Hjalmar Söderberg - Doktor Glas

  • Kurzmeinung

    tom leo
    In jeglicher Hinsicht für mich ein Lesegenuß: Sprache, Stil Plot, Ideenreichtum... - und doch über 110 Jahre alt!
  • Klappentext:
    Warum Doktor Glas den Arztberuf gewählt hat, weiß er nicht mehr – das Körperliche der Menschen ekelt ihn an. Auch deshalb war er noch nie mit einer Frau liiert. Eines Tages bittet ihn die junge und schöne Gattin des abstoßenden Pastors Gregorius um Hilfe. Durch Notlügen soll der Doktor sie von der Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten befreien. Er verliebt sich und kommt ihrer Bitte nach. Als der Pastor seine Gemahlin vergewaltigt, beschließt Glas, ihn zu vergiften.
    Mit federleichtem Strich skizziert Söderberg, der überragende Stilist und einer der beliebtesten schwedischen Erzähler der Jahrhundertwende, Situationen, Personen und Stimmungen im sommerlichen Stockholm. Die schnörkellose Modernität seiner geschliffenen Sprache fasziniert noch immer.
    (von der Verlagsseite kopiert)


    Zum Autor:
    Hjalmar Söderberg (1869–1941) wurde in eine Stockholmer Beamtenfamilie geboren und arbeitete als Journalist. Ab 1895 veröffentlichte er Romane und Erzählungen, deren pikanter moralischer Inhalt ihn zum Enfant terrible der Gesellschaft machte. Er übersetzte Heine und Maupassant ins Schwedische. Mit seinen Artikeln engagierte er sich gegen den aufkommenden Faschismus. (von der Verlagsseite kopiert)


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: Doktor Glas
    Erstmals erschienen 1905
    Ein Tagebuchroman. Doktor Glas setzt sich fast jeden Abend zwischen dem 12. Juni eines nicht benannten Jahres bis zum 7. Oktober an den Schreibtisch, um seine Erlebnisse, Gedanken und Gefühle zu notieren. Im Zentrum stehen Helga Gregorius, die Ehefrau des unsympathischen Pastors der Gemeinde, und ihre Probleme mit dem Ehemann, die im Verlauf der Monate auch die des Doktors werden.
    Ein umfangreiches Anmerkungsregister, numerisch sortiert nach Fußnoten, und ein Nachwort von Antje Rávic Strubel zum Leben Söderbergs und seiner Bedeutung in der schwedischen Literatur runden das Buch ab.

    Inhalt:

    Doktor Glas übt seinen Beruf gewissenhaft, aber ohne Liebe aus. Er scheint bei der Bevölkerung anerkannt und geachtet. Nähe lässt er ungern zu, und so ist er zunächst peinlich berührt, als Frau Gregorius ihm gesteht, dass sie den Geschlechtsakt mit ihrem Mann nur mit Ekel erträgt. Glas findet einen Ausweg auf Zeit. Als er erfährt, dass der Pastor seine Frau vergewaltigt und dass sie einen jungen Liebhaber hat, ist klar: Eine endgültige Lösung muss gefunden werden. Tod des Pastors also.


    Eigene Meinung / Bewertung:
    Doktor Glas gehört trotz seinen regelmäßigen Arbeitszeiten zu den Flaneuren, die in der Literatur der Jahrhundertwende um 1900 regelmäßig in verschiedenen literarischen Gattungen bei verschiedenen Autoren auftreten. Er scheint immer Zeit zu haben, zumindest erweckt er in seinen Tagebuchberichten diesen Anschein. Ein großer Teil der Aufzeichnungen beschäftigt sich mit dem, was ihm bei seinen Wanderungen durch die Straßen begegnet, durch den Kopf geht und mit wem er wo einkehrt.
    Er kennt weder emotionale noch geschlechtliche Liebe. Helga Gregorius interessiert ihn, und Glas macht sich vor, dies sei ein distanziertes, freundliches Interesse, doch seine nächtlichen Träume, in denen Frau Pastor ihm nackt einen Strauß dunkelroter Rosen überreicht, sprechen eine andere Sprache, ebenso wie sein Wunsch, sie wieder zu sehen oder seinen Traum nochmals zu träumen. Eifersucht auf den jungen Liebhaber gesteht er sich nicht ein; er glaubt daran, nur das Wohlbefinden einer Frau im Auge zu haben, die ihm vertraut.
    „Es gibt Menschen, denen jegliches Talent zum Glücklichsein fehlt und die das mit quälender, unerbittlicher Klarheit spüren. Solche Menschen streben nicht nach Glück, sondern danach, ihrem Unglück etwas Form und Stil zu geben“ (S. 113), charakterisiert ihn einer seiner Trinkkumpane, eine Beschreibung, die Glas zwar erschreckt, aber trifft.


