Willem Frederik Hermans - Das heile Haus

  • „Ich wartete. Auf der Straße war niemand außer mir. An dem Haus war nichts zu entdecken. Die Deutschen schossen nicht mehr, weil sie mich nicht sahen. An die Seitenwand des Hauses war eine große Tabakspfeife gemalt. Es blieb überall still. Ich rührte mich nicht und lebte doch hundertmal schneller als sonst. Dann hörte ich es dreimal knallen. Das Dach flog als Schwarm schwarzer Schieferplatten in die Luft. Aus dem Fenster kräuselte sich Rauch in einem ganz anderen Tempo als meinem. Ein Deutscher kam heraus und rannte zur Straße. Ich erschoss ihn. Auch einen zweiten, einen dritten, einen vierten. Sie krümmten sich wie Schmetterlinge, die aufgespießt werden, ich erstach sie mit einer zweihundert Meter langen Nadel.“


    Nur ein kurzer Absatz aus Willem Frederik Hermans Novelle „Das heile Haus“ von 1952 und doch repräsentiert er mustergültig das gesamte frühe Werk dieses in Deutschland noch weitestgehend unbekannten Schriftstellers, der in den Niederlanden seit Langem zum festen Literaturkanon gehört, mit einer 24-bändigen Werkausgabe bedacht wurde und dessen Bücher dort Schullektüre sind.


    Die Handlung ist schnell umrissen: ein namenloser Erzähler, niederländischer Partisan, in einem namenlosen Landstrich, es ist der 2. Weltkrieg. Auf der anderen Seite des Hügels liegen die Deutschen, diesseits eine Gruppe von Partisanen und im Rücken stoßen bereits sowjetische Truppen vor. Der Krieg, das Morden und die andauernden Bombenangriffe lassen den Erzähler mittlerweile kalt: „ ….jeder Mensch stirbt, auch wenn es niemals Krieg gäbe. Was macht Krieg für einen Unterschied ?“ In einer verlassenen Kleinstadt, einem ehemaligen Badeort, findet der herumirrende Partisan ein seltsam unversehrtes Haus: ein großbürgerliches Haus mit intakten Fenstern, einer funktionierenden Warmwasserversorgung und einem Topf voll Suppe, welche noch auf dem Herd köchelt. Er kann sein Glück nicht fassen, nimmt ein Bad, kleidet sich neu ein, denn die Schränke sind gefüllt mit sauberer Kleidung, isst von der Suppe und – bleibt. Richtet sich häuslich ein, schläft, während von außen der Kriegslärm hereinbrandet. Als am nächsten Morgen die Deutschen vor der Tür stehen und sich die Offiziere einquartieren wollen, gibt sich der Ich-Erzähler als Eigentümer des Hauses aus. Akribisch achtet er darauf, daß die Deutschen nichts kaputt machen, alles an seinem Platz verbleibt – das heile Haus als intaktes Zentrum einer in Chaos und Zerstörung versinkenden Welt.



    In Reinform präsentiert uns Hermans in diesem schmalen Band seine Sicht auf die Welt, wie durch ein Mikroskop richtet er seinen Blick auf das groteske, durch Unverstand, Mißverständnisse und Bösartigkeiten gesteuerte Handeln der Menschen, dem Gewimmel und Gewurstel einer Insektenschar gleich. In den Niederlanden stieß Hermans damit auf empörte Ablehnung seiner Mitbürger, galt diesen doch die heroische Auflehnung des holländischen Widerstandes gegen die deutsche Besatzung bis dahin als Teil der öffentlichen Wahrnehmung, und nicht, wie Hermans es sah, als großes Durcheinander und Chaos aus Zufälligkeiten.


    Fazit: Eine kurze, faszinierende und vor allem sprachgewaltige Lektüre des Großmeisters der niederländischen Nachkriegsliteratur, dessen umfangreiches Werk in Deutschland erst in kleinen Teilen übersetzt ist.