Sarah Stricker - Fünf Kopeken

  • Kurzbeschreibung (Quelle: Eichborn Verlag)
    "Meine Mutter war sehr hässlich. Alles andere hätte mein Großvater ihr nie erlaubt. 'Doofsein kannst du dir mit dem Gesicht wenigstens nicht erlauben', sagte er, und wie mit Allem im Leben hatte er natürlich auch damit recht. Also machte meine Mutter das, was sie am besten konnte: alle stolz. Mein armer Großvater konnte sich kaum entscheiden, welche ihrer tollen Begabungen das gesamte Gewicht seiner übersteigerten Erwartungen am meisten verdiente. Das Einzige, wozu meiner Mutter leider völlig das Talent fehlte, war die Liebe."


    Dass die Mutter der Erzählerin ein Wunderkind ist, das steht schon vor ihrer Geburt fest - mehr Wunder als Kind, denn von der Kindheit hält der Großvater fast noch weniger als von der Schönheit. Beides steht ihm nur im Weg bei dem Plan, mit seiner Tochter und dem Modegeschäft das zu schaffen, was ihm als Wehrmachtsoffizier nicht mehr gelungen ist: die Welt zu erobern. Gefühle gewöhnt er ihr dabei vorsorglich ab. Hochintelligent, hochbegabt und nur ganz heimlich hochgradig einsam, ist die Mutter auf dem besten Weg, genau das Leben zu führen, das er sich für sie ausgedacht hat - als die Liebe mit einem Mal doch zuschlägt, und das mit einer solchen Wucht, dass die Mutter ein halbes Leben braucht, um sich davon zu erholen. Nie war Hässlichkeit schöner, Liebe nie gemeiner und Sprache selten solch ein Fest wie in Sarah Strickers fulminantem Debütroman.


    Über die Autorin (Quelle: Eichborn Verlag)
    Sarah Stricker, 1980 in Speyer geboren, schrieb nach Einsätzen bei der taz und Vanity Fair für viele deutsche Zeitungen und Magazine (Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine, Neon). 2009 ist sie mit einem Stipendium nach Tel Aviv gegangen und kurzerhand dort geblieben, sie berichtet für deutsche Medien über Israel und für israelische Medien über Deutschland. "Fünf Kopeken" ist ihr schriftstellerisches Debüt, für einen Auszug daraus ist sie 2011 mit dem Martha- Saalfeld-Förderpreis ausgezeichnet worden.


    Meine Meinung
    Debütromane lese ich sehr gern, weil darin immer ein bisschen die Hoffnung mitschwingt, eine Entdeckung zu machen. Mit „Fünf Kopeken“ stellte nun die Journalistin Sarah Stricker ihren Erstling vor und dieser Roman entpuppte sich für mich als Glücksgriff. Schnell las ich mich in die Geschichte ein und schloss den kauzigen Großvater, die lamentierende Großmutter, die hässliche, aber hochbegabte Mutter und die in der Ich-Form erzählende Tochter in mein Herz. Die Figuren waren lebensecht und sehr glaubwürdig beschrieben. Namentlich werde diese selten genannt. Aber deren Beschreibungen sind so schlüssig, die Charaktere so ausgefeilt und in den Dialogen so eindeutig zuordenbar, dass dies kein Problem, sondern eher etwas Besonderes darstellte.


    Die Geschichte selbst wird von der Tochter erzählt. Ihre Mutter, die so hässlich war, dass sie sich Dummheit nicht mehr leisten konnte, erzählt der Tochter ihre Kindheits- und Jugenderlebnisse, von der Liebe, für die ihr das Talent fehlte und dem, was sie am meisten hasste, die Schwäche. Das alles notiert die Tochter sozusagen für den Leser des Romans. Begegnet man zu Beginn des Romans noch häufig der Großmutter und dem Großvater, der diesem ein ganz besonderes Kolorit verleiht, so wird deren Erscheinen im Handlungsverlauf immer seltener.


