Florian Illies, 1913. Der Sommer des Jahrhunderts

  • Schon beim allerersten Durchblättern dieses neuen Buchprojekts von Florian Illies habe ich mich dreißig Jahre zurückerinnert. An das Jahr 1982, in dem der damals junge Michael Rutschky als Herausgeber verantwortlich zeichnete für ein Buch, das auch eine Jahreszahl im Titel trug. „1982. Ein Jahresbericht. Tag für Tag“ war der erste von insgesamt zwei Versuchen („1983“ folgte ein Jahr später), das gerade erst vergangene Jahr kritisch Revue passieren zu lassen und den zeitgenössischen Lesern einen etwas anderen Jahresrückblick bot.


    Im nächsten Jahr sind es genau einhundert Jahre her, dass 1913 überall in Europa zwar das, was dann auf eine vorher nie für möglich gehaltene zerstörerische Weise mit dem Ersten Weltkrieg über Europa kam, schon spürbar war, aber niemand wirklich damit rechnete. Im Gegenteil: in der Politik, aber auch in der Kultur und den Wissenschaften war dieses Jahr geprägt durch eine beispiellose Stimmung der Begeisterung und des Aufbruchs. Ideale, neue Trends und Stimmungen – überall wurde experimentiert.


    Mit chronologisch geordneten, unterschiedlich langen Anekdoten verfolgt Florian Illies das Leben und Wirken der Größen der europäischen Kultur quer durch die Hauptstädte Europas. Er ermöglicht es dem Leser auf eine überaus unterhaltsame Weise, Schriftsteller wie Heinrich und Thomas Mann, Kafka und Hesse zu begleiten und an dem Entstehen neuer Werke Anteil zu nehmen. Auch die Werke und das Leben großer Maler wie Picasso und Franz Marc werden immer wieder verfolgt. Große Theaterpremieren werden gefeiert und wichtige Begegnungen großer Köpfe geschildert.


    Überall wird eine ganz besondere Stimmung spürbar, eine ganz aufregte Energie wirksam, die nicht nur die Kulturschaffenden damals ergriffen hatte. Wie, als wollten sie mit ihrem Streben etwas aufhalten, was aber 1913 schon längst nicht mehr aufzuhalten war. Ohne es zu wissen, stehen die Menschen 1913 schon an einem Scheideweg, der mit zwei Kriegen in Europa Tod und Vernichtung für Millionen von Menschen brachte.


    Florian Illies ist es mit dieser dokumentarischen Arbeit gelungen, eine andere Art von Geschichtsbuch zu schreiben, unterhaltsam, informativ und zwischen den Zeilen mit einem durchaus kritischen Ansatz.

  • Ich wollte das Buch vor ein paar Wochen schon mal anfangen. Zu dem Zeitpunkt war es mir aber irgendwie zu kleinteilig. Dann habe ich jetzt um den Jahreswechsel noch mal einen Versuch gestartet und siehe da, auf einmal fand ich es spannend kurz vorm Jahresbeginn 2013 zu lesen, was die Gesellschaft (vor allem Künstler, Schriftsteller und historische wichtige Persönlichkeiten bei Illies) vor 100 Jahren so umgetrieben hat und was damals in Gang gekommen ist.

    "Was immer geschieht: Nie dürft Ihr so tief sinken,
    von dem Kakao, durch den man Euch zieht, auch noch zu trinken!"
    (Erich Kästner)

  • Ich kann mich Winfrieds Rezension voll und ganz anschließen, ich habe die Lektüre genossen :D

    Florian Illies ist es mit dieser dokumentarischen Arbeit gelungen, eine andere Art von Geschichtsbuch zu schreiben, unterhaltsam, informativ und zwischen den Zeilen mit einem durchaus kritischen Ansatz.

    Ich hab mich teilweise auch wirklich einfach amüsiert über die unterhaltsamen kleinen Nebenepisoden und -sätze, die so beiläufig fallen, dass man sie beinahe überlesen könnte. Auch so manch kleiner ironisch/sarkastischer Seitenhieb sorgte für Unterhaltung. So kann Geschichts-Lektüre eben auch sein. :wink: Ein Genuss für alle, die sich auch nur ein wenig für Geschichte interessieren. Und vielleicht ein Einstieg für all jene, die sich bisher nicht an Geschichtsbücher herantrauten :D

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Joseph Roth - Hiob

    :study: Mike Dash - Tulpenwahn


  • Worum es geht

    Florian Illies erklärt das Jahr 1913 für den Beginn der Moderne und betrachtet es vor allem aus dem Blickwinkel der Künstler. In kurzen Sequenzen zeigt er seinen Lesern, womit sich zeitgenössische Maler, Dichter und Musiker, aber auch Männer, die noch Geschichte schreiben sollten, in diesem Jahr beschäftigten oder was sie gerade bewegte.

    Große Romane und Gemälde werden begonnen, leidenschaftliche Gefühle gehegt, sinnliche Briefe mit großen Erwartungen versandt. Musikalische Experimente erhitzen die Gemüter und in der Kunst bricht das Ende der Gegenständlichkeit an. An Krieg denkt noch niemand, doch sind wichtige Akteure einer fernen Zukunft Anfang dieses Jahres für einen kurzen Moment gleichzeitig in Wien. Adolf Hitler, der zur Zeit noch Postkarten malt, Josef Stalin und Josip Broz, später besser bekannt als Tito.

