Sabine M. Gruber, Beziehungsreise

  • Der Philosoph Sören Kierkegaard hat einmal gesagt: „Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber man muss es vorwärts leben.“ Diesen Satz hat die in Klosterneuburg bei Wien lebende Schriftstellerin und Musikpublizistin Sabine M. Gruber als Motto ihrem hier vorliegenden Roman vorangestellt.


    Er erzählt die Geschichte einer Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau aus der Perspektive der Frau. Zehn Jahre hat diese Beziehung gedauert, und um zu verstehen, wie es zu dem dramatischen Ende kommen konnte, wird die Geschichte sozusagen rückwärts erzählt.


    Sabine M. Gruber beginnt mit dem zehnten Jahr, als Sophia während eines der vielen gemeinsamen Urlaube des Paares von ihrem Freund Marcus brutal vergewaltigt wird. Sie hatte die Chuzpe besessen, ihn, den Bibliothekar, der sich für einen begnadeten Rezensenten hält, zu bitten, das Manuskript ihres eigenen Romans zu lesen, den sie heimlich geschrieben hat. Schon lange vorher, schon bevor Sophia Marcus kennenlernte, hat sie geschrieben, sich dann aber von einem Brief einer anderen Autorin, die den gleichen Namen trug, abschrecken lassen. (Spielt Sabine M. Gruber hier auf eine möglicherweise selbst erlebte Begebenheit an ? Es gibt eine Schriftstellerin namens Sabine Gruber, die unlängst den Roman „Stillbach oder Die Sehnsucht“ veröffentlicht hat .)


    Schon hier zu Beginn des Buches fragt sich der von der ersten Seite an gebannt der Geschichte folgende Leser, warum sich Sophia die Beziehung zu einem solchen Mann, der regelrecht psychopathische Züge trägt, überhaupt antut. Noch im vorletzten Urlaub im zehnten Jahr glaubt sie, durch eine perfekte Urlaubsvorbereitung die Wende in ihrer Beziehung herbeigeführt zu haben:
    „Stolz und erleichtert wird sie sein, ihre wichtigste Aufgabe erfüllt zu haben: Vergangenheit retten. Vergangenheit, die in kürzester Zeit mausetot wäre, würde Sophia sie nicht unermüdlich mit Gegenwart füttern. Denn alles Vergangene stirbt, sobald es nicht mehr durch Gegenwart genährt wird. Die Angst vor dem Tod der gemeinsamen Vergangenheit wird Sophia dazu treiben, immer neue Gegenwart mit Marcus zu schaffen.“


    Fragt man sich in herkömmlich aufgebauten Romanen in der Regel, wohin sich die Handlung entwickeln wird, wie sich die Protagonisten in Zukunft verhalten werden, wie sie das angedeutete Problem, den beschriebenen Konflikt lösen werden oder auch nicht, denkt man beim Lesen dieses Romans sozusagen rückwärts. Wie ist es zu solch einer pathologischen Beziehung gekommen, voller Kälte und Gewalt seitens des Mannes, voller verzweifelter Versuche seitens der Frau, ihm alles recht zu machen und ihn ja nicht zu erzürnen. Gab es in der Vergangenheit Phasen in dieser Beziehung, in der beide glücklich waren? Haben sie sich früher öfter getroffen? Denn Sophia, so wird bald klar, muss Marcus jeden Tag und jeden Stunde ihrer gemeinsamen Urlaube abtrotzen, sich mit einer rigiden Ordnung abfinden, die er aufgestellt hat und nach der gemeinsame Zeit kontingentiert wird.


    Hat sie außer den raren und für sie immer wieder verletzenden Zeiten mit Marcus auch ein eigenes Leben und wie sieht es aus? Bald schon flicht Sabine M. Gruber sehr geschickt in die zurückerzählte Geschichte Anmerkungen ein, die dem Leser immer mehr offenbaren. Und je weiter die Geschichte rückwärts vorantreibt, wird sie fast auf jeder Seite eine erinnernde Bemerkung machen an Dinge, die erst geschehen werden, die der Leser allerdings schon kennt.


