Zoran Drvenkar - Der Winter der Kinder oder Alissas Traum

  • 1. Teil der "Alissa"-Reihe
    2. Teil: Sag mir, was du siehst
    Altersempfehlung: ab 10 Jahren
    195 Seiten


    Inhalt (Buchrücken) :
    Alissa friert. Nicht nur an Händen und Füßen. In ihrem ganzen Körper ist Winter. Die Ärzte halten das für eine Krankheit. Für einen Virus oder so. Aber Alissa ist nicht krank. Alissa trauert um ihren Vater, der vor einem Jahr tödlich verunglückte. Erst als sie im Traum drei Kindern begegnet, die ein ähnliches Schicksal haben wie sie, erkennt Alissa, dass es ganz allein an ihr liegt, die Kälte wieder loszuwerden.


    Der Autor (dem Buch entnommen) :
    Zoran Drvenkar, 1967 in Krizevci/Jugoslawien geboren. Seit 1970 in Berlin. Erhielt 1989 sein erstes Arbeitsstipendium vom Berliner Senat, dem 1991 und 1992 das zweite und dritte Senatsstipendium folgten. Zwischen 1991 und 1994 zeitweilig in Holland sesshaft, seit 1995 wieder in Berlin beziehungsweise in Vehlin im Brandenburger Land. Zwei Aufenthaltsstipendien von der Akademie der Künste, drei Werkverträge von der Berliner Künstlerförderung und ein Autorenstipendium für Kinder- und Jugendliteratur von der Stiftung Preußische Seehandlung. Der Winter der Kinder oder Alissas Traum ist sein drittes Kinder- und Jugendbuch.
    Homepage: http://www.drvenkar.de/


    Aufbau und Stil:
    Der Winter der Kinder umfasst 195 Seiten und gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil ist 114 Seiten lang und in 30 Kapitel unterteilt, der zweite Teil gliedert sich in 20 Kapitel. Die einzelnen Kapitel sind dabei sehr kurz, teilweise gerade eine Seite lang. Es gibt kein Vorwort und keine Danksagung, aber eine kurze Widmung.
    Wiedergegeben werden die Ereignisse durch einen Er-Erzähler, der Fokus liegt auf Alissas Gefühlen und ihrem Innenleben. Allerdings gibt es auch kurze Kapitel, in denen die Gefühle anderer Personen gegenüber Alissa thematisiert werden.
    Die Dialoge werden "ganz normal" mit Anführungszeichen eingeleitet und nicht, wie sonst bei Drvenkar, mit einem Bindestrich. Sonst ist das Buch aber im unverwechselbaren Stil des Autors geschrieben, wenn auch sprachlich an die sehr junge Protagonistin (Alissa geht in die vierte Klasse) angepasst.


    Meinung:
    Der Winter der Kinder ist ein Buch, das sich sehr schnell beenden lässt. Dies liegt daran, dass der Stil des Autors sich gut lesen lässt, aber auch daran, dass die Geschichte keine 200 Seiten umfasst. Doch obwohl man das Buch schnell ausgelesen hat, ist es keines, das sich schnell abhaken lässt. Im Gegenteil: es ist sehr berührend, eindringlich und regt zum Nachdenken an.


    Alissa ist ungefähr zehn Jahre alt und eigentlich ein ganz normales Mädchen. Sie mag Aquarien, geht jede Woche mit ihrer Großmutter schwimmen und will Klavier spielen lernen. Was auf den ersten Blick gewöhnlich erscheint, ist jedoch nur die Oberfläche: seit Alissa ihren Vater verloren hat, ist sie kein normales kleines Mädchen mehr. Ihr ist kalt; nicht nur innerlich, nicht im Herzen, sondern überall. Ihre Hände werden fast steif vor Kälte, sie zittert, ihre Zähne klappern. Wenn andere sie berühren, können sie die Kälte spüren und nicht einmal ein Bad im kochend heißen Wasser hilft. Eigentlich hilft nichts, sondern der Winter in ihr wird immer schlimmer.
    Dieses Motiv finde ich sehr eindringlich und beklemmend. Die Vorstellung, immer zu frieren, ist beängstigend und gut mit der inneren Kälte in Verbindung zu bringen, die seit dem Tod ihres Vaters in ihrem Leben herrscht. Drvenkars Idee, diese Kälte real, fühlbar zu machen, verstärkt das Motiv nur und macht klar, wie groß die Trauer des Mädchens um ihren Vater ist.


