kontinente, Zeiten und Seelenlandschaften führende Erzählung. »Ich sah…«, so beginnt der Erzähler nach kurzen Atempausen immer wieder und führt sein Publikum an die fernsten und nächsten Orte dieser Erde: In den Schatten der Vulkane Javas, ins hocharktische Packeis, an die Stromschnellen von Mekong und Donau und über die Paßhöhen des Himalaya bis zu den entzauberten Inseln der Südsee. Wie Landkarten fügen sich dabei Episode um Episode zu einem Weltbuch, das in atemberaubenden Bildern Leben und Sterben, Glück und Schicksal der Menschen kartographiert. (Klappentext)


    BEMERKUNGEN :
    Schon nach einigen dieser meist nur fünf- bis siebenseitigen Episoden hatte ich den Eindruck, vor einem Meisterwerk und einem beeindruckenden Autor zu stehen. Jede Episode spielt an einem anderen Weltenort und mag sogar auf den ersten Blick ein wenig strunzend wirkend, als ob der Autor uns zeigen will, wo er denn nun überall war. Doch es handelt sich letztlich in rster Linie nicht um exotische Reiseschilderungen, sondern oft um einen ersten Eindruck, eine Begebenheit, die etwas in Gang setzt.


    So fangen alle Episoden mit einem « Ich sah... » an. Da könnte man schon einiges dran weiterspinnen ! Es geht nicht nur darum, « etwas oberflächlich zu sehen », dass sich Geschichten quasi ohne unser Mittun ereignen ; es geht auch um ein Offensein, ein sich Fragen, eine Sensibilität, die diese Dinge wahrnimmt in ihren möglichen Anfragen, Implikationen, Inhalten...


    So ist Ransmayr ein aufmerksamer Reisender und neben dem Unterwegssein und seiner Mobilität wohl auch in gewisser Weise ein betrachtender, innehaltender Mensch. Seine Geschichten (wenn man es denn so nennnen will) haben sehr oft etwas Schwermütiges, etwas vom langsamen Untergang und Erlöschen von Welten, einem Tod, einer Vergänglichkeit, einer Bedrohung in sich. Gleichzeitig merkt man den Wunsch, diese gefährdeten Welten wie festhalten zu wollen. Der Ton wird dabei niemals morbide, sondern mündet wie in die Einladung, in einem ehrfurchtsvollen Dialog mit der Natur zu stehen. Oft runden Gesten großer Zartheit und Würde die Episoden ab.


    In dieser Thematik und teils in der Vorgehensweise fühlte ich mich sehr schnell an den großen Autor W.G.Sebald erinnert (es gilt nicht so sehr sprachlich, stilistisch), von dem ich hier im BT schon etliche Bücher kommentiert habe ! Und ich wurde darin bei schnellem Googeln bestätigt als ich zB bei einer Produktbeschreibung folgende Studie entdeckte, die ich interessehalber zitiere :


    Both W. G. Sebald (1944-2001) and the Austrian author Christoph Ransmayr (1954-) were born too late to know directly the violence of the Second World War and the Holocaust, but these traumatic events are a persistent presence in their work. In a series of close readings of key prose texts, Dora Osborne examines the different ways in which the traces of a traumatic past mark their narratives. By focusing on the authors' use of visual and topographical tropes, she shows how blind spots and inhospitable places configure signs of past violence, but, ultimately, resist our understanding. Whilst links between the two authors are well-documented, this book offers the first full-length study of Sebald and Ransmayr and their complicated relation to the traumatic traces of National Socialism. Dora Osborne is Lecturer in German at the University of Nottingham.
    Siehe auch : http://www.amazon.de/Traces-Tr…&keywords=ransmayr+sebald


    Interessanter Artikel auch hier :
    http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/2017030/


    Eine wunderbare Entdeckung, die zu weiteren Lektüren führen könnte ! Und :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: !


    AUTOR :
    Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und wuchs in Roitham (Nähe von Gmunden am Traunsee) als Sohn eines Lehrers auf. Er studierte von 1972 bis 1978 Philosophie und Ethnologie in Wien und arbeitete danach als Kulturredakteur und Autor für verschiedene Zeitschriften („Extrablatt“, „Geo“, „Transatlantik“, „Merian“). Seit 1982 ist er freier Schriftsteller. Nach dem Erscheinen des Romans « Die letzte Welt » unternahm er ausgedehnte Reisen nach Asien sowie Nord- und Südamerika.

    Ransmayr verbindet in seiner Prosa historische Tatsachen mit Fiktionen.


    Für seine Bücher, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Premio Mondello und, gemeinsam mit Salman Rushdie, den Prix Aristeion der Europäischen Union. (Angaben zum Autor, Klappentext ; http://de.wikipedia.org/wiki/Ransmayr )


    Siehe auch die Webseite des Autors : http://www.ransmayr.eu/leben/


    Gebundene Ausgabe: 464 Seiten
    Verlag: S. FISCHER; Auflage: 6 (23. Oktober 2012)
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3100629515
    ISBN-13: 978-3100629517


    Existiert auch als Hörbuch und e-book.