    Schon früh hat sich Sophia einem Psychotherapeuten anvertraut, der ihr - systemisch geschult – zwar gut zuhört und immer wieder Fragen stellt, sie aber nicht wirklich weiterbringt. Immer wieder von Sabine M. Gruber in den Text eingebaute längere kursiv gedruckte Texte wirken wie Auszüge aus einem Lehrbuch für Psychiatrie und legen den Eindruck nahe, dass Sophia sich sehr wohl über die psychopathologische Natur des Charakters ihres Freundes Marcus im Klaren ist. Und schon früh fragt man sich, warum sich diese durchaus sympathische Frau das antut, zumal der schon ganz zu Anfang mehrfach erwähnte Georg sich entpuppt als zuverlässiger Ehemann von Sophia, mit dem sie sehr glücklich verheiratet ist


    Es bleibt rätselhaft, warum sich Sophia über ein Jahrzehnt eine Beziehung mit einem Mann zumutet, dessen Charakter, das wird mit jedem weiter von Sabine M. Gruber zurück geblätterten Jahr deutlicher, sie schon sehr früh analysiert hatte. Sie wird von ihm schwanger, lässt das Kind abtreiben. Sie gibt ihr talentiertes eigenes Schreiben auf, um ihn, der nichts wirklich Produktives je zustande bringt, nicht damit zu provozieren. Als sie es am Ende (im Buch am Anfang) doch tut, tut er ihr Gewalt an und sie geht – endlich. Dennoch: „Sie wird Marcus` Wohnung verlassen und die Tür sorgfältig hinter sich zu ziehen. Er wird sie nicht zurückhalten. Sie wird auf den Lift warten, der sie nach unten bringen soll. Dabei wird sie wieder diese unerklärliche Angst haben, schon wieder und immer noch, diese Angst, die sie auch Jahre später noch ohne Vorwarnung und scheinbar anlasslos überfallen wird.“
    Sabine M. Grubers Roman ist eine von tiefem Verständnis für seine weibliche Hauptfigur geprägte „Beziehungsreise“, die von Jahr zu Jahr weiter in die Vergangenheit führt, und den Leser erschüttert. Mir ging das so: von Jahr zu Jahr wurde meine Hoffnung, die zunächst stark war, immer schwächer, es könnte in der Vergangenheit von Sophia und Marcus irgendetwas geben, was ihr Zusammensein rechtfertigt. Und erst jetzt mit einigem zeitlichen Abstand, beim Schreiben dieser Rezension, wird mir klar, dass meine Hoffnung beim Lesen eine Art Spiegelbild war von Sophias Hoffnung, es könnte sich in der Zukunft irgendetwas verbessern.


    Marcus wirft Sophia vor, sie sei nur aus Berechnung mit ihm zusammen, weil sie sich Begünstigung erhoffe. Gleichzeitig sagt er, er könne nichts für sie tun, weil sie ja mit ihm zusammen sei. Damit er etwas für sie tun könne, müsse sie sich von ihm trennen. Würde sie sich also von ihm trennen, würde das beweisen, dass sie berechnend ist. Bleibt sie jedoch mit ihm zusammen, beweist das ebenfalls das Berechnende, denn sie sei, sagt er, ja nur aus Berechnung mit ihm zusammen. Sophia versucht unter anderem 10 Jahre lang zu beweisen, dass sie nicht berechnend ist, sondern ihn wirklich liebt. Das Prinzip der Doppelbotschaften, die Marcus ständig aussendet, zieht sich auch in anderen Bereichen als roter Faden durch, in den Sophia sich hoffnungslos verstrickt. Die Falle schnappt gleich am Anfang zu. Die Analyse von Marcus‘ neurotischer Persönlichkeit kommt für den Leser natürlich früh, für die Protagonistin aber relativ spät.


    Ein aufwühlender, spannender Roman über die Abgründe einer Mann-Frau- Beziehung und über die fast tödlichen Fallen sich unterordnender weiblicher Liebe. Ich halte den Roman für große Literatur und wünsche mir, bald schon ein neues Buch dieser Autorin in den Händen zu halten, die ich jedenfalls nach diesem Buch niemals wieder mit der anderen Sabine Gruber verwechseln werde.