1. Akt vom 01.09 - 04.09.05

  • Bevor wir uns in "Die Physiker" versenken, hier noch ein paar Anmerkungen vorweg:


    Dürrenmatt hat kaum über seine Einfälle als Grundlage für seine Stücke gesprochen, aber im Zusammenhang mit "Die Physiker" ist eine Rezension interessant, die er im Dezember 1956 in "Die Weltwoche" zu Robert Jungks Buch "Heller als tausend Sonnen" schreibt:


    "... Robert Jungk verzichtet darauf, den Gegenstand der bedenklichen Forschung näher darzustellen, um den es hier geht, ... er zeichnet die Akteure. ... doch dringt die Möglichkeit der Höllenbombe noch nicht zu den Politikern, und im Sommer 1939 hätten noch 12 Menschen durch gemeinsame Verabredung deren Bau verhindern können. Sie taten es nicht. ... riesige Fabrikanlagen sind entstanden, die Atomforscher unter Anführung Oppenheimers in die Macht des Militärs geraten, kaserniert und überwacht ... Das Problem der Atomkraft ... kann nur international gelöst werden. Durch Einigkeit der Wissenschaftler...
    Die Frage lautet, wie sich die Physiker in der heutigen Welt verhalten müssen und nicht nur die Physiker. - Denken kann vielleicht überhaupt in Zukunft immer gefährlicher werden. ..."


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • ""Die Physiker" wurde am 21., 22. und 23. Februar 1962 im Schauspielhaus Zürich aufgeführt. Nicht, dass man die Komödie wegen ihrer etwaigen Länge in drei Teile gliedern musste. Nein, das Ereignis einer Uraufführung eines spektakulären Stückes des großen deutschsprachigen Schweizer Autors war es, was eine Verdreifachung ... verlangt. Die Zahl der angemeldeten Journalisten und interessierten Prominenz war so groß, dass man dem Kartenbedarf mit dieser mittlerweile bewährten Zürcher Lösung begegnete. Die hochgespannten Erwartungen gründeten sich nicht zuletzt auf einen vielversprechenden Theaterzettel:"
    (Peter C. Plett, Dokumente zu Friedrich Dürrenmatt "Die Physiker", in: Arbeitsmaterialien Deutsch, Stuttgart 1976, S. 18)


    Leider habe ich trotz Google diesen Theaterzettel, wie er in meinem Buch abgedruckt ist, im www nicht gefunden.


    Daher schreibe ich die wichtigsten Rollen ab:
    Doktor Mathilde - Therese Giehse (die, wenn ich mich richtig erinnere, auch die "Mutter Courage" in der Uraufführung war)
    Monika Stettler - Hanne Hiob (Tochter von Bertolt Brecht)
    Newton - Gustav Knuth
    Einstein - Theo Lingen
    Möbius - Hans-Christian Blech


    Also eine Besetzung von feinsten (ich hoffe, dass ich nicht die einzige hier bin, die sich an Gustav Knuth oder Theo Lingen - jenseits der Paukerfilme - erinnert).



    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Zuerst mal vielen Dank an Marie für diese sehr interessanten Hintergrundinformationen. Er hat damals schon ein Thema aufgegriffen, dass bis in die heutige Zeit nichts an Aktualität verloren hat. Und alleine die Besetzungsliste bei der Uraufführung ist ja phänomenal!


    Warum Dürrenmatt so ein Schattendasein fristet, ist mir auch nicht ganz nachvollziehbar. Vielleicht liegt es daran, dass er "noch nicht lange genug tot ist".


    Zum Buch: Ich habe gestern angefangen und kann jetzt schon sagen, dass ich mich wahrscheinlich wieder nicht an die vorgegebene Zeiteinteilung halten werden kann. Dafür ist das Buch zu dünn und die Geschichte zu interessant. Normalerweise habe ich ja so meine Probleme mit "Dramen" - d.h. mit verteilten Rollen, weil ich plötzlich nicht mehr weiß, wer was gesagt hat. Das schaue ich mir lieber im Theater an, wo ich zu den Rollen Gesichter habe. Bei den "Physikern" habe ich das Problem bis jetzt noch gar nicht, vielleicht auch deshalb, weil man ja zu "Einstein", zu "Newton" und möglicherweise auch zu Inspektor Voss ein "Gesicht" hat.


