Rohinton Mistry - Das Gleichgewicht der Welt / A Fine Balance

  • Inhalt:
    Man schreibt das Jahr 1975. Der Ort: Bombay. Hier treffen vier Menschen aufeinander, deren Schicksale im Mittelpunkt des Romans stehen. Dina Dalal, eine Frau Anfang Vierzig und seit fast zwanzig Jahren verwitwet; Maneck Kohlah, ein junger Student aus dem Gebiet des Himalajas; Ishvar Darji, ein unglaublicher Optimist und sein widerspenstiger junger Neffe Omprakash - zwei Schneider, die vor den unerträglichen Verhältnissen auf dem Land in die Stadt geflohen sind. Diese vier lernen sich kennen, achten und lieben und werden doch vom Schicksal wieder auseinandergerissen.
    Rohinton Mistry holt weit aus und erzählt von den Lebenswegen, die diese Menschen zu dem gemacht haben, was sie sind. Seine großen erzählerischen Bögen führen den Leser von den grünen Tälern des Himalaja bis in die Straßen von Bombay. Er erzählt von Rajaram, dem Haarsammler; dem geschäftstüchtigen Bettlermeister, Herr über eine Bettlerarmee; oder Mr. Valmik, einem Korrekturleser, der eine Allergie gegen Druckerschwärze entwickelt.
    »Laß mich ein Geheimnis verraten«, sagt Mr. Valmik zu Maneck. »So etwas wie ein uninteressantes Leben gibt es nicht.« Und dies trifft zu auf die Schicksale, die Rohinton Mistry meisterhaft miteinander verknüpft. »Das Gleichgewicht der Welt« läßt den indischen Subkontinent vor den Augen der Leser entstehen - und es ist ein gewaltiges wie auch gewaltsames Bild einer Gesellschaft, die nur auf den ersten Blick fremd erscheint.
    (Quelle: Verlagsseite)


    Der Autor:
    Rohinton Mistry wurde 1952 in Bombay geboren und lebt nun in Toronto, Kanada. Für seine Romane erhielt er viele Auszeichnungen, u.a. den kanadischen Staatspreis, den Commonwealth-Preis und zuletzt, für »Die Quadratur des Glücks«, den Kiriyama-Preis.
    (Quelle: Verlagsseite)


    Allgemeines:
    Originaltitel: A Fine Balance
    Aus dem Amerikanischen von Matthias Müller
    864 Seiten
    Fischer Taschenbuch Verlag


    Meine Meinung:
    Erzählt wird die Geschichte von vier unterschiedlichen Menschen verschiedener Kasten im Bombay der 70-er Jahre. Indien befindet sich im Ausnahmezustand.
    Im Rückblick erfährt der Leser nun das Schicksal dieser Vier.
    Dina, 1933 als Tochter eines Arztes geboren, möchte ihr Leben selbst bestimmen, doch ihr Bruder, der seit dem Tod des Vaters die Verantwortung für die Familie trägt, schlägt ihr immer wieder vegeblich einen Ehekandidaten vor. Dinas Wahl trifft auf einen jungen Pharmazeuten, den sie heiratet. Doch dieser verunglückt bald tödlich und Dina muss nach einem kurzen Aufenthalt bei ihrem Bruder für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen und übernimmt Näharbeiten.
    Doch als ihre Augen schlechter werden, muss sie sich umstellen und stellt zwei Schneider ein und nimmt darüber hinaus auch noch einen Untermieter auf.
    Ishvar und Omprakash stammen aus einer Gerberfamilie. Dukhi, Ishvars Vater, lebte mit seiner Familie in dem für Unberührbare reservierten Teil eines kleinen Ortes. Dukhi möchte, dass es seine Söhne einmal besser haben sollen und lässt sie eine Lehre als Schneider absolvieren. Dafür müssen sie in die Stadt zum muslimischen Schneider Ashraf und werden später von Dina eingestellt.
    Manek ist der Sohn einer früheren Freundin Dinas. Maneks Familie hat viele Ländereien verloren durch die Teilung und muss nun von dem Betreiben eines kleinen, nicht gut laufendem Laden leben. Trotzdem soll Manek studieren, doch ihm gefällt das Leben in dem Studentenwohnheim nicht. So soll er bei Dina einziehen.


