David Peace - Tokio im Jahr null

  • Kurzbeschreibung (von amazon):


    Der spektakuläre Auftakt zu David Peace’ lang erwarteter Tokio-Trilogie


    Tokio 1946: Zwischen Häuserruinen und zerbombten Straßenzügen jagt Inspektor Minami einen eiskalten Serienmörder, der auch vor der Polizei nicht haltmacht. Und auch Minami selbst muss sich den dunklen Schatten der Vergangenheit stellen, die ihn einzuholen drohen.


    Über den Autor (von amazon):


    David Peace wurde 1967 im Westen Yorkshires geboren. Nach einem Studium an der Technischen Hochschule von Manchester arbeitete er jahrelang als Englischlehrer in Istanbul. Danach lebt er mit seiner Familie viele Jahre in Tokio. Heute lebt David Peace wieder in Yorkshire. Peace wurde u. a. mit dem Grand Prix du Roman Noir ausgezeichnet und in die renommierte Granta's List of Best Young British Novelists aufgenommen.
    Für seine Romane 1974 und Tokio im Jahr null wurde David Peace mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet.


    Zum Inhalt:


    Tokio, 1946. In einem Park wird die unbekleidete Leiche einer Frau aufgefunden, kurz darauf eine zweite. Inspektor Minami wird mit den Ermittlungen im Fall der zweiten aufgefundenen Leiche beauftragt und er steht mächtig unter Erfolgsdruck. Denn während die Gruppe, die den ersten Todesfall untersucht, schon bald Erfolge aufweisen und einen Täter präsentieren kann, tappt Minami weiterhin im Dunklen, er hat noch nicht einmal die Identität des Opfers klären können. Nach und nach begreift er, dass die Vergewaltigung und Ermordung der Frauen mit einem Fall zusammenhängen könnte, der sich ein Jahr zuvor ereignet hat. Aber auch hier kann er nur schwer Nachforschungen anstellen, denn in diesem Fall wurde bereits von der Geheimpolizei ein Täter "ermittelt", außerdem scheint die Akte zu diesem Fall spurlos verschwunden zu sein.
    Die immer wieder stattfindenden Säuberungsaktionen bei der Polizei setzen ihn zusätzlich unter Druck, denn er gewinnt den Eindruck, dass auch er selbst auf der Abschussliste steht und bereits bespitzelt wird.
    Um sein karges Einkommen aufzubessern, arbeitet Minami auch als Spitzel für die Menschen, die den Schwarzmarkt in Tokio beherrschen. Dies hat er auch bitter nötig, denn er hat nicht nur eine Familie zu ernähren, sondern muss außerdem noch seine Geliebte unterhalten.
    Minami entdeckt immer mehr Fälle von vermissten Frauen, die in das Muster passen und die möglicherweise dem verhafteten Täter zugeschrieben werden können...


    Meine Meinung:


    "Tokio im Jahr null" ist wohl das erste Buch, bei dem meine subjektive und meine objektive Meinung so gar nicht zusammen passen wollen und bei dem ich überhaupt nicht wusste, wie ich es bewerten soll.


    Zunächst einmal das Positive:


    "Tokio im Jahr null" ist ein sehr spannendes Buch. Spannend nicht nur wegen der Krimihandlung, sondern vor allem wegen der persönlichen Geschichte des Ermittlers, in die man beim Lesen nur nach und nach Einblicke erhält, und auch wegen der Beschreibung der Zustände im Nachkriegs-Tokio. Tokio, eine Stadt, in der Korruption, Prostitution und Unterwerfung unter die Besatzungsmacht an der Tagesordnung sind. Die Atmosphäre, die David Peace hier zeichnet, ist düster, beklemmend und beängstigend. Unter diesen schwierigen Umständen muss Minami seine Ermittlungen führen, unter Lebensumständen, die für uns heute kaum vorstellbar sind.


    Auch Inspektor Minami ist eine sehr interessante Figur. Recht schnell wird deutlich, dass es in seiner Vergangenheit - und auch in der von anderen Personen - dunkle Punkte gibt. Worin diese bestehen, bleibt aber lange unklar. Oft war ich mir auch nicht sicher, ob die Szene, die ich gerade lese, nun eine eben stattfindende Handlung ist, oder eine Erinnerung. Dies machte für mich das Buch sehr spannend, aber auch ein wenig verwirrend.


    Und nun zum (aus meiner Sicht) Negativen:


    Schon als ich "1974" gelesen habe, fiel mir der etwas ungewöhnliche Sprachstil von David Peace auf, aber in "Tokio im Jahr null" treibt er das ganze auf die Spitze. Der Autor bedient sich einer sehr abgehackt wirkenden Sprache. Gedanken und Erinnerungsfragmente der Protagonisten werden bruchstückhaft mitten in die Dialoge und die Handlung hineingeworfen. Sätze und auch ganze Absätze werden ständig wiederholt. Ich weiß nicht, wie oft der Satz: "Es juckt und ich kratze mich. Gari-gari" (Gari-gari ist das japanische Wort für ein Kratzgeräusch) in dem Buch auftaucht, aber ich habe ihn allein auf einer Seite 11mal gezählt. Sicher ist diese ständige Verwendung und Wiederholung von Begriffen, Sätzen oder ganzen Textpassagen ein Stilmittel, um die Stimmung und die Verfassung der handelnden Personen, insbesondere von Inspektor Minami, oder auch die Trostlosigkeit in dieser zerbombten Stadt zu beschreiben und zu verdeutlichen - und vielleicht gar nicht mal ein so schlechtes. Aber ich fand diese ständigen Wiederholungen auf Dauer ermüdend.