    Glas lebt im Dilemma zwischen Sein und Schein; die scheinbare Ehrlichkeit seiner Tagebuchbeichten entlarvt ihn und ruft ein neues Dilemma hervor: Von dem Wunsch getrieben, wenigstens zu sich selbst wahrhaftig zu sein, demaskiert er nicht sich selbst, sondern das Bild, das er von sich hat.
    Diesen Zwiespalt und die Widersprüchlichkeit des Protagonisten stellt Söderberg diffizil und detailliert dar ohne dass er ihn seziert oder psychologisch durchleuchtet. Auch wenn die Handlung eng geführt, die Zahl der Figuren gering und die Szenenfolge beschränkt ist, stellt der Autor vor allem die Episoden um den Mord - Planung, Durchführung, Folgen – in eine spannende Wechselbeziehung von persönlichem Gewissen, alltäglichem Trott und einer einzigartigen Tat.


    Die Belle Epoque war nicht arm an skandalträchtigen Autoren, die vor allem mit der Eingliederung des Geschlechtlichen in ihre Literatur Aufsehen erregten. Ein Grund zur Freude für Literaturbegeisterte, dass den hinlänglich bekannten Franzosen und den deutschsprachigen Autoren der Zeit durch diese neue Veröffentlichung ein schwedischer Klassiker offiziell zur Seite gestellt wird.


    Fazit:
    Die Innensicht eines nicht sympathischen, aber interessanten Protagonisten.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Dieses Buch hatte mich ja schon in der Halloween-Lesenacht interessiert, aber den Preis finde ich gesalzen für lächerliche 256 Seiten.
    Ich werde es mal in das Wunschbuch der Bücherei eintragen.

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Nachdem die Bücherei dieses Buch trotz Eintragung im "Wunschbuch" nicht angeschafft hat, habe ich mir jetzt die englische E-Book Ausgabe gekauft.
    Die Rezension von @Marie trifft voll ins Schwarze, da gibt es nichts zu ergänzen.


    Ich empfand den Protagonisten/ Ich-Erzähler ebenfalls als sehr interessante Persönlichkeit und nicht unbedingt als unsympathisch, vielmehr kam bei mir der Eindruck auf, er könne unter einer Art von Autismus leiden.
    Die Kapitel, in denen er über seinen Mordplan nachdenkt und diesen schließlich ziemlich spontan umsetzt, wirkten auf mich sehr fesselnd, seine gelegentlichen "philosophischen" Betrachtungen im ersten Teil waren dagegen für mein Empfinden etwas zäh, zumal ich es nicht so mit philosophischen Texten habe.
    Lieber hätte ich mehr über seine Kindheit gelesen, um zu verstehen, warum er eine so merkwürdige Einstellung zur (nicht nur, aber vor allem körperlichen) Liebe entwickelt hat.
    Diese Thematik war bestimmt für die damalige Zeit (1905) ziemlich neu und "skandalös". Auf jeden Fall ist es ein Buch, das man eigentlich ein zweites Mal lesen müsste und zu dem man auch gut an der Universität (sowohl für Literatur- als auch für Psychologiestudenten) ein Seminar abhalten könnte, um noch viel zwischen den Zeilen zu entdecken. :wink:
    Die Fußnoten gibt es in der englischen Ausgabe auch, das Nachwort zum Leben und zur literarischen Bedeutung Söderbergs, das für mich wahrscheinlich hilfreich gewesen wäre, fehlt leider.
    Ich vergebe :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb: .

