Original: Le crime d'Olga Arbelina (Französisch, 1998 )
INHALT:
An einem Sommertag 1947 findet man am Fluss der französischen Kleinstadt in der Nähe von Paris die schöne, halb entblößte 46-jährige Fürstin und Exilrussin Olga Arbelina stumm und apathisch an der Seite eines toten Mannes, eines 64 Jahre alten ehemaligen “Weißen Offiziers”. Die Menge macht sich zum Detektiv und Geschichtenerzähler, vermutet sofort ein Liebespaar, einen Mord... Oder war es doch ein Unfall?
Doch was hat es mit dieser Frau an sich? Wenn es ein Verbrechen gibt, worin besteht, bestand es? Was verbindet diese alleinstehende Frau mit ihrem an der Bluterkrankheit leidenden Sohn? Ist da etwas vorgefallen, das erschreckt und sie gleichzeitig im Banne hält?
(Warnung: Meines Erachtens sollte man die Kommentare bei amazon NICHT vor der Lektuere des Buches lesen, da sie aufknoten und kommentieren, was viel verstrickter erzaehlt wird!)
BEMERKUNGEN:
Eingebunden wird die “Geschichte” der Olga Arbelina vom Besuch eines Mannes auf einem russisch-orthodoxen Friedhof. Er hört den Erzählungen des Friedhofswärters zu, der zu jedem Grab, jeder Person eine/ihre Geschichte erzählen kann. Und er fragt nach jener dieser Frau...
Nach dieser Einführung gehen wir in den folgenden Kapiteln – und nicht immer chronologisch - in einem Perspektiv- und Erzähltonwechsel und einer Fokussierung der Kamera auf ihr Leben, zurück: jene Szene am Fluß, halb entblößt, neben einem Toten; eine heimliche Abtreibung im Jahre 1946 bei ihrer Freundin; die stets bedrohliche Bluterkrankheit ihres 14-jährigen Sohnes; ihr Leben als Exilrussin und Bibliothekarin in einer russischen Siedlung, einem Heim in der Nähe von Paris; die Kindheit in Ostrow (Russland) und Verliebtheit in den ebenso an Bluterkrankheit leidenden Cousin; die Ausschweifungen dieser kleinen Welt. Schließlich, mit der Revolution und Verarmung der Familie, wie so viele die Flucht über den Süden (Odessa, Konstantinopel) nach Paris. Fürst Arbelina rettete das junge Mädchen quasi im Verlaufe einer angehenden Vergewaltigung und wird später ihr Ehemann. 1932 wird also ihr Sohn geboren, doch schon nach einigen Jahren verläßt sie der Fürst. Es folgt eine sporadische, unliebenswürdige Liebschaft in einer Heimlichtuerei, doch ansonsten ein nach außen hin anscheinend ruhiges Leben.
Tja, damit hat man viel erzählt, und dennoch bei Makines Buch gleichzeitig gar nichts. Denn das Zentrale liegt in diesem seltsamen Verhältnis zu ihrem an der Bluterkrankheit leidenden Sohn: einerseits eine Distanz und Ignoranz, die ihn als einen “anderen” erleben läßt, sozusagen als Fremden. Andererseits die ständige Sorge, jeden Unfall zu vermeiden, aber zu wissen, dass ihm normalerweise nur ein paar Jahre bleiben werden und er – so erahnt sie wohl – nie die Freuden der Liebe und Zärtlichkeit erfahren wird. Als sie zunächst erschüttert feststellt, dass der nahezu 15-Jährige ihr ein Schlafmittel in den Tee gießt und sie nachts besucht (wozu?wofür?), will sie “das” nicht benennen. Dann kommt nahezu eine Einwilligung...
Die oben seltsam anmutende Chronologie im Erzählen läßt erahnen, dass der russische Autor seine Handlung anders als strikt linear aufbaut, zwischen den Zeitebenen springt, rückschaut. Dann wiederum variiert er ein Thema, scheint sich zu wiederholen: man findet dieses bei Makine häufige Kreisen, Wiederholen, als ob das Leben sich manchmal in einigen Handlungen, Gesten, Bildern konzentriert, auf die man immer wieder zurückkommt.