  • Christoph Ransmayr ist ein beeindruckender Autor! Ich durfte schon zwei Lesungen von ihm erleben - einmal, als er aus "Atlas eines ängstlichen Mannes" gelesen hat und wieder war ich von seiner Persönlichkeit und Ausstrahlung restlos begeistert. Ganz sicher täuscht der erste Eindruck, dass er uns unter die Nase reiben will, wo er schon überall war (und "haha, ihr nicht!"), denn ich schätze ihn als eher bescheiden und zurückhaltend ein.


    Dieses Buch habe ich zum Geburtstag im Februar bekommen, aber (keine Ahnung, warum!) noch nicht gelesen. Bestimmt werde ich das bald nachholen.


    Vielen Dank für die tolle Buchvorstellung!!!

  • Jede Episode spielt an einem anderen Weltenort und mag sogar auf den ersten Blick ein wenig strunzend wirkend, als ob der Autor uns zeigen will, wo er denn nun überall war. Doch es handelt sich letztlich in rster Linie nicht um exotische Reiseschilderungen, sondern oft um einen ersten Eindruck, eine Begebenheit, die etwas in Gang setzt.


    Seine Geschichten (wenn man es denn so nennnen will) haben sehr oft etwas Schwermütiges, etwas vom langsamen Untergang und Erlöschen von Welten, einem Tod, einer Vergänglichkeit, einer Bedrohung in sich. Gleichzeitig merkt man den Wunsch, diese gefährdeten Welten wie festhalten zu wollen.

    :thumleft:
    Damit bin ich schon vom Buch überzeugt, es steht bereits seit Monaten auf meiner WL. Das klingt eigentlich ganz gut, wenn der Autor anfangs ein bisschen irritierend wirkt, das macht das Lesen ein bisschen emotionaler.


    Gelesen habe ich vor Jahren Die letzte Welt, und habe mich an einem Tag regelrecht durch das Buch hindurchgefressen, ich fand das Buch eigentümlich packend, obwohl ich nicht alles verstand, was ich las. Mit dem Verständnis habe ich mich erst hinterher befasst. Das Buch hat mich damals ganz schön beeindruckt.

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • Nach solch einer Autorenentdeckung ist man schnell dabei, etwas seinem Sub hinzuzufügren und sucht Vorschläge für ein weiteres Buch. Danke für Deinen Tip! Auch die angeschriebene, gefragte Susannah gab mir Ideen...


    Übrigens braucht man (sollte man) nicht die Episoden so einfach hintereinander weglesen: Ich lese/las das Buch über einen längeren Zeitraum, mal eine Kurzgeschichte in der Mittagspause, mal eine am Abend etc.


    Der Eindruck, dass der Autor eventuell strunzen könnte mit all seinen Weltreisen ist sicherlich - wie Susannah bestätigte - ein oberflächlicher erster Eindruck, der durch die einfache und beeindruckende Persönlichkeit Ransmayrs widerlegt wird.


    Von mir eine ausdrückliche Empfehlung!

  • Ich hole den Thread einfach mal aus der Versenkung...
    Noch lese ich an dem Buch, hätte nicht gedacht, dass ich so lange brauche - aber tom leo hat recht mit:

    Zitat

    Übrigens braucht man (sollte man) nicht die Episoden so einfach
    hintereinander weglesen: Ich lese/las das Buch über einen längeren
    Zeitraum, mal eine Kurzgeschichte in der Mittagspause, mal eine am Abend
    etc.

    Eigentlich umso besser - so hat man länger vom Buch und seinem Inhalt. :wink: Auch wird der Leser durch das langsame Lesen "gezwungen", innehalten und die Episoden auf sich wirken zu lassen.
    Ich jedenfalls halte mich daran, lese ab und an eine Episode und genieße diese - ich denke, dass ich mich mit 5 Sternchen anschließen kann (bald habe ich es ja auch "geschafft")


    Das Wort "ängstlich" im Titel hat mich anfangs irritiert, lässt sich aber sicher so erklären, wie tom leo schreibt:

    Zitat

    So ist Ransmayr ein aufmerksamer Reisender und neben dem Unterwegssein
    und seiner Mobilität wohl auch in gewisser Weise ein betrachtender,
    innehaltender Mensch.

    Aber auch in diesem link heißt es:

    Zitat

    "Doch warum nennt sich der Erzähler einen "ängstlichen Mann"? Gemeint ist einer, der sich vorsichtig und umsichtig durch die Welt bewegt. Der ängstliche Mann rechne mit allem, gehe aber, wenn auch manchmal bange und zweifelnd, seiner Wege, sagt Ransmayr in einem Interview. Er selbst hat es sein Reiseleben lang genau so gehalten."

  • Freut mich ungemein, dass Dir das Buch ebenso gut gefällt! Für mich einer der TOP Ten des Jahres (wahrscheinlich).