    Eindringlich ist aber auch die Geschichte, die der Autor um Alissa und die Kälte strickt. Er erzählt die Geschichte ihrer Eltern, von ihrer Liebe, ihren Streitereien und von dem sinnlosen Zufall, der das Leben ihres Vaters beendete. Er erzählt davon, wie Alissas Mutter versucht, mit der Trauer klar zu kommen und ein neues Leben zu beginnen - und wie diese "Gehversuche" Alissa beeinflussen. Drevnkar schildert, wie Alissa versucht, die Erinnerung an ihren Vater lebendig zu halten, kurz: er schildert unglaublich realistisch verschiedene Phasen der Trauer, so überzeugend und glaubwürdig, dass sich wohl jeder in Alissa hineinversetzen kann, wenn sie Fotoalben durchblättert oder ein Kleidungsstück ihres Vaters an sich drückt.
    Besonders gut gefallen hat mir das Motiv der Türen, von denen der neue Freund von Alissas Großmutter ihr erzählt:

    Zitat

    Hier in unserem Kopf sind ganz viele Räume. Da befindet sich unsere Erinnerung und lebt weiter. Ein Raum für diesen Tag, ein Raum für jenen Tag. [...] Und alles, was ich nicht vergessen will, ist in mir, hier in meinem Kopf, und ich kann mich daran erinnern, wann immer ich will. (Seite 99/100)

    Dieses Motiv zieht sich durch die restliche Geschichte und ich finde es wirklich sehr beruhigend, vor allem, weil es so wahr ist: unsere Erinnerungen sind kostbar und sorgen dafür, dass wir auch tote Menschen, die wir geliebt haben, immer bei uns tragen. Es heißt nicht umsonst, dass jemand erst endgültig stirbt, wenn sich niemand mehr an ihn erinnert...
    Schön fand ich auch, wie der Autor mit der Trauer und der Liebe von Alissas Mutter umgeht: dass er zeigt, wie ihr Leben zwar weiter geht, dass sie ihren toten Mann aber immer noch liebt und trauert. Dass weiterleben nicht bedeutet, dass man den geliebten Menschen vergisst.


    Drvenkar hat aber nicht nur die Protagonistin und ihre Mutter so erschaffen, dass der Leser mit ihnen fühlt: er schafft es, auch Nebencharaktere oder Figuren, die gar nicht selbst in Erscheinung treten, mit wenigen Worten so zu charakterisieren, dass der Leser sie gut vor Augen hat und sie real wirken. Zwar sind manche Figuren eher eindimensional, da Alissa sie aber nur kurz und von dieser einen Seite kennen lernt, ist das zu verschmerzen.


    Ein wenig enttäuscht hat mich, dass Alissas Traum von drei Leidensgenossen nicht die große Rolle gespielt hat, die ich nach dem Lesen der Inhaltsangabe erwartet hätte. Ja, durch den Traum hat Alissa erkannt, dass nur sie alleine die Kälte loswerden kann und er hat einen Wendepunkt in der Geschichte dargestellt, allerdings kam der Traum erst ziemlich spät in der Geschichte. Gleichzeitig stellt er ein fantastisches Element dar, das sehr gut in die berührende Geschichte um die Kälte von Alissa passt. Dennoch hatte ich mir diesen Aspekt anders vorgestellt und mehr erwartet.


    Der Winter der Kinder oder Alissas Traum ist ein Buch, das man sehr gut an einem verregneten, kalten oder warmen Nachmittag lesen kann. Die Geschichte ist zwar ganz klar für Kinder geschrieben, kann aber durchaus auch für Erwachsene sehr berührend sein. Es behandelt ein schweres Thema - Verlust und Trauer - geht aber so behutsam damit um, dass das Buch keineswegs traurig macht. Im Gegenteil: gerade das Ende ist voller Hoffnung und Wärme.
    Das Buch ist in sich abgeschlossen, sodass man den zweiten Band nicht lesen muss, um das Ende der Geschichte zu erfahren (ohne den BuecherTreff wäre ich auch nicht darauf gekommen, dass es eine Fortsetzung gibt). Da mir Der Winter der Kinder aber gut gefallen hat, werde ich mir Sag mir, was du siehst trotzdem kaufen, um zu sehen, wie es mit Alissa und ihren Lieben weiter gegangen ist.
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    Carpe Diem.
    :study: Nora Roberts - Schattenmond

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