    Mistry erzählt sehr lebendig und vielschichtig anhand der vier Lebensgeschichten über das Leben in Indien, über Kasten, Korruption und die Probleme des Landes. Dabei entwickelt der Roman einen Sog, den man sich als Leser kaum entziehen kann, die Spannung hält der Roman bis zum Schluss.
    Dabei lernt man als Leser einiges, z.B über die Auswirkungen des Kastensystems, welche Grausamkeiten dadurch entstehen können oder auch, welche Auswirkungen der verhängte Ausnahmezustand haben kann. So werden die Leute zwangsweise zu Kundgebungen gebracht, ihre ärmlichen Behausungen niedergerissen oder sie werden zur Zwangsarbeit rekrutiert.


    wikipedia

  • @Karthause:
    dann wird es Zeit, das BUch aus dem SUB zu befreien. :wink:


    Und gerade bemerkt:
    Ich habe bei Mistry - das "r" in der Überschrift vergessen, kann es aber leider nicht mehr selbst ändern.

  • Eine schöne Rezi Conor! Ich habe so viel über Indien, über das Kastensystem und Armut gelernt. Es war wie ein Sog beim lesen, deprimierend (wie schon Magdalena schrieb), aber sehr gut geschrieben!
    Eigentlich wollte ich mir damals noch "Die Quadratur des Glücks" zulegen, aber irgendwie ging das unter...

    @Karthause:
    dann wird es Zeit, das BUch aus dem SUB zu befreien. :wink:

    Lege es auf jeden Fall mal hoch, damit du es nicht aus den Augen verlierst, ich kann mir vorstellen, dass es dir gefallen könnte.

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


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  • Ich bin gerade noch mitten drin in dem Buch, aber jetzt schon fasziniert von Mistrys Schreibweise. Man lernt viel über Indien und seine Kultur, besonders über das grausame Kastensystem. Fazit: Ein tolles Buch und ich bin mir sicher, dass das auch bis zum Ende so bleibt. :thumleft:

    :study: Die verlorenen Spuren (Kate Morton)


    Wer Bücher hat und den Verstand besitzt, sie zu lesen, kann doch nie ganz unglücklich sein, hat er doch die beste Gesellschaft, die es auf Erden gibt.


    Paul Ernst (1866 - 1933), deutscher Essayist, Novellist, Dramaturg und Versepiker



    Mein Blog books2cats

  • Mir fällt gerade auf, dass in der Threadüberschrift "Misty" statt "Mistry" steht. Vielleicht könnte das noch einer der Mods freundlicherweise beheben?

  • Hallo an alle,


    ich habe mich gerade in diesem Forum angemeldet und verfasse gleich meinen ersten Beitrag.
    Ich habe in letzte Zeit ein paar Bücher gelesen, über die ich mich gerne mit anderen Leuten unterhalten hätte. Aber leider lesen die Menschen in meinem Bekanntenkreis andere Bücher...


    Heute habe ich "Das Gleichgewicht der Welt" fertig gelesen.
    Auch wenn das Thema hier schon älter ist, gibt es vielleicht jemanden, der seinen Eindruck über das Buch teilen möchte.
    Ich fühle mich nach Beendigung des Buches sehr unbehaglich. Ich bin niemand der denkt, dass ein Buch unbedingt ein Happy End haben muss, aber dass keiner der Charaktere zum Schluss das erreicht hat, was er wollte, lässt mich doch etwas unzufrieden zurück.
    Es kommt mir vor, als ob einer der Charaktere, Maneck, doch Recht behalten hat: Am Ende wird alles schlecht.


    Bis auf die Unbehaglichkeit am Ende, hat mir das Buch sehr gut gefallen.

  • Hallo @fienchen,


    erstmal Herzlich Willkommen und viel Freude hier im Forum :winken: Es ist tatsächlich bestimmt schon über zwanzig Jahre her als ich das Buch gelesen habe und die Personen und viele Details sind mir nicht mehr wirklich in Erinnerung geblieben. Nur noch der ganz grobe Inhalt. Und seid meinem letzten Beitrag auch das nicht mehr wirklich. Aber ich wollte dir trotzdem antworten und hoffe, dass das auch ok ist.

    Ich fühle mich nach Beendigung des Buches sehr unbehaglich. Ich bin niemand der denkt, dass ein Buch unbedingt ein Happy End haben muss, aber dass keiner der Charaktere zum Schluss das erreicht hat, was er wollte, lässt mich doch etwas unzufrieden zurück.
    Es kommt mir vor, als ob einer der Charaktere, Maneck, doch Recht behalten hat: Am Ende wird alles schlecht.

