Marc Lindemann, Kann Töten erlaubt sein? Ein Soldat auf der Suche nach Antworten

  • Schon 2010 hatte der ehemalige Bundeswehr-Nachrichtenoffizier Marc Lindemann, der bis 2009 noch selbst in Kunduz stationiert war, in seinem Buch „Unter Beschuß“ schonungslos die seit 2002, dem Beginn der deutschen Präsenz in Afghanistan dort gemachten Fehler analysiert. Er benannte mit harten Worten den bislang versäumten Wiederaufbau, der auch in den nächsten Jahren nicht wirklich nachzuholen sei, was sich aus der Sicht von 2013 mehr als bestätigt hat, geißelte vor allen Dingen die Heuchelei der Politik, die sich zu diesem Thema auch nicht verändert hat bis dato. Eine Heuchelei, die letztlich darin besteht, einen militärischen Einsatz als humanitäre Mission zu verkaufen.


    Marc Lindemann forderte damals in seinem Buch, das erschütternd den Alltag der Soldaten am Hindukusch beschrieb, von der Bundesregierung endlich mehr Ehrlichkeit und ein schlüssiges Konzept. Das Buch war überhaupt nicht geeignet als Begründung für pazifistische oder politische Gegner des Einsatzes, weil es durch und durch militärisch und politisch argumentierte.


    Diese Argumentation setzt Marc Lindemann mit seinem neuen, sehr differenzierten Buch fort. Es geht darin um die uralte Frage, die sich Moralphilosophen und Theologen seit langem immer wieder stellen, ob das Töten von Menschen in bestimmten Situationen erlaubt sein kann. Man erinnere sich an die heftige Debatte während der Friedensbewegung der siebziger Jahre um den „gerechten Krieg“.


    Er schickt seinem Buch einen Satz des Philosophen Michael Walzer voran, der angesichts der „Massaker und ethnischen Säuberungen in Bosnien und im Kosovo, in Ruanda, im Sudan, in Sierra Leone, im Kongo und in Liberia, in Osttimor und davor in Kambodscha und Bangladesch … langsam williger (wurde), nach militärischer Intervention zu rufen.“


    Kritisch und sehr kenntnisreich die veränderte militärische Situation auch für die deutsche Bundeswehr beschreibend, setzt sich Lindemann hauptsächlich mit den neuen Möglichkeiten der Kriegsführung durch unbemannte Drohnen auseinander und bewertet sie. Immer wieder den Schutz der Demokratie und unserer Werte wie Menschenrechte und Gerechtigkeit abwägend, kommt er zu folgendem Schluss:
    „Die Frage, ob man einen Menschen töten darf, hängt darüber hinaus auch sehr stark von der Perspektive ab. Der grundsätzliche Wert militärischer Zurückhaltung und supranationaler Institutionen, die anstelle von einzelnen Staaten handeln, steht außer Frage. Kommt es jedoch zu Situationen, in denen Menschen unsere Prinzipien- und Rechtstreue mit ihrem Leben bezahlen müssen, wechsele ich die Perspektive. Es sind freilich immer wieder die gleichen Beispiele wie Srebrenica und Ruanda, die dafür bemüht werden, aber sie sind einfach da. Aus rechtlichen Gründen die Hilfe zu versagen, die dem Morden Einhalt gebietet, verträgt sich nicht mit meiner Vorstellung von Moral, insbesondere wenn man sich bereit erklärt hat, Verantwortung zu übernehmen. Terroristische Bedrohungen folgen derselben Logik (…) Um sich dennoch der Verantwortung für den Frieden und die internationale Sicherheit zu stellen, wird die Praxis des gezielten Tötens weiter ausgebaut werden und, je nach Situation, um eine Strategie der ‚gezielten Schläge’ erweitert (...) Es wird eine Rückbesinnung auf die Realpolitik sein, mit all ihren Schattenseiten, die so ungern ausgesprochen werden. Die Deutschen werden sich daran beteiligen müssen und sollten die Chance nutzen, die grundsätzlichen Fragen zum Einsatz von Gewalt zu klären. Eine Neutralität jedenfalls wird es nicht mehr geben. Sie war ohnehin immer nur eine Illusion“.


    Ein wichtiges Buch, das in der deutschen Öffentlichkeit und Politik dazu beitragen kann, die uralten
    Fragen nach der Moral und der Ethik militärischen Handelns neu und realitätsnäher zu debattieren. Die Welt hat sich verändert, und auch die Bedrohung unserer Werte und unsere Demokratie. Man kann nicht ewig mit den alten ethischen und moralischen Parametern aus der Friedensbewegung argumentieren. Gerade Menschen, die aus Überzeugung oder ihrem Glauben Gewalt ablehnen und das menschliche Leben für heilig halten, müssen sich solchen Fragen, wie sie Lindemann formuliert, stellen.