    Zu Deiner Anfrage nach dem Warum des Titels "ängstlicher Mann", h¨tte ich den von Dir beim Zitat angefangenen Absatz noch erweitert (siehe Fettgedrucktes):



    So ist Ransmayr ein aufmerksamer Reisender und neben dem Unterwegssein und seiner Mobilität wohl auch in gewisser Weise ein betrachtender, innehaltender Mensch. Seine Geschichten (wenn man es denn so nennnen will) haben sehr oft etwas Schwermütiges, etwas vom langsamen Untergang und Erlöschen von Welten, einem Tod, einer Vergänglichkeit, einer Bedrohung in sich. Gleichzeitig merkt man den Wunsch, diese gefährdeten Welten wie festhalten zu wollen.


    Ich verspürte oft zwischen den Zeilen eine Sensibilität, wie sie jemand hat, der seine Augen nicht verschließt für die Verfallsmomente mitten in diesem Leben, der in gewisser Hinsicht um seine und der Natur Zerbrechlichkeit, Bedrohung weiß, selbst mitten in beschriebenen Paradiesen.


    Noch gute Lesemomente wünsche ich Dir bis zur letzten Seite!

  • Durch Zufall bin ich auf diesen Thread gestoßen und freue mich zu lesen, dass es Euch beim Lesen so ähnlich geht/ging wie mir.


    Das Buch liegt bei mir immer in Sicht- bzw. Griffweite, sodass ich in kurzen Pausen des Alltags kleine Ausflüge in die kleinen Geschichten des Lebens, die Ramsmayr uns erzählt, machen kann. Oft hallt das Gelesene noch nach und die ein oder andere Episode habe ich auch schon ein zweites Mal gelesen. Also kein Buch, das man oder frau an einem Wochenende durchliest. Ich empfehle, sich Zeit zu lassen


    Dir, tom leo, ein herzliches Dankeschön für die treffende Rezension. Ich bin selber mit den Worten nicht so fit und finde, Du hast die Stimmung des Buches sehr gut beschrieben.


    Lieben Gruß
    Wuselsusi :geek:

  • Nein, "ängstlich" ist der Autor nicht.
    Mir haben diese Miniaturen sehr gut gefallen. Ein vorsichtiger nachdenklicher Mensch, der Nebensächlichkeiten
    beobachtet und in diesen Nebensächlichkeiten das Leben als Ganzes sieht.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • In den letzten Wochen kam Ransmayr hier immer wieder als Thema hoch, bzw seine Bücher. Der Autor spricht manche von uns an. Ich fand eben einen Hinweis auf ein bestehendes Buch zu ihm, das eventuell interessieren könnte?

    Bericht am Feuer: Gespräche, E-Mails und Telefonate zum Werk von Christoph Ransmayr

    Das Geheimnis des Erzählens - Zum Werk von Christoph Ransmayr. Christoph Ransmayr erzählt in einem langen Gespräch von den Wegen seines Schreibens. Ins Innere seiner Geschichten folgen ihm drei seiner Übersetzer und zwei Wissenschaftler, die mit der Herausgeberin Insa Wilke über sein Werk gesprochen haben. Sie erzählen davon, welche eigenen Vorstellungswelten sich auf den imaginären Reisen geöffnet haben. So entsteht in den mündlichen und schriftlichen Korrespondenzen ein Buch über die Rätselhaftigkeit der Materie und die Erkundung der Welt im Schreiben, gewidmet einem der bedeutendsten Künstler der Gegenwartsliteratur. Eine Einladung, sich auf den Weg zu machen ins Unbekannte. »Schreiben gleicht manchmal dem Weg in die Wildnis: Da wie dort öffnen sich scheinbar grenzenlose, menschenleere Räume, in denen es aber nur wenige gangbare Wege gibt.« (Christoph Ransmayr)

  • Ursprünglich dachte ich bei der Rezension von tom leo , dass mir solche kleinen Miniaturen wohl nicht so gefallen würden. Ich war auch etwas von dem Titel abgeschreckt gewesen, wer will schon Reisegeschichten von einem ängstlichen Mann lesen? Und dann auch noch kreuz und quer durch die Welt.

    Aber eine Neugierde blieb doch. Und so "begegnete" mir das Buch immer wieder mal, sogar erst letztens wieder bei dem Literaturpodcast "eat.READ.sleep. Bücher für dich" (21. Folge). Den letzten Schubs bekam ich bei einer MLR von drawe. Und das war gut so.


    Ich bin so begeistert von diesen Geschichten, die alle mit "Ich sah..." beginnen. Von einem Erzähler, der so genau hinschaut, so viele Details wahrnimmt und das Vergängliche, den Moment bewahrt. Das ergab einen unglaublichen Sog und Tiefe beim Lesen.


    Für mich ein Jahreshighlight und volle fünf :bewertung1von5: Sterne.


    Und das schöne ist, man kann sich die Episoden immer wieder vornehmen und entdeckt neue Details und Blickwinkel in den Geschichten. Das ist Literatur für mich mit größter Qualität.

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


    SuB-Leichen-Challenge 2024: Alle Bücher bis inkl. 2022 [-X

    Klassiker-Challenge 2024