    Als ich das gelesen habe ist mir direkt das Lese"gefühl" von dem Buch wieder gekommen. Denn unzufrieden machte der Schluss wirklich. Das bleibt einfach. Wenn ich mich auch nicht mehr daran erinnern kann was genau geschah. Es mit der unbehaglichste (das Wort trifft es gut!) Roman gewesen an den ich mich erinnere und eine starke Kritik an das Kastensystems Indiens. Aber gleichzeitig auch ganz großartig!
    Um uns wirklich austauschen zu können, müsste ich das Buch wieder lesen. Aber vielleicht haben meine Vorredner es besser in Erinnerung wie ich :uups:

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  • @Farat
    Wenn ich ein Buch vor 20 Jahre gelesen hätte, wüsste ich wahrscheinlich gar nicht mehr, dass ich es überhaupt gelesen habe. :-, Also danke für deine Antwort!!!
    Zumindest bestätigt mich deine Antwort darin, dass das Buch den Leser mit einem ungewöhnlichen Gefühl zurück lässt und es einem deshalb wahrscheinlich in Erinnerung bleibt.


    Ich habe nochmal über das Buch nachgedacht, um meine Unzufriedenheit besser erklären zu können. Der Titel des Buches „Das Gleichgewicht der Welt“ suggeriert für mich, dass sich schlussendlich Gut und Böse die Waagschale hält. Ich würde aus diesem Gleichgewicht eine Zufriedenheit ableiten.
    Aber leider stellt sich der Inhalt des Buches so dar, als ob einem im Leben Gutes und Böses wiederfährt und sich beides am Ende in einem Gleichgewicht befindet, das allerdings bedeutungslos ist. Denn alle vier Protagonisten haben Ziele und müssen sich am Ende doch geschlagen geben und hinnehmen, dass die schlechten Ereignisse so stark waren, um ihr Leben zu verändern und die guten Erlebnisse lediglich in der Erinnerung bleiben.


    Ich hoffe, dass ihr versteht wie und was ich meine… Ich kann mich leider nicht so gut ausdrücken wie der Buchautor :uups:

  • @fienchen Gern geschehen, da siehst du mal wie tief wenigstens der Leseeindruck bei mir blieb :wink::lol: Wenn schon nicht mehr der Inhalt. :uups: Das zeigt mir immer, dass ich da ein gutes Buch gelesen hatte. Mit der Zeit verwischt sich ja immer alles.


    Aber leider stellt sich der Inhalt des Buches so dar, als ob einem im Leben Gutes und Böses wiederfährt und sich beides am Ende in einem Gleichgewicht befindet, das allerdings bedeutungslos ist. Denn alle vier Protagonisten haben Ziele und müssen sich am Ende doch geschlagen geben und hinnehmen, dass die schlechten Ereignisse so stark waren, um ihr Leben zu verändern und die guten Erlebnisse lediglich in der Erinnerung bleiben.

    Wow! Das hast du aber klasse ausgedrückt! Und würde auch das Unbehagen erklären, was einem nach der Lektüre bleibt. Es ist einfach alles so ungerecht und von wegen Balance.

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  • Das ureigenste Wesen des Menschen
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:


    Zitat:
    »Man muss ein feines Gleichgewicht zwischen Hoffnung und Verzweiflung einhalten.« Er hielt inne und dachte darüber nach, was er gerade gesagt hatte. »Ja«, wiederholte er, »letztendlich ist alles eine Frage des Gleichgewichts.«


    Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich in meiner Rezension zu diesem Buch schreiben könnte - diesem monumentalen Epos, das seine enorme emotionale Wucht gerade dadurch entfaltet, dass es den Blick nicht nur auf die dramatischen Ereignisse, sondern auch auf die kleinsten Dinge richtet. Die feinen Nuancen. Das Nichtgesagte. Die Zwischentöne. Mal ist das Buch ein farbenfrohes Spektakel, dann wieder eine zarte Szenerie leiser Philosophie. Manchmal war ich schockiert von der gnadenlos geschilderten Gewalt und dem Elend, dann wieder musste ich lachen, und mehr als einmal standen mir die Tränen in den Augen. Sei gewarnt, Leser: dies ist kein Buch, das beschönigt, und es ist auch kein Buch für erzwungene Happy Ends. Und dennoch ist es ein Buch, das verzaubert und bereichert.


    Das Indien, dass Rohinton Mistry hier zum Leben erweckt, wirkte auch mich oft wie eine gänzlich fremde Welt, manchmal fast schon bizarr in ihrer Andersartigkeit. Aber dann stutzt man und erkennt sich auf einmal wieder in den Menschen, die diese Welt bevölkern. Denn deren Wünsche, Träume und Hoffnungen mögen zwar herzzerreißend bescheiden sein, aber dennoch vertraut.


