Die 27- jährige Katie Greene wird mitten in der Nacht aus ihrem Bett geklingelt. Die Polizei steht vor der Tür und teilt ihr mit, dass ihre jüngere Schwester Mia, die sich gerade auf Weltreise, einer Backpackertour, befindet, tot aufgefunden worden ist.
Selbstmord.
Ein Sturz von einer Klippe auf Bali.
Doch eigentlich hätte Mia gar nicht auf Bali sein dürfen, schon gar nicht alleine, sondern mit ihrem besten Freund Finn zusammen in Australien.
Katie will und kann nicht an einen Selbstmord glauben, auch wenn sich Mia vor ihrer überstürzten Reise außergewöhnlich distanziert und abweisend gegeben hat und alle Fakten doch für einen Suizid sprechen...
Und so folgt Katie ihrer inneren Stimme und reist anhand Mias Reisetagebuches, dem sie ihre intimsten Gedanken und Gefühle anvertraut hat, den Spuren ihrer Schwester hinterher:
Aus dem kalten London, über Kalifornien, Maui und Australien bis sie schließlich auf Bali ankommt...
Katie will all das sehen und erleben, was auch ihrer Schwester widerfahren ist, um der kleinen Schwester, von der sie sich in den letzten Jahren doch so entfremdet hat, endlich wieder näher zu kommen, sie nicht vollends zu verlieren.
Und so taucht Katie immer tiefer in das Leben ihrer drei Jahre jüngeren Schwester ein, klammert sich regelrecht an Mias Tagebuch und wirkt dennoch verloren bis sie schließlich das Rätsel um ihren dramatischen Tod löst.
Eine Geschichte über Familiengeheimnisse, die eine zerstörerische Kraft entfalten, sobald sie ans Tageslicht gelangen, über eine scheinbar glückliche Liebe, aber auch eine offensichtlich unglückliche und von Beginn an verlorene Liebe, feinfühlig und ruhig und dennoch spannend erzählt.
Aber hauptsächlich ist "Die Landkarte der Liebe" eine Geschichte über zwei ungleiche, entzweite Schwestern:
Katie, die besonnene, sonnige, bodenständige, aufgeschlossene, verantwortungsbewusste große Schwester, die verlobt ist und von einem verantwortungsvollen Job ausgefüllt wird.
Und Mia, das unstete, sprunghafte, rastlose, unnahbare, launische, zurückgezogene Nesthäkchen, welches sich hierhin und dorthin treiben lässt und dennoch immer auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit ist, und sich stets im Schatten der älteren Schwester wähnt und sich schließlich in der Dunkelheit verliert.
Die Verbundenheit zwischen den Schwestern wird für den Leser in jeder Zeile sichtbar, auch wenn sie für Katie und Mia nicht immer spürbar ist. Zarte, aber auch realistische und nachvollziehbare Rückblicke in die Kindheit und Jugend vervollständigen das Bild um die ungleichen Schwestern.
Die Liebe, die sie füreinander empfinden, treibt sie gleichzeitig zueinander hin, aber auch voneinander weg. Und so entstehen schnell Missverständnisse oder auch Lügen, die vielleicht auch Mias Schicksal besiegelt haben.
Durch Mias Tagebucheinträge enthüllt sich langsam die Wahrheit um Mia, um die Gründe des Geschwisterkonflikts sowie auch um Mias Tod.
Doch wird die Aufdeckung der Wahrheit Katie und Mia wieder näher zueinander bringen oder wird die Kluft dadurch nur noch größer werden?
Wird sich Katie mit Mia über den Tod hinaus aussöhnen können?
Wird der Tod ihrer kleinen Schwester für Katie erklärbar werden?
Wie viel Schuld wird sich Katie noch aufladen müssen?
Auf der Reise um die Welt findet jedoch nicht nur Mia Antworten auf ihre Fragen, die sie schon seit ihrer Jugend umtreiben, die sie schon immer an sich und ihrer Familienzugehörigkeit hat zweifeln lassen.
Sondern auch Katie wächst über sich hinaus, überschreitet ihre persönlichen Grenzen, hinterfragt ihr bisheriges Leben und plötzlich auch ihre Zukunft.
Und so wird die Reise für beide Schwestern zu einer Sinnsuche.
Wobei ich aber auch zugeben muss, dass die Handlung zwischen Vorhersehbarkeit und Überraschung schwankt, und der eine oder andere Charakter zuerst klischeehaft scheint, sich später jedoch als tiefgründig und zerrissen entpuppt. Sie wirken menschlich, ihr Verhalten ist nachvollziehbar, auch wenn sie Fehler begehen, verletzen - absichtlich und unabsichtlich.
