Andrei Makine – Das Verbrechen der Olga Arbelina/Le crime d'Olga Arbelina

Cover zum Buch Das Verbrechen der Olga Arbelina

Titel: Das Verbrechen der Olga Arbelina

, (Übersetzer)

3,1 von 5 Sternen bei 4 Bewertungen

Verlag: btb Verlag

Format: Taschenbuch

Seitenzahl: 317

ISBN: 9783442725199

Termin: Januar 2002

Aktion

  • Original: Le crime d'Olga Arbelina (Französisch, 1998 )

    INHALT:
    An einem Sommertag 1947 findet man am Fluss der französischen Kleinstadt in der Nähe von Paris die schöne, halb entblößte 46-jährige Fürstin und Exilrussin Olga Arbelina stumm und apathisch an der Seite eines toten Mannes, eines 64 Jahre alten ehemaligen “Weißen Offiziers”. Die Menge macht sich zum Detektiv und Geschichtenerzähler, vermutet sofort ein Liebespaar, einen Mord... Oder war es doch ein Unfall?

    Doch was hat es mit dieser Frau an sich? Wenn es ein Verbrechen gibt, worin besteht, bestand es? Was verbindet diese alleinstehende Frau mit ihrem an der Bluterkrankheit leidenden Sohn? Ist da etwas vorgefallen, das erschreckt und sie gleichzeitig im Banne hält?

    (Warnung: Meines Erachtens sollte man die Kommentare bei amazon NICHT vor der Lektuere des Buches lesen, da sie aufknoten und kommentieren, was viel verstrickter erzaehlt wird!)

    BEMERKUNGEN:
    Eingebunden wird die “Geschichte” der Olga Arbelina vom Besuch eines Mannes auf einem russisch-orthodoxen Friedhof. Er hört den Erzählungen des Friedhofswärters zu, der zu jedem Grab, jeder Person eine/ihre Geschichte erzählen kann. Und er fragt nach jener dieser Frau...

    Nach dieser Einführung gehen wir in den folgenden Kapiteln – und nicht immer chronologisch - in einem Perspektiv- und Erzähltonwechsel und einer Fokussierung der Kamera auf ihr Leben, zurück: jene Szene am Fluß, halb entblößt, neben einem Toten; eine heimliche Abtreibung im Jahre 1946 bei ihrer Freundin; die stets bedrohliche Bluterkrankheit ihres 14-jährigen Sohnes; ihr Leben als Exilrussin und Bibliothekarin in einer russischen Siedlung, einem Heim in der Nähe von Paris; die Kindheit in Ostrow (Russland) und Verliebtheit in den ebenso an Bluterkrankheit leidenden Cousin; die Ausschweifungen dieser kleinen Welt. Schließlich, mit der Revolution und Verarmung der Familie, wie so viele die Flucht über den Süden (Odessa, Konstantinopel) nach Paris. Fürst Arbelina rettete das junge Mädchen quasi im Verlaufe einer angehenden Vergewaltigung und wird später ihr Ehemann. 1932 wird also ihr Sohn geboren, doch schon nach einigen Jahren verläßt sie der Fürst. Es folgt eine sporadische, unliebenswürdige Liebschaft in einer Heimlichtuerei, doch ansonsten ein nach außen hin anscheinend ruhiges Leben.

    Tja, damit hat man viel erzählt, und dennoch bei Makines Buch gleichzeitig gar nichts. Denn das Zentrale liegt in diesem seltsamen Verhältnis zu ihrem an der Bluterkrankheit leidenden Sohn: einerseits eine Distanz und Ignoranz, die ihn als einen “anderen” erleben läßt, sozusagen als Fremden. Andererseits die ständige Sorge, jeden Unfall zu vermeiden, aber zu wissen, dass ihm normalerweise nur ein paar Jahre bleiben werden und er – so erahnt sie wohl – nie die Freuden der Liebe und Zärtlichkeit erfahren wird. Als sie zunächst erschüttert feststellt, dass der nahezu 15-Jährige ihr ein Schlafmittel in den Tee gießt und sie nachts besucht (wozu?wofür?), will sie “das” nicht benennen. Dann kommt nahezu eine Einwilligung...