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • Uff, was für ein Meisterwerk ! Stil, Sprache, « Ideen », Introspektion – hier wird einem das Beste geboten. Und ich bin mit der Feststellung einer großen Modernität sehr einverstanden. Vielleicht weniger mit den anfänglichen Sätzen aus dem zitierten Klappentext ? Geht es hier zunächst um Ekel vor Körper, weil der liebe dreiunddreißigjährige Doktor Glas keinen Sex gekannt hatte ? Sind insofern die zurückgehenden Erinnerungen an die Jugendliebe in ihrer Zartheit nur dumme Kindereien ? Oder ist es eine damals mit der Jugendliebe nicht ausgelebte Seite, die danach quasi « blockiert » war ? Immerhin ist jenes Mädchen einige Tage nach ihrem vielversprechenden Kontakt gestorben... (Trauma?). Und das Thema kommt öfter zurück. Zumindest scheint Glas den leichten « Zugang » zu Prostituierten abzulehnen… und ist eventuell mit 33 Jahren noch ein passabler heiratsfähiger Mann (in seiner Zeit) ???


    Wie dem auch sei : Glas hat auch moderne Ansichten, wenn er zB behauptet (angesichts des « Mannesrecht auf die Frau ») : « Sex ist nicht ein einzuforderndes Recht des Mannes oder eine Pflicht der Ehefrau ihrem Mann gegenüber…. » Es entfacht sich ein etwas doppeldeutiges Spiel : einerseits der Wunsch, der Pastorenfrau zu helfen, und doch zu erahnen, dass sie sich einem anderen zugehörig fühlt ; andererseits seine eigene Angezogenheit von ihr, aber auch schon alte Abgestoßenheit durch den Pastoren Gregorius (sie datiert schon seit Langem!). Wobei er in einer Art Blindheit nicht annehmen will und kann, dass er von einer anderen Frau geliebt wird…


    Wie auch in anderen Werken Söderbergs ist auch dieses fast durchgehend städtisch. Stockholm ist wie eine Hauptperson, wird mit seinen Strassen, Plätzen, Kirchen und Cafés zitiert. Wahrscheinlich eine Pracht für die Liebhaber der Stadt ?! Und mir scheint auch, auf die Schnelle betrachtet, dass zB ein Birck ebenfalls Held eines anderen Romans Söderbergs ist ?!


    Man könnte sich sätzeweise Dinge notieren…, was für ein feiner Beobachter oder – wie eine Userin sagte - « Philosoph » ist doch dieser Autor ! Und das trifft ziemlich genau viele existenzialistischen Haltungen :


    « Wenn meine Seele traurig ist, dann wird nicht die Lüge ihre Melancholie verscheuchen. »

    « Sich über sich selbst zu täuschen ist das Verachtenswerteste. »


    (usw...)

    Es scheint mir zudem, dass die festgestellte Verbitterung genau dann einsetzt als Glas quasi entscheidet, was zu tun wäre, siehe 4.Juli… (sehr interessant!). Bei allem äußeren Tun um den Arzt herum liegt das Hauptaugenmerk bei ihm und seiner inneren Entwicklung. Er verläuft verschiedene Phasen, auch nach dem zentralen Ereignis : innerer Dialog, Rechtfertigung, Langeweile, Blindheit…


    Marie : es handelt sich übrigens um das Jahr 1905 ; es wird direkt in der ersten Eintragung erwähnt.


    Ich bin schwer beeindruckt von der Schreibe Söderbergs ! Da werde ich mir noch anderes zulegen… Gefahr für den SUB!

  • es handelt sich übrigens um das Jahr 1905 ; es wird direkt in der ersten Eintragung erwähnt

    Ja? Ich habe gerade die erste Eintragung nochmal überflogen, aber nichts dazu gefunden. Ist aber nicht wichtig.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • es handelt sich übrigens um das Jahr 1905 ; es wird direkt in der ersten Eintragung erwähnt

    Ja? Ich habe gerade die erste Eintragung nochmal überflogen, aber nichts dazu gefunden. Ist aber nicht wichtig.

    Ich las das Buch auf Französisch (siehe unten). Liegt es etwa an einer Übersetzungsinterpretation oder einer anderen Urversion? In der allerersten Eintragung, schon in der circa zehnten Zeile, heißt es da "in diesem Jahre 1905..." (auf Französisch!).


    Übrigens hast Du mich ja auch zu dieser Lektüre ermuntert, glaube ich, siehe andere Rezi zu Söderberg...