    Obwohl es sich bei „Fünf Kopeken“ um das Debüt von Sarah Stricker handelt, ist die Sprache erstaunlich ausgefeilt und ausgereift. Sie spielt mit Wortgewandtheit, Witz, Ironie und bissigem schwarzem Humor. Ihr Stil ist sehr ansprechend und durchaus anspruchsvoll. Es gibt einige dialektgefärbte Dialoge, die die Authentizität besonders unterstreichen. Dabei lässt sie ihre Gedanken auch in die Tiefe gehen und betrachtet manche Dinge fast schon philosophisch, ohne dabei den Leser belehren zu wollen.


    „In der Liebe ist Stolz das erste Opfer. Man kann sich mit Verachtung rüsten.Man kann die beiden Späher Hohn und Spott vorausschicken, um das Lager des Feindes auszukundschaften. Aber je stolzer der Mensch, desto weniger wird er ihren Warnungen Beachtung schenken. Und umso verheerender sind am Ende die Verluste. … Aber das zweite Opfer ist die Vernunft.“ (Seite 453)


    Mit „Fünf Kopeken“ hat die junge Autorin einen äußerst beachtenswerten Roman vorgelegt, der sich sehr positiv von der großen Masse der Neuerscheinungen abhebt. Von mir gibt es eine unbedingte Leseempfehlung. Ich wünsche diesem besonderen Debüt viele begeisterte Leser.
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  • Danke Karthause für die Rezi! Das Buch steht bei mir schon auf der Wunschliste und deine Bewertung bestätigt das. :thumleft:

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Inhalt

    Annas Mutter ist schwer krebskrank und wird nicht mehr lange leben. Ein Anlass für Anna, als Besucherin der Kranken die Familiengeschichte zu durchleben. Für die Tochter wird dies die letzte Gelegenheit sein, noch etwas aus ihrer Familiengeschichte zu erfahren. Die Patientin, immer nur "meine Mutter" genannt, ist schwierig und abweisend gegenüber der Erzählerin. Die Großeltern führten eine für die damalige Zeit durchschnittliche Ehe nach preussischen Werten, der Großvater ein Patriarch alter Schule, unbeherrscht und schlitzohrig, mit einer Frau, die in dieser konventionellen Beziehung völlig aufgeht und keine eigene Meinung hat. Im Vergleich zu ihm als Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs, der die russische Kriegsgefangenschaft überlebt hat, können alle anderen aus der Sicht des Großvaters nur Schwächlinge sein. Der Aufstieg des Schneiderschen Textilgeschäfts folgt dem Wirtschaftsaufsschwung der Nachkriegsjahre. Die einzige Tochter wird behütet, kontrolliert, im Klammergriff der Familie gehalten; sie flüchtet vor den Menschen in die Welt der Wissenschaft. Schließlich wird sie Medizinerin, um als Kopfmensch den eigenen Körper zu besiegen und zu beherrschen. Ein Exkurs führt die Schneiders als Wende-Profiteure nach Berlin, wo Oskars Frau aus Vorkriegszeiten noch eine Immobilie besitzt. Man könnte es beinahe als Verhöhnung des Vaters sehen, dass seine Tochter sich in einen mittellosen ukrainischen Juden verliebt und in dieser Beziehung - endlich einmal - hemmungslos über die Stränge schlägt. An Ende schließt sich der Kreis mit der Erkenntnis, dass bei Schneiders der Apfel nicht weit vom Stamm gefallen ist und "meine Mutter" ihrem Vater in ihren nervigen Eigenschaften verblüffend ähnelt.


    Fazit

    Sarah Strickers fulminanter Familienroman erzählt die deutsche Nachkriegsgeschichte bis in die Wendezeit in neuer, erfrischend respektloser Tonlage. Die Nüchternheit der Tochter und Enkeltochter als Berichterstatterin lässt einem dabei oft das Schmunzeln über Oskar und seine Sippe im Hals stecken bleiben. Ein Ton, mit dem man den Prozess des Zähneputzens beschreiben würde, kann in emotionaleren Situationen recht makaber klingen.


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    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow