Karl-Heinz Ott – Ins Offene

  • Original : Deutsch, 1998


    INHALT :
    Ein Mann fährt in das oberschwäbische Dorf seiner Kindheit, um der sterbenden Mutter beizustehen: eine Reise in die Enge der Vergangenheit. Als unehelicher Sohn in einer erzkatholischen Gegend geboren, verbindet ihn mit seiner Mutter eine lebenslange Hassliebe. Nun setzt eine behutsame Annäherung ein – und ein aussichtsloser Wettlauf gegen den Tod, von dem Ott nicht ohne Lakonie und Humor erzählt. (Quelle : Verlagsbeschreibung, Hoffmann und Campe)


    BEMERKUNGEN :
    Von diesem beachtenswerten Autor habe ich inzwischen mit viel Freude zwei Bücher genossen, die hier im BT auch schon vorgestellt und teils interessant und vielstimmig diskutiert worden sind ( http://www.buechertreff.de/rez…l-Heinz%20Ott-index1.html ). Kein Wunder, dass man dann nach anderen Werken aus seiner Feder Ausschau hält und so entdeckte ich diesen ERSTEN Roman im Schaffen Otts.


    Am Beginn des Buches erhält der Ich-Erzähler die eindeutige Nachricht vonseiten der Ärzte seiner Mutter, dass diese nur noch wenige Wochen zu leben hätte. Er macht sich auf den Weg in die Heimatgemeinde und ins Heim seiner Mutter. Man mag rein melancholisch geprägte Erinnerungen erwarten, rosa geschminktes Selbstmitleid oder Empathie mit der Mutter. Dies ist so nur teils der Fall. Der Roman setzt sogar mit teils vehementen Erinnerungen an die unablässigen Widersprüche und Auseinandersetzungen von Mutter und Sohn ein. Die lebenslange Freund-Feind-Beziehung zwischen Mutter und Sohn bewirken eine seltsame Mischung von Todeswunsch für die Mutter als auch antizipierter Reuegefühlen, beim eventuellen Tode dann die letzte Möglichkeit zur Versöhnung definitiv verpasst zu haben. Nun, sicherlich kann man dieses Buch als Auseinandersetzung mit dem Tode verstehen, dem der Mutter, als auch dann unweigerlich damit verbunden, wohl auch dem eigenen.


    Das Buch ist in circa halb bis zweiseitige Abschnitte unterteilt, die nur durch eine Leerzeile voneinander getrennt sind. Es gibt eine zeitliche Entwicklung vom Erhalt der bedrohlichen Nachricht über den Zustand der Mutter bis..., doch sie ist so geschickt eingebunden in eine gemeisterte Sprache, dass man die Übergänge und leichten Sprünge nicht immer direkt ausmacht.


    Die Sprache finde ich wunderbar und beeindruckend, zumal es sich um seinen ersten Roman handelt (man muss alerdings sagen, dass Ott zu diesem Zeitpunkt schon über 40 war und Erfahrungen als Dramaturg gesammelt hatte). Man kann die Aufzählungen, Aneinanderreihungen hervorheben, die manche natürlich auch stutzen lassen könnten. Man findet so gut wie keine direkte Rede, wenn dann wird nur im Konjunktiv zitiert.


    Beeindruckender aber noch finde ich die guten Beobachtungen über diese innere Auseinandersetzung mit dem existenziellen Moment des Sterbens einer Mutter. Schwankt man nicht zwischen verpassten Möglichkeiten, Erinnerungen an die Konflikte und aber auch die Unmöglichkeit, den anderen wirklich durch unsere Brille festzuhalten ? Dazu hat der Autor am Ende des Romans einige sehr schöne Gedanken.


    Der Ich-Erzähler war ein uneheliches Kind : der Vater verlangte, wie bei einem ersten Baby « mit Erfolg », die Abtreibung doch die Mutter verweigerte sich, wohl auch bedingt durch ihre Zugehörigkeit (und Abstoßung) zu einem eng-katholisch geprägten Milieu, irgendwo in Schwaben. Stets hätte man den Eindruck gehabt « etwas verbrochen zu haben », so eine Grunderfahrung einer doloristisch und sündengeprägten Religion. Der Autor wird diese teils von Aberglauben, aber auch sicherheitsgebenden Riten geprägte Atmosphäre öfter eindringlich schildern : sie war überaus prägend. Mit all diesen Gegebenheiten (offener Mutter-Sohn-Konflikt ; die teils innerfamiliäre Ablehnung der nichtverheirateten Mutter ; die « kleine dörfliche Welt » in althergebrachten Riten etc) mag es zusammenhängen, dass die Vergangenheit, das grundsätzlich Prägende, die Heimat oft als so einengend, klein, lebensunlustig erfahren wurde. Doch zur selben Zeit gibt es eine seltsame Verbundenheit des Autors mit Ansätzen dieser Elementen : Er beklagt auch den Identitätsverlust des Dorfes, das zu einem Schlafkorridor geworden ist. Oder hinter allen Vorhaltungen und Auflehnungen auch das seltsam Rhythmusgebende der kirchlichen Feste mit ihren Traditionen. So gibt es eine seltsame Mischung, ein seltsames Verhältnis zwischen Enge und Weite, Geborgenheit und gleichzeitiger Verlorenheit, Aufbegehren und Einwilligung.


    Man unterscheidet gut eine Hommage an « Der Fremde » von Albert Camus. Ich habe ebenso sehr die Passagen zum Thema « Heimat » gemocht als auch die letzten Gedanken zur Bruchstückhaftigkeit unseres Erinnerns und Festhaltens. Nach dem anklägerischen Auftakt stimmen die letzten Eindrücke eher versöhnlich...


    Beeindruckend ! Eine Leseeempfehlung für alle, die Ott schon anderweitig schätzen gelernt haben und « gute deutschsprachige Literatur » lieben.


    AUTOR :
    Karl-Heinz Ott wurde 1957 in Ehingen an der Donau geboren und ist ein deutscher Schriftsteller, Essayist und literarischer Übersetzer. Er studierte Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft. Anschließend arbeitete er als Dramaturg an den Theatern in Freiburg, Basel und Zürich. 1998 erschien sein Romandebüt « Ins Offene », das mit dem Hölderlin-Förderpreis und dem Thaddäus-Troll-Preis ausgezeichnet wurde. Für seinen Roman Endlich Stille (2005) erhielt er den Alemannischen Literaturpreis, den Candide-Preis sowie den Preis der LiteraTour Nord. 2008 erschien sein dritter Roman Ob wir wollen oder nicht. Außerdem veröffentlichte er Heimatkunde. Baden (2007) und Tumult und Grazie. Über Georg Friedrich Händel (2008 ) und der Roman Wintzenried (2011). Im Jahr 2012 wurde ihm der Johann-Peter-Hebel-Preis verliehen. Karl-Heinz Ott lebt in Freiburg. (Quellen : Hoffmann und Campe – Autorenportrait ; amazon.de ; Ausführlicheres auch bei http://de.wikipedia.org/wiki/Karl-Heinz_Ott )


    Es gibt verschiedene gebundene und Taschenbuchausgaben, bei Suhrkamp, DTV, Hoffmann und Campe, teils auch schon in günstigen Angeboten.


    Gebundene Ausgabe: 142 Seiten

  • Wie ergänzt man eine so tolle Rezension, habe ich mich gerade gefragt. Im Grunde steht ja schon alles wichtige über das Buch drin, aber ich mag trotzdem noch meinen Eindruck dazu geben, wenn es auch nicht viel sein wird.


    Beeindruckender aber noch finde ich die guten Beobachtungen über diese innere Auseinandersetzung mit dem existenziellen Moment des Sterbens einer Mutter. Schwankt man nicht zwischen verpassten Möglichkeiten, Erinnerungen an die Konflikte und aber auch die Unmöglichkeit, den anderen wirklich durch unsere Brille festzuhalten ? Dazu hat der Autor am Ende des Romans einige sehr schöne Gedanken.


    Diese Stellen haben mich an diesem Buch mit am meisten beeindruckt.


    Der Ich-Erzähler war ein uneheliches Kind : der Vater verlangte, wie bei einem ersten Baby « mit Erfolg », die Abtreibung doch die Mutter verweigerte sich, wohl auch bedingt durch ihre Zugehörigkeit (und Abstoßung) zu einem eng-katholisch geprägten Milieu, irgendwo in Schwaben. Stets hätte man den Eindruck gehabt « etwas verbrochen zu haben », so eine Grunderfahrung einer doloristisch und sündengeprägten Religion.


    Das sah ich jetzt ein wenig anders.


    Mit all diesen Gegebenheiten (offener Mutter-Sohn-Konflikt ; die teils innerfamiliäre Ablehnung der nichtverheirateten Mutter ; die « kleine dörfliche Welt » in althergebrachten Riten etc) mag es zusammenhängen, dass die Vergangenheit, das grundsätzlich Prägende, die Heimat oft als so einengend, klein, lebensunlustig erfahren wurde. Doch zur selben Zeit gibt es eine seltsame Verbundenheit des Autors mit Ansätzen dieser Elementen : Er beklagt auch den Identitätsverlust des Dorfes, das zu einem Schlafkorridor geworden ist. Oder hinter allen Vorhaltungen und Auflehnungen auch das seltsam Rhythmusgebende der kirchlichen Feste mit ihren Traditionen. So gibt es eine seltsame Mischung, ein seltsames Verhältnis zwischen Enge und Weite, Geborgenheit und gleichzeitiger Verlorenheit, Aufbegehren und Einwilligung.


    Das fand ich klasse dargestellt. Zum einen diese Abneigung gegen seine Heimat, man spürte regelrecht die Langeweile die das Wort "Heimat" für ihn enthielt. Aber wie du schreibst, immer mehr bemerkte man auch die Verbundenheit des Erzählers zu seinem Dorf und seiner Vergangenheit. "Eine seltsame Mischung" trifft dieses Empfinden recht gut. Das löste es bei meinen lesen auch aus. Man kann es fast nicht beschreiben. Ott war da sehr virtuos.


    Die Sprache finde ich wunderbar und beeindruckend, zumal es sich um seinen ersten Roman handelt (man muss alerdings sagen, dass Ott zu diesem Zeitpunkt schon über 40 war und Erfahrungen als Dramaturg gesammelt hatte). Man kann die Aufzählungen, Aneinanderreihungen hervorheben, die manche natürlich auch stutzen lassen könnten. Man findet so gut wie keine direkte Rede, wenn dann wird nur im Konjunktiv zitiert.


    Das er schon Erfahrungen im schreiben hat, dass merkt man dem Buch an. Du erinnerst mich gerade an diese Aufzählungen/Aneinanderreihungen. Da bin ich auch drüber gestolpert und habe mich ein klein wenig schwer mit getan.


    Alles in allem war es ein tolles Buch für mich! Ich habe ihm :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: gegeben.

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


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  • Danke für Deine Anmerkungen und auch eher positiven Meinung!



    Das sah ich jetzt ein wenig anders.


    So, wie Du es jetzt sagst, wirkt es tatsächlich sehr überzeugend! Danke für diese Überlegung und Richtigstellung!