    Die Thematik ist ja sehr pikant, immer noch sehr aktuell und ich bin schon sehr gespannt, welche Lösungsmöglichkeiten Dürrenmatt auf Lager hat.


    Liebe Grüße!! :flower:

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • So, ich habe gerade den ersten Akt gelesen, und muss ihn nun erst einmal "verdauen". Die Vielfalt der Eindrücke muss man zuerst sortieren, oder?
    Dennoch fällt mir spontan dazu wieder Paulo Coehlo ein, diesmal das Buch "Veronika beschließt zu sterben" besitzen viele Gemeinsamkeiten (Thematik). Mittlerweile denke ich, Paulo hat die deutschen Klassiker alle gelesen und bedient sich daran :wink:

  • Wenn man zu lesen beginnt liest sich „Die Physiker“ wie ein Kriminalstück. mit ein paar Mordfällen und merkwürdigen Irren.
    Das groteske an der Geschichte ist das der Inspektor zwar den Täter, die Täter kennt aber nicht festnehmen kann.
    Die Parallelen das alle Krankenschwestern Kampf- bzw. Kraftsport treiben, sich in einen Physiker verlieben und auf etwa die gleiche Art umgebracht werden, ist doch sehr verwirrend. Das und andere verschiedene Elemente erfordern ein gründliches Nachdenken über den soeben fertig gelesenen ersten Akt.


    Genau wie ich soeben bei von Heidi gelesen habe ist mir auch bei der Szene, ich zitiere „Und weil er sich für Einstein hält, beruhigt er sich nur wenn er geigt“, Coelho „Veronika beschliesst zu sterben“ in den Sinn gekommen „Der Mann im Anzug begann die Flöte zu spielen. Ganz allmählich beruhigte die Musik ihre Seele…“, er scheint wirklich die Klassiker gelesen zu haben.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • "Die Physiker" als Gesamtwerk ist eine Groteske.


    Zum Wortbegriff sagt Wikipedia:
    "ital. grottesco zu grotta = Grotte) Eine Groteske ist eine übertriebene und dadurch witzige Erzählung oder ein ebensolches Drama (Siehe auch Karikatur) Meist handelt es sich um einen kürzeren, derb-komischen oder närrisch-seltsamen Text, der auf verzerrende, ungewöhnliche Art und Weise verschiedene, nicht zusammenpassende Elemente, scheinbar unvereinbare Gegensätze, vor allem Komisches und Grausiges, miteinander verbindet. Verbunden werden oft Lebensweisheit und Irrationales. Sie wird und wurde vor allem verwendet, um die Wahrnehmung der Verzerrung, Verfremdung und Entstellung der Welt darzustellen. Insbesondere in Epochen, in denen der Glaube an eine heile Welt besonders verloren schien, spielte sie eine besondere Rolle. Besonders in der Epoche der Romantik findet man Grotesken (Jean Paul, E.T.A. Hoffmann)."
    Dass aufgebrachte Menschen sich beruhigen (können), wenn sie Musik machen / hören, ist weder eine Erfindung von Dürrenmatt noch von Coelho, sondern eine seit Jahrhunderten erfahrbare ganz normale Wirklichkeit, die sich z.B. Erzieher, Pädagogen, Therapeuten seit jeher zunutze machen.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Hallo!


    Ja. so richtig Stoff für Diskussionen gibt es ja nicht wirklich. Es ist viel passiert, in diesem ersten Akt, aber richtig einschätzen kann ich das alles nicht. Das Verhalten der "Irren" ist ja auch sehr zwiespältig. Ich habe zwar dieses Stück einmal als Schulaufführung gesehen, kann mich nur ganz dumpf daran erinnern (damals war ich 14 oder so, und da war das Augenmerk mehr auf die schauspielernden MitschülerInnen gelegt, als auf den Inhalt, aber eine ganz wage Vermutung ganz im Hinterkopf ist geblieben, aber die will ich jetzt nicht verraten).


    Die Parallelen zu Coelho sind ja sehr interessant! Dasselbe konnte ich ja schon bei "Der Besuch der alten DAme" und "Der Dämon und das Frl. Prym" feststellen.


