Julia Franck - Lagerfeuer

  • In ihrem 2003 erschienenen Roman „Lagerfeuer“ schildert Julia Franck ein bislang in der Literatur so noch nicht thematisiertes Kapitel deutsch-deutscher Geschichte: Es geht um das Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde, welches in Zeiten der deutschen Teilung für DDR-Aussiedler und Flüchtlinge, auch aus den übrigen Ländern des Ostblocks, als Übergangsquartier vor ihrer Einbürgerung und Weiterverteilung in bzw. das westdeutsche Bundesgebiet diente.


    Vier Personen treffen hier im Herbst des Jahres 1978 aufeinander: Die junge Mutter Nelly Senff samt ihrer beiden kleinen Kinder – ihr ist über eine vorgetäuschte Heirat mit einem Fluchthelfer die Ausbürgerung aus der DDR gelungen - ; die Polin Krysztyna, deren todkranker Bruder nur im Westen die lebensrettende Operation erhalten kann; der von der BRD freigekaufte Schauspieler Hans Plischke sowie der US-Amerikaner John Bird, welcher im Lager die Verhöre und Befragungen der Ausgebürgerten und Flüchtlinge vornimmt, um Stasi-Spitzel zu enttarnen und Informationen über DDR-Gefängnisse und –Institutionen zu sammeln.


    Allen Lagerinsassen ist gemein, daß sie ihr altes Leben vollständig zurückgelassen haben, ohne daß ein neues Leben zunächst in greifbarer Nähe wäre, denn vor der Einbürgerung steht ein langer Prozess aus Verhören durch Geheimdienst-Mitarbeiter der Siegermächte, Formalitäten und Untersuchungen: die Personen sind zwar schon weg, aber deshalb noch lange nicht angekommen. So werden aus Tagen Wochen, schließlich Monate des unfreiwilligen Stillstandes und Verharrens - ein Leben auf dem Wartegleis.


    Indem Julia Franck alle vier Hauptpersonen in der ersten Person berichten läßt, erhält die Geschichte ein hohes Maß an Authentizität. Besonders eindrucksvoll gerät dabei das erste Kapitel des Romans, in welchem Nelly Senff bei Ihrer Ausreise aus der DDR trotz bewilligtem Ausreiseantrag genötigt wird, auf demütigendste Art und Weise Verhöre und intime Leibesvisitationen über sich ergehen zu lassen, ehe sie das Land schlußendlich doch verlassen darf.


    Sehr eindringlich schildert Julia Franck ebenfalls die Enge in den erzwungenen Wohngemeinschaften der überfüllten Wohngebäude im Lager, das Mißtrauen der DDR-Aussiedler gegenüber vemeintlichen Stasi-Spitzeln, die Armut der Menschen und die Anfeindungen der westdeutschen Kinder gegenüber den ostdeutschen Mitschülern, den „Ostpocken“. Läuse und Ratten gehören ebenso zum Lageralltag wie die unangenehmen Gerüche aus ungewaschenen Kleidern und Haaren, in den Gemeinschaftsküchen zubereiteten Kohlsuppen oder von Menschen, denen der Umgang mit einem Deodorant nicht vertraut ist. Zwischenmenschliche Beziehungen entstehen kaum, zu groß ist das Mißtrauen der Personen untereinander, zu groß die Beschäftigung mit den eigenen Sorgen und Bedürfnissen.


    Leider verliert das Buch zum Ende hin jedoch an Qualität. Die Handlungsstränge der Hauptpersonen führen ins Leere, Julia Franck bietet dem Leser keinen Anhaltspunkt, wie sich die Wege der 4 Hauptpersonen weiterentwickeln. Zudem mangelt es dem Roman in seiner zweiten Hälfte an Glaubwürdigkeit, denn alle Personen verharren vollständig ohne Hoffnung auf der Stelle, ihnen fehlt jeglicher Antrieb, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Dem Leser kommt dies sehr suspekt vor: Nimmt eine Person die Mühen und Demütigungen einer Ausbürgerung aus der DDR auf sich, um sich am Ende schicksalsergeben in das ziellose Leben eines Zwischenaufenthaltes zu fügen ??


    Mein Fazit: Eine interessante Thematik, ein guter Anfang, sprachlich gut umgesetzt. In seiner zweiten Hälfte leidet der Roman jedoch an seiner depressiven, betroffenheits-schwangeren und leider völlig humorlosen Grundstimmung.