    Der Leser blickt wie durch ein Kaleidoskop in die Welt vor 100 Jahren und kann sich selber davon überzeugen wie modern sie in vielen Bereichen tatsächlich schon war.


    Wie es mir gefallen hat

    Die Idee des Autors das Jahr 1913 Monat für Monat Revue passieren zu lassen finde ich ganz großartig. Dabei kommen aber nicht nur Künstler zum Zug, der Leser erfährt auch von liebenswerten Randnotizen. So gab es Schnittmuster nur in großen Größen zu kaufen, während die bedauernswerten allzu schlanken Evastöchter in einer Sonderausgabe bedacht werden mussten.

    Noch nie gehört hatte ich von Norman Angells Weltbestseller "The Great Illusion", und war umso erstaunter zu lesen, dass er die Intellektuellen auf der ganzen Welt mit seiner Theorie überzeugen konnte, dass es niemals zu einem großen Krieg kommen werde. Einen Weltkrieg mache das Zeitalter der Globalisierung schon deshalb unmöglich, weil alle Länder wirtschaftlich zu eng miteinander verknüpft seien und nur Schaden erleiden würden. Wen hat das allerdings ein Jahr später interessiert? Den alten Kaiser, der seit unglaublichen 65 Jahren auf dem Thron saß, jedenfalls nicht. Und ich selber kenne diese Argumentationsweise auch nur aus der heutigen Sicht. Dass sie bereits vor 100 Jahren veröffentlicht wurde, hätte ich nie vermutet.

    Künstler ahnten vielleicht eher etwas von der Katastrophe, auf die Europa zusteuerte. Franz Marc malt ein Bild vom "Balkankrieg" mit dem Titel "Die Wölfe", und auch Ludwig Meidner verewigt in seinen Landschaftsbildern Visionen des Grauens.

    Naturschützer wie der Philosoph Ludwig Klages erhoben damals ebenfalls bereits ihre Stimmen, warnten vor der Moderne und dem Fortschritt, die nicht ohne Zerstörung der Umwelt zu erlangen waren.

    Oskar Kokoschka hingegen hat andere Sorgen. Als Alma Mahler nichts mehr von ihm wissen will, lässt er sich die Geliebte nachbauen, wobei er größten Wert auf jede Falte und jeden Fettpolster legt. Mit der Puppe lebt er länger zusammen als mit deren Vorbild aus Fleisch und Blut.


    Es war die Sichtweise auf dieses Jahr 1913, die mir so gut gefallen hat. Mehr oder weniger wichtige Ereignisse wechseln sich ab mit unbedeutenden Nebensächlichkeiten, dazu der nicht alltägliche Blick auf die Macken und Gemütszustände der agierenden Personen, und auch stilistisch hat der Autor seine Sache gut gemacht.

    Was ich mir dennoch, und sei es in einem Nachwort, gewünscht hätte, ist ein kurzer historischer Überblick über die Zeit der Jahrhundertwende, um die vielen Details, die der Leser erfahren hat, in einen größeren Zusammenhang einbetten zu können.

  • Im Buchhandel habe ich es bisher immer links liegengelassen. Aber durch "Druckfrisch" bin ich dann mit der Nase drauf gestupst worden. jetzt ist es auf dem Wunschzettel, mal schauen, wie lange. Vielen Dank jedenfalls für eure Meinungen zum Buch, ich kann mir jetzt schon ein ziemlich gutes Bild davon machen.

  • Karthause, ich bin mir ziemlich sicher, dass es Dir gefallen wird. Der Blick aus einer sehr eingeengten Perspektive ist jedenfalls mal etwas anderes und zudem eine recht originelle Idee. Mir hat zwar, wie gesagt, die Einbettung in einen größeren Zusammenhang gefehlt, aber insgesamt tut dieses kleine Manko der Qualität keinen Abbruch.


    Warum Florian Illies ausgerechnet das Jahr 1913 zum Beginn der Moderne erklärt hat, konnte ich dem Text ebenfalls nicht entnehmen. 1911 oder 1912 hätte sich vielleicht genau so gut geeignet. In dieser Hinsicht hat mir also der Erklärungsbedarf gefehlt. Aber sonst - :thumleft: !

  • Kurzweilig zu lesen ist diese Art der (Kultur-)Geschichte allemal. Hut ab vor dem Autor, der es geschafft hat, immer wieder die richtigen Stichworte zur Überleitung von einem Abschnitt bzw. Abschnittchen zum nächsten zu finden.
    Aber ich denke, gerade in der kurzweiligen Darstellung liegt auch ein wenig das Problem: von allem ein wenig, nichts richtig und der große intellektuelle Anspruch, die Besonderheiten des Jahres 1913 heraus zu arbeiten im Vergleich zu anderen Jahren, fehlt mir hier gewaltig. Ich denke, mit genügend Energie ließe sich etwas vergleichbares für nahezu jedes Jahr aufstellen. Wäre sicher auch nicht uninteressant, aber so vermittelt mir das Buch ein wenig den Eindruck des verzweifelten Versuches ein Steckenpferd massentauglich zu machen. Dank sehr guter Recherche und kurzweiligem Stil ist das auch so weit gelungen, dass es eben unterhält. Aber ich denke, das war nicht allein das Ziel. Wie ich schon im 365-Bücher-Thread sagte: für mich wirkt es wie intellektuelle Fastfood-Literatur, so es solche gibt. Nett, aber irgendwie weder Fisch noch Fleisch.
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb: