J. Mertens: ZERFALL

  • Im Eigenverlag „Mobilus Moonworks“ veröffentlichte der Autor J. Mertens jüngst sein Aufsehen erregendes lyrisches Werk, das gemäß des Untertitels im Grenzbereich zwischen „Mythos, Wahn und Grabeskälte“ angesiedelt sein will. Und doch bedarf es lediglich des Einverleibens weniger Gedichte aus dieser rabenschwarzen Feder, ja einiger Verse bloß, um in Gedanken die Totenköpfe auf dem Buchdeckel mit Fleisch zu bespannen und eine Erkenntnis das Innerste der menschlichen Psyche beleuchten zu lassen. Die Verdammten sind wir, die Kinder der Moderne, auf Rationalität und Eigennutz getrimmt, dennoch zu jeder Zeit nichts weiter als ein austauschbarer Bestandteil der Maschinerie, die eine kapitalorientierte Gesellschaft in Bewegung hält. Wir hängen der Illusion nach, Tag für Tag eigenständige Handlungen zu vollziehen und mithilfe blinkender Gerätschaften einen persönlichen Daseinssinn zu manifestieren, obwohl die Kernschmelze im Maschinenraum unseren geistigen Zerfall längst vollzogen hat. Übrig bleibt die Karikatur, die automatisierte Denkstruktur, die leere Hülse, das Pseudo-Ego welches sich selbst aufrecht erhalten und zugleich verzehren muss. Im Zuge der Verformung werden die „Abfallstoffe“ aus Gefühlen und Emotionen zwangsläufig herausgefiltert und zu Lasten der Humanität entsorgt. Gewiss, J. Mertens hat die Hölle ins Diesseits geholt, hat das Inferno der Welt nahtlos übergestülpt und mit seiner allegorischen Lyrik den Trugschluss entlarvt, wir hätten dem herrschenden Zerfall der Werte und des menschlichen Geistes Nennenswertes entgegenzusetzen. Seine zu Tinte erstarrten (Protest-)Schreie sind aufs Papier gebannt mit einer Art unterschwelliger nostalgischer Sehnsucht, als könne er aus der Vergangenheit und den Werken der klassischen Literatur eine Hoffnung schöpfen, die ihm heutzutage verwehrt ist angesichts voranschreitender Entmenschlichung. Mertens modifiziert die Sprache zu einem hitzebeständigen Datenträger, zu einem Hybrid aus Dichtung und Dämonie, der inmitten züngelnder Flammen nicht nur weiterexistiert, sondern vielmehr von der Verzehrung (!) selbst gespeist wird.


    Peter Pitsch