    Die oben seltsam anmutende Chronologie im Erzählen läßt erahnen, dass der russische Autor seine Handlung anders als strikt linear aufbaut, zwischen den Zeitebenen springt, rückschaut. Dann wiederum variiert er ein Thema, scheint sich zu wiederholen: man findet dieses bei Makine häufige Kreisen, Wiederholen, als ob das Leben sich manchmal in einigen Handlungen, Gesten, Bildern konzentriert, auf die man immer wieder zurückkommt.

    Das Verwirrende, Beunruhigende der Handlung kann meines Erachtens nicht verhindern, dass man (auch im Deutschen, wie ich ausnahmsweise dieses Buch las) die manchmal tastende, suchende, dann wiederum auch direkte, Sprache Makines wiederfindet.

    Es gäbe einige interessante “Nebenthemen” für Interessierte:
    - Denkt Fürstin Arbelina an ihre Kindheit und Jugend im ausgelassenen, ausschweifenden Rahmen zurück, scheint eine (aristokratische?) Welt verlorengegangen. Doch wie lange dauern die Verluste, die Trauer? Und wie schnell findet man sich eventuell in einem anderen Rahmen trotz “ewig dauernder Nostalgie” wieder in alten Verwirrungen, Spielchen und Maskeraden?
    - Und im Zusammenhang mit dieser gesellschaftlichen Feststellung des letzten Punktes: Inwieweit spielt auch die schöne Olga ein Spiel, macht sich was vor? Hat eventuell Recht, sich im inneren Dialog dann “das kleine Biest” zu nennen, sie, die quasi in das Verbotene einwilligt?
    - Inwieweit ist das Leben für eine 46-Jährige “vorbei”, wie ihr ab und zu suggeriert wird? Bleibt nichts mehr als den “friedlichen Lebensabend abzuwarten”?
    - Wie bildeten die Exilrussen, insbesondere im Frankreich ab den 20iger Jahren, ein quasi eigenes Universum, eine eigene Gesellschaft?
    ...

    Vielleicht hätte der Roman durch eine Straffung der letzten zwei Drittel gewonnen? Er wird mit seinem Hauptthema so “beunruhigend” - und das über weite Strecken insbesondere der zwei letzten Drittel - , dass Ablehnung oder gar Ekel aufkommen kann. Ich selber habe bei 230 von 315 gelesenen Seiten abgebrochen kann mir nun kaum eine abschließende Meinung bilden.

    Was werdet Ihr dazu sagen?

    ZUM AUTOR:
    Andreï Makine (* 10. September 1957 in Krasnojarsk, Sibirien) ist ein französischer Schriftsteller russischer Abstammung. Makine wächst in der Provinzstadt Penza auf, ca. 700 km südöstlich von Moskau. Seit seiner Kindheit ist er durch seine französische Großmutter mit der Kultur und Sprache Frankreichs vertraut. Schon als Junge schreibt er Gedichte in Französisch und in seiner Muttersprache Russisch. Er studiert in Twer und Moskau Philologie und lehrt kurze Zeit Philosophie in Novgorod. 1987 kommt er im Rahmen eines Lehreraustauschprogramms nach Frankreich. Dort entscheidet er sich zu bleiben, erhält politisches Asyl und entschließt sich, ein Leben als Schriftsteller in Frankreich zu führen; seitdem lebt er in Paris, anfangs in sehr ärmlichen Verhältnissen. Seine ersten in französischer Sprache verfassten Manuskripte - wie den Debütroman Tochter eines Helden (1990) - gibt er als französische Übersetzungen aus dem Russischen aus, um die Skepsis des Verlags zu zerstreuen, dass ein erst seit kurzem in Frankreich lebender russischer Emigrant in einer zweiten Sprache schreiben kann. Nach enttäuschenden Reaktionen auf seine beiden ersten Romane dauert es acht Monate, einen Verlag für seinen Roman Das französische Testament zu finden, mit dem er 1995 auf einen Schlag berühmt wird. Im selben Jahr erhält er als erster Schriftsteller gleichzeitig die beiden renommiertesten Literaturpreise Frankreichs, den Prix Goncourt und den Prix Médicis. 1998 erhält er den finnischen Eeva-Joenpelto-Preis und 2005 für sein Gesamtwerk den mit 15.000 Euro dotierten Literaturpreis der Stiftung Prinz Pierre von Monaco.
    (Quelle: ua Wikipedia)

    Ich weiss nicht, ob ich ungeschickt gewesen bin oder mehrmaliges Lesen das Exemplat so abgenutzt hat, doch meine btb-Ausgabe fiel mir fast auseinander....