    Ich freue mich schon sehr, wie es weitergeht, und ob sich meine Erinnerungsfetzen bewahrheiten!


    Liebe Grüße!!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Dürremmatt bezeichnete "Die Physiker" als Kömödie.


    Zitat

    "Die Physiker" als Gesamtwerk ist eine Groteske.


    Er bezeichnete die Komödie

    Zitat

    «als die einzig mögliche dramatische Form, heute das Tragische auszusagen».


    Wikipedia:
    Dürrenmatt schuf so seinen eigenen Typus der Tragikomödie, einer Mischform aus Tragödie und Komödie.
    Wikipedia:
    Eine Tragikomödie (griech.) ist die dramatische Darstellung einer tragikomischen Handlung; im weiteren Sinn eine Tragödie, welche, wie z. B. die alten spanischen und englischen Tragödien, neben den tragischen auch komische Bestandteile enthält.
    Tragikomisch heißt die Verschmelzung des Tragischen mit dem Komischen, gewöhnlich von Ereignissen gebraucht, die in ihrer ganzen Entwicklung einen tragischen Ausgang erwarten ließen, allein plötzlich eine Wendung zu einem guten (glücklichen) Ende nehmen. Bekannte Autoren von Tragikomödien sind beispielsweise Max Frisch, Samuel Beckett und Friedrich Dürrenmatt.


    Zitat

    Dass aufgebrachte Menschen sich beruhigen (können), wenn sie Musik machen / hören, ist weder eine Erfindung von Dürrenmatt noch von Coelho, sondern eine seit Jahrhunderten erfahrbare ganz normale Wirklichkeit, die sich z.B. Erzieher, Pädagogen, Therapeuten seit jeher zunutze machen.


    Schon David, so berichtet das Alte Testament, vertrieb mit seinem Harfenspiel die Schwermut von König Saul.
    Und Platon hat in seinem Werk über den Staat den Wert der Musik zum Ausdruck gebracht. Ich zitiere: „Die Musik ist der wichtigste Teil der Erziehung. Rhythmen und Töne dringen am tiefsten in die Seele und erschüttern sie am gewaltigsten. Sie haben gutes Betragen im Gefolge und machen bei richtiger Erziehung den Menschen gut, andernfalls schlecht".
    Das ist wohlbekannt, jedoch mir, (das ist eine subektive Aussage ist mir schon klar), fällt besonders bei den Werken von Cohelo, der ein neuzeitlicher Autor ist, wie bei keinem andern auf, wie oft sich , nicht nur jetzt in Bezug auf Musik, Ahnlehnungen an Klassiker finden.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • Ich habe gerade den ersten Akt gelesen und musste mich zwingen, eine Pause zu machen.


    Ich bin begeistert: die Sprache, die Einfälle, die Seitenhiebe auf die Psychiatrie, auf die Ehe, auf die Gesellschaft im allgemeinen. Herrlich auch die pompösen Namen der Möbius-Söhne.


    Wer ist verrückter: die Insassen, die Schwestern, die Irrenärztin, die Ehefrau, der Missionar, der Kommissar? Man könnte doch jeden in die Anstalt sperren und behandeln.


    Das ist nicht nur eine Komödie, das ist eine intelligente Satire.

  • Ich habe bisher "nur" den ersten Akt gelesen, wie erwartet gefällt es mir sehr gut, ich mußte mehrmals laut lachen, gerade beim Auftritt der Familie Rose.
    Nach dem Klappentext meiner Ausgabe ist mir in etwa klar, warum sich Möbius so vor der Außenwelt abkapselt, bei den beiden anderen tapp' ich noch ein bißchen im Dunkeln. Warum bezeichnet das Frl. von Zahnd Newton als Kernphsiker, behauptet aber Möbius habe nichts mit Radioaktivität zu tun? Will sie ihn schützen, oder weiß sie es einfach nicht besser? Warum opfert sie ihre Krankenschwestern? Bin somit schon sehr gespannt auf den zweiten Teil!


    Zur Coelho-Diskussion kann ich nichts beitragen, weil ich nichts von ihm gelesen habe.


    Viele Grüße,


    Katia