Das Verwirrende, Beunruhigende der Handlung kann meines Erachtens nicht verhindern, dass man (auch im Deutschen, wie ich ausnahmsweise dieses Buch las) die manchmal tastende, suchende, dann wiederum auch direkte, Sprache Makines wiederfindet.
Es gäbe einige interessante “Nebenthemen” für Interessierte:
- Denkt Fürstin Arbelina an ihre Kindheit und Jugend im ausgelassenen, ausschweifenden Rahmen zurück, scheint eine (aristokratische?) Welt verlorengegangen. Doch wie lange dauern die Verluste, die Trauer? Und wie schnell findet man sich eventuell in einem anderen Rahmen trotz “ewig dauernder Nostalgie” wieder in alten Verwirrungen, Spielchen und Maskeraden?
- Und im Zusammenhang mit dieser gesellschaftlichen Feststellung des letzten Punktes: Inwieweit spielt auch die schöne Olga ein Spiel, macht sich was vor? Hat eventuell Recht, sich im inneren Dialog dann “das kleine Biest” zu nennen, sie, die quasi in das Verbotene einwilligt?
- Inwieweit ist das Leben für eine 46-Jährige “vorbei”, wie ihr ab und zu suggeriert wird? Bleibt nichts mehr als den “friedlichen Lebensabend abzuwarten”?
- Wie bildeten die Exilrussen, insbesondere im Frankreich ab den 20iger Jahren, ein quasi eigenes Universum, eine eigene Gesellschaft?
...
Vielleicht hätte der Roman durch eine Straffung der letzten zwei Drittel gewonnen? Er wird mit seinem Hauptthema so “beunruhigend” - und das über weite Strecken insbesondere der zwei letzten Drittel - , dass Ablehnung oder gar Ekel aufkommen kann. Ich selber habe bei 230 von 315 gelesenen Seiten abgebrochen kann mir nun kaum eine abschließende Meinung bilden.
Was werdet Ihr dazu sagen?
ZUM AUTOR:
Andreï Makine (* 10. September 1957 in Krasnojarsk, Sibirien) ist ein französischer Schriftsteller russischer Abstammung. Makine wächst in der Provinzstadt Penza auf, ca. 700 km südöstlich von Moskau. Seit seiner Kindheit ist er durch seine französische Großmutter mit der Kultur und Sprache Frankreichs vertraut. Schon als Junge schreibt er Gedichte in Französisch und in seiner Muttersprache Russisch. Er studiert in Twer und Moskau Philologie und lehrt kurze Zeit Philosophie in Novgorod. 1987 kommt er im Rahmen eines Lehreraustauschprogramms nach Frankreich. Dort entscheidet er sich zu bleiben, erhält politisches Asyl und entschließt sich, ein Leben als Schriftsteller in Frankreich zu führen; seitdem lebt er in Paris, anfangs in sehr ärmlichen Verhältnissen. Seine ersten in französischer Sprache verfassten Manuskripte - wie den Debütroman Tochter eines Helden (1990) - gibt er als französische Übersetzungen aus dem Russischen aus, um die Skepsis des Verlags zu zerstreuen, dass ein erst seit kurzem in Frankreich lebender russischer Emigrant in einer zweiten Sprache schreiben kann. Nach enttäuschenden Reaktionen auf seine beiden ersten Romane dauert es acht Monate, einen Verlag für seinen Roman Das französische Testament zu finden, mit dem er 1995 auf einen Schlag berühmt wird. Im selben Jahr erhält er als erster Schriftsteller gleichzeitig die beiden renommiertesten Literaturpreise Frankreichs, den Prix Goncourt und den Prix Médicis. 1998 erhält er den finnischen Eeva-Joenpelto-Preis und 2005 für sein Gesamtwerk den mit 15.000 Euro dotierten Literaturpreis der Stiftung Prinz Pierre von Monaco.
(Quelle: ua Wikipedia)
Ich weiss nicht, ob ich ungeschickt gewesen bin oder mehrmaliges Lesen das Exemplat so abgenutzt hat, doch meine btb-Ausgabe fiel mir fast auseinander....