Ann Cleeves - Opferschuld

  • Klappentext:
    Denn keiner ist ohne Schuld. Emma Bennett sieht sich mit dem schlimmsten Trauma ihrer Kindheit konfrontiert: Zehn Jahre zuvor entdeckte sie an einem frostigen Wintertag in einem Graben die Leiche ihrer besten Freundin. Eine Frau wurde verhaftet, doch nun taucht ein Zeuge auf, der ihr umstrittenes Alibi nach all den Jahren bestätigt. Kommissarin Vera Stanhope würde den Mordfall gerne lösen, doch das gestaltet sich unerwartet schwierig: In dem Dörfchen Elvet findet sich kaum ein Einwohner, der kein Motiv gehabt hätte, die hübsche, verzogene und sehr gerissene Abigail zu töten. Binnen kürzester Zeit ist die Atmosphäre vergiftet. Und Vera fragt sich: Haben die Dorfbewohner Angst vor dem Mörder oder vor ihrer eigenen, schuldbeladenen Vergangenheit?



    Autorin:
    Ann Cleeves, geboren in Herfordshire, arbeitete als Zwanzigjährige zwei Jahre lang als Köchin auf Fair Isle. Heute lebt sie mit ihrer Familie in West Yorkshire und ist Mitglied des «Murder Squad», eines illustren Krimi-Zirkels. Für «Die Nacht der Raben» wurde sie 2006 mit der weltweit wichtigsten Auszeichnung der Kriminal-Literatur ausgezeichnet – dem «Duncan Lawrie Dagger Award».



    Eigene Meinung:
    Durch den Selbstmord einer als Mörderin verurteilten Frau wird ein alter Fall wieder aufgerollt. Vera, ruppig, geradlinig und übergewichtig, soll als Außenstehende in einem fremden Dezernat ermitteln. Sie ist genervt von der vordergründigen Idylle, der kleingeistigen Dorfatmosphäre, den damaligen Ermittlern, den Verdächtigen und einem juckenden Ekzem. Hartnäckig und trotz allem einfühlsam stellt sie ihre Fragen, sie folgt ihrer Intuition genauso wie den Hinweisen, die sie durch ihre etwas unorthodoxe Art ausgräbt, bis sie am Schluss den wahren Mörder überführt.


    Das Buch ist in drei Teile untergliedert. Ungewöhnlich fand ich, dass der erste Teil aus Sicht von Emma Bennett, der Freundin der vor zehn Jahre ermordeten Abigail, und von anderen direkt oder indirekt Beteiligten erzählt wird. Vera Stanhope taucht anfangs nur als Nebenfigur auf. So erhält man einen guten Einblick in das Innenleben der Figuren. Im zweiten Teil stehen dann Vera, ihre Gedanken und ihre Ermittlungsarbeit im Mittelpunkt. Man sieht jetzt die Personen, die man vorher so gut kennengelernt hat, aus Veras Sicht und teilt ihre Überlegungen zu den Charakteren und Ereignissen. Im dritten Teil vermischen sich schließlich die Perspektiven: abwechselnd nimmt man an Veras Ermittlungen teil oder erfährt, wie Emma und die anderen mit dem Geschehen klar kommen.


    "Opferschuld" ist kein nervenzerfetzend spannender Krimi, sondern lebt mehr von seinen Figuren und Stimmungen. Das Erzähltempo ist eher ruhig, steigert sich jedoch gegen Schluss, wenn die Autorin die Leserin gezielt auf falsche Fährten lockt, bevor sie den Täter entlarvt. Vera hat da bereits die Lust an dem Fall verloren, denn derjenige, der durch sein Verhalten Anlass zu dem Mord gab, kann dafür nicht belangt werden, obwohl er es verdient hätte.


    Ann Cleeves hat mit Vera Stanhope eine Ermittlerin erschaffen, die mir auf Anhieb sympathisch war. Sie ist neugierig, wütend, übergewichtig, trinkfreudig, aber doch mitfühlend (obwohl sie weiß, dass sie genau letzteres nicht sein sollte), intuitiv und schlau, setzt sich gerne über Vorschriften hinweg und hat ein diebisches Vergnügen daran, Kollegen, Zeugen und Verdächtigen gleichermaßen auf die Nerven zu gehen, wenn es ihre Ermittlungen weiterbringt. Eine erholsame Abwechslung zu all den wunderschönen, gepflegten Ermittlerinnen mit Beziehungsproblemchen und einem Kreis skurriler Helferleins mit diversen Spezialkenntnissen. (Veras Assistent ist ein bodenständiger, tüchtiger junger Familienvater, der nicht weiter auffällt und brav tut, was Vera ihm befiehlt) Statt High Heels und Designerklamotten trägt Vera lieber bequeme Sandalen und sackartige Blümchenkleider, die "Peg (die Frau eines Zeugen) nicht mal als Küchentuch ins Haus gelassen hätte". Sie konzentriert sich auf ihren Fall und löst ihn aus eigener Kraft durch Nachdenken und Hartnäckigkeit, ohne Umwege über Kaffeeklatsch mit Freundinnen und ohne Ablenkung durch private Dramen.


    Fazit:
    Großartige Charakterstudien, gelungene Atmosphäre und eine erstklassige Ermittlerin. Bitte mehr davon. :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    Verführung Volljähriger zum Bücherkauf sollte nicht unter 5 Jahren Stadtbibliotheksmitgliedschaft bestraft werden!

  • Vera Stanhope ist der Gegenentwurf zu den gängigen Ermittlern auf englischem Boden. Erstens sind die Geschlechterrollen umgekehrt verteilt, ein Mann ist der Assistent, die Frau die Chefin. Der mit dem Privatleben ist auch der Assistent.
    Zweitens: Eine Schönheit ist sie nicht, Figur hat sie nicht, kleidet sich wie aus dem Altkleidersack, stapft ungerührt sowohl durch die Landschaft wie durch die seelische Verfassungen ihrer Mitmenschen, aber Verstand und Instinkt sind überwach, und sie ist blitzgescheit.


    Obwohl die Handlung auf Vera zugeschnitten ist, taucht sie erst im zweiten Teil als Mittelpunkt des Geschehens auf. Bis dahin begleitet der Leser die Personen, die mittelbar oder unmittelbar in den alten Mordfall verwickelt waren. Personen, die alle unter mehr oder weniger ausgeprägten Schrullen leiden, keine davon allerdings liebenswert. Ob es der zu Gott bekehrte, humorlose und überstrenge Vater ist, die junge Ehefrau mit dem sehr netten Mann, die sich die Augen nach dem Nachbarn ausguckt, die verhuschte Mutter, der Immobilienhai mit den krummen Geschäften oder der gnadenlose Vater der verurteilen Mörderin – sie alle drehen sich um das alte Verbrechen, zu dem bald ein neuer Mordfall kommt. Um den kümmert sich die örtliche Polizei, so dass Vera von den Ermittlungsergebnissen ausgeschlossen ist. Klar, dass sie trotzdem die Nase vorn hat.


    Ob es an Veras spätem Erscheinen liegt, dass ich Schwierigkeiten hatte, in die Handlung zu finden? Mich langweilte der Krimi, erst im letzten Drittel war ich mit dabei.
    „Seelentod“, der vierte (und dritte übersetzte) Band der Reihe gefiel mir wesentlich besser. „Totenblüte“, den dritten, bzw. vierten Band werde ich mir irgendwann noch aus meiner Bücherei ausleihen. Solange freue ich mich montags abends über die verfilmte Vera.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)