    In meinen Augen ist dem Autor nichts Geringeres gelungen, als das ureigenste Wesen des Menschen auf Papier zu bannen. Was ist Schmerz? Was ist Trauer? Was ist Ungerechtigkeit? Gerade wenn man als Leser glaubt, man könnte nicht mehr ertragen, stellen sich neue Fragen. Was ist Glück? Was ist Freundschaft? Was ist Hilfsbereitschaft? Das Gleichgewicht der Welt. Der Autor belehrt den Leser nicht, sondern lässt ihn die Antworten selber entdecken.


    Im Mittelpunkt der Geschichten stehen vier Charaktere an der unsicheren Grenze zwischen Armut und vollkommener Verelendung.


    Die Augen der Witwe Dina Dalal werden langsam zu schwach zum Nähen, aber ihr Stolz erlaubt es ihr nicht, ihren wohlhabenden Bruder um Hilfe zu bitten. Daher bringt sie in ihrer winzigen Wohnung nicht nur den jungen Studenten Maneck als zahlenden Gast unter, sondern richtet auch eine Werkstatt für zwei Schneider ein, die in ihrem Auftrag nähen - den optimistischen Ishvar und seinen wütenden Neffen Om. Herrscht am Anfang noch gegenseitiges Misstrauen, wächst die ungleiche Zweckgemeinschaft doch schnell zusammen zu einer Art Familie, die gemeinsam den turbulenten Zeiten trotzt.


    Der Autor beschreibt seine Charaktere so lebendig und glaubhaft, dass man einfach mit ihnen mithoffen und mitleiden muss. Er zeigt an ihnen das ganze Elend der niederen Kasten, aber sie verkommen dabei nicht zu Stereotypen. Kein Charakter ist nur böse oder nur gut, egal wie extrem manche auf den ersten Blick erscheinen. Mitgefühl und Hilfe kommen oft aus der unerwartetsten Ecke, und manchmal stellt man fest, dass schreckliche Dinge nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Hilflosigkeit oder Angst geschehen.


    Ich war sehr beeindruckt davon, was für ein lebendiges Bild vom Indien dieser Zeit das Buch zeichnet, von seiner Politik und seinen gesellschaftlichen Umstürzen. Man kann viel daraus lernen, und dennoch ist es kein trockenes Geschichtsbuch, sondern eine originelle, mitreißende Geschichte, deren Sog ich mich nicht entziehen konnte. Für mich ist es allerdings kein Buch, das man schnell nebenher lesen kann! Man muss jedem Kapitel genug Zeit geben, man muss mitdenken und mitfühlen, sonst betrügt man sich selbst um ein Leseerlebnis, das lange nachhallt.


    Außerdem braucht man ab und zu einfach eine Verschnaufpause, denn immer wenn man denkt, jetzt kann es für unsere Helden doch unmöglich noch schlimmer kommen, kommt es schlimmer. Und dennoch will man weiterlesen, weiterlesen, weiterlesen... Zumindest ging es mir so.


    Der Schreibstil strotzt nur so vor Atmosphäre und ist mal wortgewaltig, mal leise. Er beherrscht die volle Bandbreite der Emotionen, von schwärzester Verzweiflung bis hin zu augenzwinkerndem Humor. Einfach wunderbar, und auch die Übersetzung erschien mir sehr gelungen.


    Fazit:
    Was für ein unglaubliches Epos... Auf 864 Seiten beschwört Rohinton Mistry das Bild einer Welt herauf, die uns gänzlich fremd ist und uns dennoch den Spiegel vorhält: Indien im Jahr 1975, mit all seinen Unruhen und Umstürzen. Zwei Schneider aus der niedersten Kaste, ein junger Student und eine verzweifelte Witwe werden von ihrer jeweiligen Notsituation zu einer widerwilligen Wohn- und Arbeitsgemeinschaft gemacht, und der Leser verfolgt mit angehaltenem Atem, wie sie in den darauffolgenden Jahren vom Schicksal gebeutelt werden.


    Das Buch macht es einem nicht leicht. Meines Erachtens sollte man mit der Erwartung an die Geschichte herangehen, dass sie einem immer mal wieder auf grausamste Weise das Leserherz brechen wird, denn der Autor ist gnadenlos gegenüber seinen Charakteren. Aber es ist dennoch ein lohnendes Leseerlebnis, das ich kein bisschen bereue und das ich auch weiterempfehlen würde! Manchmal sind die bewegendsten Bücher die, die auch ein bisschen wehtun.