    Irgendwie war ich beim Lesen die ganze Zeit hin- und hergerissen zwischen Bewunderung dafür, wie David Peace mit solch recht einfachen Mitteln eine solche Atmosphäre erzeugen kann, und absolutem Angenervtsein, wenn ich zum Beispiel Passagen wie


    "Ich bin wieder auf der Toilette des Polizeireviers Atago. Ich habe mich wieder übergeben. Wieder schwarze Galle. Ich stehe am Waschbecken, spucke aus und wische mir den Mund ab. Ich drehe den Wasserhahn auf, wasche mir das Gesicht und starre in den Spiegel. Ich will mich nicht erinnern..."

    so oder in abgewandelter Form wieder und wieder lesen musste.


    Ich habe recht schnell gemerkt, dass dieser Sprachstil absolut nicht meins ist. Da ich die Geschichte trotz allem aber wahnsinnig spannend fand, habe ich Seite für Seite weitergelesen, habe mich dann aber oft dabei ertappt, dass ich die Stellen mit den Wiederholungen nur noch überflogen habe. Das war vielleicht ein Fehler, denn am Ende wartet das Buch mit einer Wendung auf, die ich nicht erwartet hatte. Deshalb habe ich mich im Nachhinein über mein unaufmerksames Lesen geärgert, denn möglicherweise habe ich dadurch so manchen Hinweis überlesen oder auch einfach nicht richtig interpretiert. Und so denke ich nun immer noch über das Ende des Buches nach und bin mir bei manchen Dingen nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden habe.


    "Tokio im Jahr null" ist der erste Teil einer Trilogie - und schon wieder bin ich hin- und hergerissen. Ich habe bei amazon die Rezi zum zweiten Teil gelesen, und ich glaube, dass auch dieses Buch wieder sehr spannend ist und ich würde es gerne lesen. Gleichzeitig weiß ich aber schon jetzt, dass mich dieser eigenartige, ungewöhnliche Sprachstil wieder an den Rand der Verzweiflung treiben wird. Vielleicht warte ich einfach noch ein Weilchen ab und versuche es dann irgendwann später einmal mit dem nächsten Band der Reihe.


    Fazit:


    "Tokio im Jahr null" ist ein sehr spannendes Buch, nicht nur oder nicht unbedingt wegen der eigentlichen Krimihandlung, sondern eher wegen der Hauptperson des Buches, Inspektor Minami, in dessen Vergangenheit es so einige dunkle Punkte zu geben scheint. Auch die Beschreibung vom Nachkriegs-Tokio ist sehr interessant zu lesen und der Autor schafft es, eine düstere und beklemmende Atmosphäre zu erzeugen. Der Sprachstil des Buches ist sehr eigen, er ist abgehackt und bruchstückhaft, Sätze und ganze Passagen werden immer und immer wieder wiederholt. Im Nachhinein möchte ich schon sagen, dass es sich wohl lohnt, diese ständig wiederholten Passagen aufmerksam zu lesen und zu hinterfragen. Voraussetzung dafür ist aber, dass man sich auf diesen eigenartigen Schreibstil einlassen kann, das war bei mir leider nicht so ganz der Fall.
    Mit der Bewertung des Buches war ich mir zuerst unsicher, denn der große Kritikpunkt an dem Buch ist für mich ja eben dieser Schreibstil. Das wiederum ist aber eine sehr subjektive Meinung, und das können andere Leser ja ganz anders empfinden, und so vergebe ich für das Buch trotz allem :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:

    "Vergiss nie, was du bist, denn die Welt wird es ganz sicher nicht vergessen. Mach es zu deiner Stärke, dann kann es niemals deine Schwäche sein. Mach es zu deiner Rüstung, und man wird dich nie damit verletzen können."
    (Aus "Die Herren von Winterfell" von George R. R. Martin)


    :study: "Auris - Die Frequenz des Todes" von Vincent Kliesch

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  • Hier ist noch die Original-Ausgabe:

    "Vergiss nie, was du bist, denn die Welt wird es ganz sicher nicht vergessen. Mach es zu deiner Stärke, dann kann es niemals deine Schwäche sein. Mach es zu deiner Rüstung, und man wird dich nie damit verletzen können."
    (Aus "Die Herren von Winterfell" von George R. R. Martin)


    :study: "Auris - Die Frequenz des Todes" von Vincent Kliesch