  • Ich stelle hier noch eine Verlinkung zur französischen Ausgabe ein. Im Nachhinein bedauere ich es, dass ich dieses Buch nicht im Original gelesen habe. Bei der Übersetzung wird wohl doch etwas von dieser magischen Sprache Makines verlorengegangen sein.

    Die beiden gerade entdeckten Kommentare auf dieser französischen Amazonseite bestätigen eine andere Lesart...

    Quatrième de couverture (amazon):
    «Tout devait être exactement ainsi, elle le comprenait à présent : cette femme, cet adolescent, leur indicible intimité dans cette maison suspendue au bord d'une nuit d'hiver, au bord d'un vide, étrangère à ce globe grouillant de vies humaines, hâtives et cruelles. Elle l'éprouva comme une vérité suprême. Une vérité qui se disait avec cette transparence bleutée sur le perron, le frémissement d'une constellation juste au-dessus du mur de la Horde, avec sa solitude face à ce ciel. Personne dans ce monde, dans cet univers ne savait qu'elle se tenait là, le corps limpide de froid, les yeux largement ouverts... Elle comprenait que, dite avec les mots, cette vérité signifiait folie. Mais les mots à cet instant-là se transformaient en une buée blanche et ne disaient que leur bref scintillement dans la lumière stellaire...»

  • Danke Tom,
    das Buch liegt schon ewig auf meinen SUB, muss diesen wohl wieder einmal entstauben.

    Nun, ein Makine "lohnt" sich immer, meines Erachtens. Doch dies war für mich das beunruhigendste, vielleicht auch fragwürdigste Buch des Autors. Ich mag keine Klassifizierungslisten bei den wirklich großen Autoren, doch ich hielt dieses Buch für jenes, das mir am wenigsten gefallen hat... Es kann aber sein, dass dies an dem Grundthema liegt, das ich andeutete: jemand, der mit dem "Zementgarten" von McEwan gut zurecht gekommen ist, wird hier, in einem leicht anderen Stil, vielleicht ebenso keine Probleme haben.

    Als erste Lektüre des Autors würde ich es dennoch nicht empfehlen: da gibt es genügend andere Schätze, und hier im BT haben wir schon einige vorgestellt!

  • Nun, ein Makine "lohnt" sich immer, meines Erachtens. Doch dies war für mich das beunruhigendste, vielleicht auch fragwürdigste Buch des Autors.


    Es ist nun schon eine Weile her, dass ich mir die Kurzbeschreibungen von Makines Büchern zur Auswahl für einen Kauf durchgelesen habe, aber ich erinnere mich noch genau an die Thematik, weil ich deshalb vor einem Kauf zurückgeschreckt bin. Jetzt aber, nach bereits drei gelesenen seiner Werke, möchte ich die "Olga Arbelina" auf jeden Fall noch lesen - die Art und Weise, wie Makine über Frauen schreibt, empfinde ich als faszinierend, obwohl nicht alle weiblichen Figuren gut wegkommen in seinen Büchern. Auch die Tatsache, dass Du das Buch als "fragwürdig" und "beunruhigend" beurteilst, tom leo, schreckt mich nicht ab - ich denke, die Thematik muss nicht unbedingt angenehm sein oder gefallen, aber auf Makines schriftstellerische Ausarbeitung zum Thema bin ich doch sehr gespannt.

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «

    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • Danke für Deine Einschätzung und Deine Bemerkungen!

    Ja, wenn Du ihn in drei Büchern geschätzt hast, kannst Du dieses Buch auch anders, besser einordnen. Literarisch sicherlich - meines Erachtens - erneut auf der Höhe.

    Du redest von drei Lektüren, doch ich erinnere mich nur an einen Kommentar... Hast Du Lust, noch nachzuposten? Wir müssen den Makine doch an die Leute bringen!

    Ich stimme Dir zu:


    Auch die Tatsache, dass Du das Buch als "fragwürdig" und "beunruhigend" beurteilst, tom leo, schreckt mich nicht ab - ich denke, die Thematik muss nicht unbedingt angenehm sein oder gefallen, aber auf Makines schriftstellerische Ausarbeitung zum Thema bin ich doch sehr gespannt.[/align]

    Ich hatte übrigens das Glück, ihm am Wochenende zu begegnen und es kam zu einem guten Austausch... Ein überaus sympathischer, ernster Mann, der etwas "außerhalb aller Kategorien" sucht und schreibt.

  • Vielleicht hätte der Roman durch eine Straffung der letzten zwei Drittel gewonnen? Er wird mit seinem Hauptthema so “beunruhigend” - und das über weite Strecken insbesondere der zwei letzten Drittel - , dass Ablehnung oder gar Ekel aufkommen kann. Ich selber habe bei 230 von 315 gelesenen Seiten abgebrochen kann mir nun kaum eine abschließende Meinung bilden.

    Ich kann kaum glauben, dass ich dieses Buch tatsächlich ausgelesen habe; die Thematik erscheint zu entsetzlich. Bei etwa Seite 190 habe auch ich erst mal nachdenken und mir eine „akzeptable“ Haltung des Autors zurechtlegen müssen, d.h. ich musste ihn mental auf meine Seite ziehen, sonst hätte ich genausowenig weiterlesen können.

    Es ist nun mal so, dass nicht einmal Sophokles es fertig gebracht hat, Ödipus und Iokaste in vollem Bewusstsein und mit Absicht in ihre Beziehung rennen zu lassen – ich glaube, niemand von uns muss sich fragen, warum. Keiner kann solch einen unerträglich scheußlichen Gedanken aushalten. Und dann kommt Herr Makine und wagt genau das?! Ich kann es immer noch kaum fassen!
    Da ich keinen Grund habe, in Herrn Makine ein unmoralisches Ungeheuer zu vermuten, nahm ich an, dass er Fürstin Arbelina als nicht zurechnungsfähig darstellen wollte.

    Spoiler anzeigen

    Der Schluss im Buch gab mir hierin recht: Olga Arbelina wird als eine dem Wahn verfallene Person in ein Institut für Geisteskranke eingeliefert, der Vater des Jungen entzieht ihr das Fürsorgerecht.


    Aber insgesamt muss ich sagen, dass dieses Buch schriftstellerisch gehörig daneben gegangen ist. Ich war in anderen Büchern ziemlich von den Frauenfiguren angetan, von der Art und Weise, wie Makine sie literarisch gezeichnet hat; eigentlich sollte auch hier die Idee der Olga-Figur und mit ziemlicher Sicherheit der Plot darum herum funktionieren:

    Es gäbe einige interessante “Nebenthemen” für Interessierte:
    - Denkt Fürstin Arbelina an ihre Kindheit und Jugend im ausgelassenen, ausschweifenden Rahmen zurück, scheint eine (aristokratische?) Welt verlorengegangen. Doch wie lange dauern die Verluste, die Trauer? Und wie schnell findet man sich eventuell in einem anderen Rahmen trotz “ewig dauernder Nostalgie” wieder in alten Verwirrungen, Spielchen und Maskeraden?
    - Und im Zusammenhang mit dieser gesellschaftlichen Feststellung des letzten Punktes: Inwieweit spielt auch die schöne Olga ein Spiel, macht sich was vor? Hat eventuell Recht, sich im inneren Dialog dann “das kleine Biest” zu nennen, sie, die quasi in das Verbotene einwilligt?
    - Inwieweit ist das Leben für eine 46-Jährige “vorbei”, wie ihr ab und zu suggeriert wird?


    Dies sollten meiner Meinung nach keine „Nebengedanken“ sein (Sie sind in der Geschichte jedoch beiläufig abgehandelt, da gebe ich Dir recht, @tom leo), sondern das sind Punkte, die auf die Labilität dieses Olga-Monsters ganz deutlich hinweisen müssten. Aber was macht der Autor daraus? Er bringt die Person, nein, fast die gesamte Handlung aus der persönlichen Perspektive der O. Arbelina in extrem naiver Ernsthaftigkeit in der dritten Person. Nur am Anfang, als davon die Rede ist, dass für die russischen Siedlungsbewohner die Fürstin keinen Hochmut, keinen Dünkel, keine Verzweiflung ob ihrer tristen Situation gekannt habe, sondern ihrem unwürdigen Leben gleichmütig und geradezu heiter begegnet sei, bekommt man einen Ansatzpunkt, um das Verhalten der Protagonistin später zu bewerten: sie bemüht sich nämlich keineswegs um Integration in die Gemeinschaft der „Goldenen Horde“ – nein, Olga wählt als Wohnstätte einen Anbau, der so ungünstig liegt, dass er bereits im ersten Jahr nach seinem Bau überflutet wurde, statt zu den anderen ins Gebäude zu ziehen, in dem einige Wohnungen leer stehen. Sie wahrt also den Abstand, sie gehört nicht zu ihnen. Desweiteren scheint sie mehr als alles andere mit sich selbst, ihrem Äußeren und ihrer adligen Herkunft beschäftigt zu sein; als ihr Mann sie verlässt, kann man nicht erkennen, dass sie um den Verlust einer Liebe trauert, es scheint eher, dass sie von der Beendigung der Verbindung mit dem Fürsten Arbelin geschockt ist, weil sie plötzlich völlig mittellos und ohne Aussichten dasteht. Auch die Beziehung zum Sohn vor der Drift in die bodenlose Unmoral schien einzig und allein geprägt von der Kümmernis um seine Erbkrankheit, dabei vor allem durch die Überzeugung von ihrer Schuld als Überträgerin des Gens - mehr weiß sie nicht von ihm zu berichten, nichts über seinen Charakter, seine Vorlieben etc. – sie scheint ihn in seiner Persönlichkeit gar nicht wahrzunehmen.
    Es gibt also durchaus Ansätze, die im Leser schon sehr früh im Buch Misstrauen der Protagonistin gegenüber erwecken. Doch im krassen Gegensatz hierzu steht die sprachliche Ausarbeitung Makines, die in Das Verbrechen der Olga Arbelina als verweichlicht-poetische Sprache erscheint. Weinerliche Prosa täuscht auch dann nicht über ihre Wehleidigkeit hinweg, wenn sie sprachlich äußerst elegant wirkt. Die naive Ernsthaftigkeit von Makines Prosa hat mich hierbei derart abgestoßen, dass ich am liebsten aus dem Buch gerannt wäre: da lässt er seine Protagonistin auch noch in aller Ernsthaftigkeit zugeben, in welch einen Wahnsinn sie verfallen sei und dass eine solche Beziehung vor keinem Menschen standhalten könne: ein solch unmoralisches Ungeheuer trifft keine derartigen Feststellungen in aller Ernsthaftigkeit und fährt dennoch lustig mit ihren zum Himmel schreienden Schandtaten fort – wieviel Dilettantismus will einem der Autor denn eigentlich zumuten während der Lektüre!

    Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass diese Geschichte hätte funktionieren können, wenn Olga Arbelina als unzuverlässige Erzählerin gekonnt verarbeitet worden wäre. Doch so etwas muss man beherrschen als Schriftsteller. Ich dachte immer, Autoren müssten selbst unwahrscheinlich viel und vor allem sehr Verschiedenes lesen, um schreiben zu können – hat Makine denn nie Chuck Palahniuk gelesen, oder seinen Landsmann Vladimir Sorokin, der in seinem Der Tag des Opritschniks nicht den geringsten Zweifel beim Leser aufkommen lässt, wie wenig er von den Ansichten seines Protagonisten hält? Auch Christian Kracht in Imperium kriegt das wunderbar hin, und er verwendet noch dazu eine ganz tolle Sprache mit einer Art Erich-Kästner-Anlehnung – sowas von gut! Wenn Andreï Makine eine unzuverlässige Erzählung richtig hinbekommen und seiner Sprache auch noch eine gewisse Note seelischer Verkommenheit und Dekadenz hinzugefügt hätte, dann sähe die Sache möglicherweise ganz anders aus. Denn die Protagonistin muss einen gehörigen „Sprung in der Schüssel“ haben, um so zu handeln, wie sie es in der Erzählung tut, und das muss meiner Ansicht nach in der verwendeten Sprache unbedingt widergespiegelt werden.

    Die Idee für das Buch ist doch eigentlich genial: die Mutter nimmt gerade die Krankheit, die durch generationenlange Verkommenheit ihrer eigenen Herkunft erst hervorgerufen wurde, zum Anlass für diese "Kompensation", die in haargenau dieser moralisch abgrundtiefen Verkommenheit besteht - auf so etwas muss man erst mal kommen! Das ist doch im Grunde eine Wahnsinnsidee!

    Fazit: Das Verbrechen der Olga Arbelina war für mich zwar ein extrem interessantes, aber in der Ausführung grässlich verpfuschtes Buch. Enttäuschend.

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «

    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

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