Und dabei ist die Geschichte vor atemberaubender und exotischer Kulisse auch noch mit einer leisen und leichten Spannung erzählt:
Von wem stammt die Trauerkarte mit der gewisperten Entschuldigung und der seltenen Orchidee?
Warum haben sich die Wege von Mia und Finn getrennt und warum ist Mia von ihrer ursprünglich geplanten Reiseroute abgewichen?
Was oder wer hat sie auf die indonesische Insel getrieben oder gelockt?
Und schließlich die Frage nach Mias vermeintlichen Selbstmord - durch welche Ereignisse ist Mia in diesen Tunnel hineingeraten, aus dem sie wohl keinen Ausweg mehr gesehen hat?
Sehr gelungen fand ich auch die Erzählstrukur:
Einerseits reist man mit Katie Mias Spuren hinterher und andererseits wird jedes zweite Kapitel aus Mias Sicht erzählt. Zwischendurch auch mal aus Finns Sicht.
So erhält man eine chronologische Handlung, obwohl sie zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart hin und her springt, und gleichzeitig wird sie aus verschiedenen Perspektiven erzählt, sodass dem Leser Katie, Mia und auch Finn nahekommen und schließlich berühren.
Ich finde es nur ein wenig schade, dass man nicht mehr in Mias Tagebucheinträgen lesen konnte und stattdessen immer direkt gelesen hat, was Mia erlebt hat. Durch mehr Tagebucheinträge wäre die Leseerfahrung sicherlich noch intensiver geworden. Aber dennoch ist die gesamte Handlung und auch der Schreibstil einfühlsam, behutsam, leise und ruhig. Die Geschichte hat mich einfach in ihren leise rauschenden Bann gezogen.
Außerdem merkt man "Die Landkarte der Liebe" an, dass die Autorin eigene Reiseeindrücke in ihrem Debütroman verarbeitet hat, denn schließlich ist Lucy Clarke mit einem professionellen Windsurfer verheiratet und hat somit schon alle stürmischen Strände dieser Welt gesehen.
Und so befindet sich der Leser an einsamen und nächtlichen Stränden, an sturmumtosten Klippen, auf Strandpartys und in Kneipen, in lauten und schäbigen Hostels mit anderen Rucksackreisenden, man reist rastlosen Surfern und ihren Wellen hinterher, und so weckt "Die Landkarte der Liebe" trotz des traurigen und tragischen Hintergrunds der Reise ein wenig Fernweh...
Und genau deshalb ist "Die Landkarte der Liebe" auch cooler, moderner und jünger als das fast schon biedere Cover und der kitschige Titel vermuten lassen. Den Originaltitel "Swimming at Night" hätte man auch beibehalten können... Er wäre passender gewesen als der deutsche Titel... Fast wirkt der Roman wie ein zartes, behutsames Roadmovie.
Als Leser reist man zwar Mias Landkarte hinterher, in der auch echte Liebe ihre Spuren hinterlassen hat, aber dennoch auch tiefere oder schmerzhaftere Abdrücke zu finden sind:
Die Verbundenheit von Schwestern, die zwischen Liebe und Hass hin und her pendelt, Freundschaft bis hin zu zarter Liebe, aber auch unerwiderter, unglücklicher Liebe, Selbstfindung, Sinnsuche, Sehnsucht, die Kraft tragischer Geheimnisse, gärender Lügen, stechender Missverständnisse und unausgesprochener Worte, und wie all diese Ereignisse so einen sensiblen Menschen wie Mia in einen derart verhängnisvollen Strudel treiben können.
"Die Landkarte der Liebe" ist ein Roman, bei dem am Ende wieder das Gefühl beim Lesen zählt, der Geschwisterkonflikt, bei dem die Grenzen zwischen Liebe und Hass ineinander fließen, sicherlich für sehr viele Leser und Leserinnen nachvollziehbar ist, und das Leben und Lieben und Leiden von Katie, Mia und Finn einfach berührt und zu Tränen rührt.
für diese gefühlvolle Geschichte inklusive eines literarischen Round- the- world- tickets!
Und ich bin schon sehr gespannt, ob Lucy Clarkes nächster Roman auch in Deutschland veröffentlicht werden wird - es würde mich wirklich freuen!
"Die Landkarte der Liebe" erscheint erst im März 2013 unter dem Titel "Swimming at Night" in der Originalausgabe: Klick .