Über den Autor:
Dietrich Garstka, geboren 1939 in Storkow, Mark Brandenburg, flüchtete mitsamt fast seiner gesamten Klasse 1956 nach West-Berlin. Nach dem Abitur studierte er Germanistik, Soziologie und Geographie in Köln und Bochum und war Gymnasiallehrer in Essen und Krefeld. Heute lebt er in Essen. (Quelle: Verlagsseite Ullstein Buchverlag, von mir erweitert)
Buchinhalt:
DDR, November 1956: Eine Abiturklasse reagiert auf die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes spontan mit einer Schweigeminute. Ein Eklat im System der DDR, der die Staatsmacht gegen die Schüler aufbringt. Die Rädelsführer werden von der Staatssicherheit gesucht, aber nicht gefunden. Gegen alle Drohungen und Erpressungen halten Schüler und Eltern zusammen. Schließlich flieht ein Großteil der Gymnasiasten geschlossen nach West-Berlin… 40 Jahre später gibt es dann ein Wiedersehen und den Versuch, die damaligen Ereignisse darzustellen und in einen Zusammenhang zu bringen. Ein Bericht über die Wirklichkeit der DDR-Diktatur, aber auch ein wenig über die BRD und den kalten Krieg.
(Quelle: Amazon, von mir erweitert)
Das Buch umfasst 253 Seiten und drei Seiten Anmerkungen, Quellen- und Bildnachweis. Dies ist wichtig, da der Text sehr viele Zitate aus Briefen und Originaldokumenten der DDR-Staatsmacht, der Stasi und SED-Parteiorganen und -genossen, RIAS-Meldungen und Zeitungsberichten enthält. Das Buch besteht aus 18 chronologisch aufeinander folgenden Kapiteln, deren Titel deutlich den Kapitelinhalt beschreiben.
Meine Meinung:
Mein Wissen über Vorgänge und Alltag in der DDR gehen gegen Null – ich hatte familiär keinerlei Verbindungen nach „drüben“ und daher auch keine Berührungspunkte. So habe ich hier durch Zufall dieses Buch entdeckt über eine spektakuläre Geschichte im Jahr 1956/57, die damals bestimmt durch alle Presseorgane der BRD ging während sie in der DDR durch Schweigen unter den Tisch gekehrt wurde.
Gefunden habe ich einen angenehm unaufgeregten Bericht eines Betroffenen, der rückblickend versucht, die damaligen Vorgänge darzustellen, zu ordnen und in Zusammenhang zu bringen. Dietrich Garstka ist das Kunststück gelungen, sich nicht in persönlichen Emotionen zu verlieren (die bestimmt nachvollziehbar wären) sondern sachlich und klar seine und die Geschichte seiner Klassenkameraden in den Jahren 1956 und 1957 zu schildern, Zeitdokumente sprechen zu lassen und dabei sich nicht in Schuldzuweisungen zu verlieren. Er behält einen klaren Blick und Fokus auf die Fakten, wobei trotzdem auch ein Bild der Gefühle vermittelt wird. Negative Gefühle beim Lesen der Orginaldokumente der Staatsorgane, positive Gefühle den beteiligten Menschen gegenüber: den Schülern, die die Folgen ihrer Schweigeminute gar nicht überblicken konnten; den Eltern, die es schafften, ihre Kinder in eine fremde Zukunft zu schicken und loszulassen mit dem Wissen, sie vermutlich nie wiederzusehen; den Lehrern, die nicht als die „Bösen“ hingestellt werden, sondern Menschen bleiben dürfen. Besonders vor diesem letzten Punkt ziehe ich den Hut vor dem Autor: er verfällt auch am Ende, bei den persönlichen Begegnungen nach 40 Jahren, nicht in die Opferrolle und verweist die mittlerweile doch sehr gealterten Lehrer auch nicht auf die böse Seite der Staatsmacht – er erkennt die Menschen dahinter und lässt sie gelten. Respekt!
Bei der ganzen Darstellung der Situation nach ihrer Ankunft im Westen hat der Autor durchaus auch nicht übersehen, dass ihre Geschichte dem Westen natürlich sehr gut in die politischen Vorstellungen passte – so ein Vorgang liess sich natürlich auch gut ausnutzen. Bestimmt hat nicht jeder Flüchtling die Hilfe und Aufmerksamkeit erfahren wie diese Schulklasse; Hilfe vom Staat und diversen Organisationen kamen schnell und verblüffend unbürokratisch. Das war bestimmt nicht immer so. Genauso klar schildert Garstka aber auch die Situation 40 Jahre später: die DDR existiert nicht mehr, aber in den Köpfen sind diverse Dinge und Vorstellungen eben nicht so leicht auszuradieren oder zu korrigieren. So wird die Geschichte ihrer Klasse und ihres Wiedertreffens 40 Jahre später eben wiederum nur im Westen verfolgt und berichtet – die damals um ihre Identität kämpfende Gesellschaft der ehemaligen DDR ignoriert diese Vorgänge noch immer und erneut. Ein ernüchterndes Fazit nach 4 Jahrzehnten.
Mein Fazit:
Ein absolut lesenswerter Bericht über eine spektakuläre Flucht junger Menschen aus einer ausweglosen Situation. Er gibt Einblicke in einen politischen Selbstläufer und in die Verschwörungstheorien der DDR-Staatsorgane, die für uns „Wessis“, vielleicht aber auch für Menschen, die in diesem System aufgewachsen sind, gar nicht vorstellbar sind. Leider enthält das Buch ein paar „Rechenfehler“ in Jahreszahlen bzw. Namensverwechslungen besonders bei den in der DDR verbliebenen Mädchen. Das sind Fehler, die einem guten Lektoren hätten auffallen müssen. Deshalb ziehe ich einen Stern für handwerkliche Fehler ab, aber es bleiben immer noch übrig.