Stephan Thome - Fliehkräfte

  • Inhalt:
    Hartmut Hainbach ist Ende fünfzig und hat alles erreicht, was er sich gewünscht hat: Er ist Professor für Philosophie und hat seine Traumfrau geheiratet, die er nach zwanzig Jahren Ehe immer noch liebt. Dennoch ist Hartmut nicht glücklich. Seine Frau ist nach Berlin gezogen, sodass aus der Ehe eine Wochenendbeziehung geworden ist, die gemeinsame Tochter hält die Eltern auf Distanz, der Reformfuror an den Universitäten nimmt Hartmut die Lust an der Arbeit. Als ihm überraschend das Angebot zu einem Berufswechsel gemacht wird, will er endlich Klarheit: über das Verhältnis zu seiner Tochter, über seine Ehe, über ein Leben, von dem er dachte, dass die wichtigen Entscheidungen längst getroffen sind.
    Drei Jahre nach seinem gefeierten Debüt "Grenzgang" gerät in Stephan Thomes neuem Roman Fliehkräfte wieder einer ins Straucheln. Und mit atemberaubendem Gespür für die Niederlage, für das, was wirklich schmerzt, schickt Thome seinen Helden auf eine alles entscheidende Reise. Über Frankreich und Spanien führt sie ihn bis nach Lissabon und zugleich in die Vergangenheit, ganz nah heran an die Verwerfungen und Abgründe des gelebten Lebens.
    (Quelle: Verlagsseite)


    Der Autor:
    Stephan Thome wurde 1972 in Biedenkopf/Hessen geboren. Nach dem Zivildienst in einer sozialpsychiatrischen Einrichtung in Marburg studierte er Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie in Berlin, Nanking, Taipeh und Tokio. Von 2005 bis 2011 arbeitete er in Taipeh als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Forschungseinrichtungen und veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zur modernen Philosophie Chinas. Sein Roman Grenzgang stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2009 und gewann den aspekte Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres. Seit 2011 arbeitet Thome als freier Schriftsteller.
    (Quelle: Verlagsseite)


    Meine Meinung:


    Zitat

    "Man ist nie zu alt, um sich zu ändern, oder? Ich meine echte, grundsätzliche Veränderung."
    "Nein, theoretisch nicht." (S. 39)


    Hartmut Hainbach ist Philosophie-Professor an der Bonner Universität und befindet sich kurz vor der Pensionierung. Er kann auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Mit seiner aus Portugal stammenden Frau Maria ist er seit 20 Jahren glücklich verheiratet, gemeinsam haben sie eine Tochter, Philippa.
    Nach dem Auszug von Philippa, die nun in Santiago de Compostela studiert, ist Maria aus beruflichen Gründen nach Berlin gezogen und arbeitet dort am Theater. Die Ehe wird zur Wochenendehe.
    Von dem Berliner Verleger Peter Karow wird Hartmut Hainbach ein Angebot unterbreitet. Nun steht Hainbach vor einer Richtungsentscheidung, ob er die sichere, gut bezahlte Professur aufgeben soll und einen neuen, riskanten Schritt wagen soll.
    Hainbach fällt diese schwere Entscheidung nicht sofort, begibt sich mit dem Auto Richtung Süden nach Portugal, um seine Tochter zu besuchen.
    Unterwegs macht er Zwischenstopp bei einer ehemaligen Geliebten, nimmt eine Anhalterin mit, reist weiter an die französische Atlantikküste, um dort einen ehemaligen Kollegen zu besuchen.
    Es ist nicht nur eine Reise quer durch Europa, sondern auch eine durch Hainbachs Vergangenheit. Bei den Besuchen muss Hainbach feststellen, dass seine Vorstellung von dem Anderen falsch war. Seine Beziehung zu Philippa ist konfliktbeladen und hält zudem noch eine für ihn nicht ganz angenehme Überraschung parat, als er bei ihr ankommt.


    Sehr geschickt wechselt Stephan Thome bei dem Roman die Zeitebenen, springt zwischen Vergangenheit/Hainbachs Erinnerungen und Gegenwart hin und her.
    Mit dem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman "Fliehkräfte" ist ihm ein realistisch anmutender, tiefgründiger und fesselnder Roman gelungen. Vielleicht sollte man noch die gut gelungenen Dialoge erwähnen.
    Für mich ist es mein Monatshighlight.

  • Da muss ich dir ganz klar zustimmen...ebenfalls mein Monatshighlight ;)


    Meine Rezension
    Mit Stephan Thomes Roman “Fliehkräfte”, welcher diesen Monat erschienen ist, gelingt es dem Suhrkamp Verlag ein drittes Buch in die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 zu bringen. Die Geschichte um den Philosophieprofessor Hartmut Hainbach skizziert in erster Linie ein Erlebnis, was in der Romanwelt mit Sicherheit nicht neu ist, dem Autor gelingt es jedoch zweierlei Reisen des Protagonisten in einer einzigen zu verbinden.


    Wenn man in seinem Leben alles erreicht hat und plötzlich vor einer großen Entscheidung steht, fällt diese einem sicherlich nicht leicht. Hartmut Hainbach ist zwar verheiratet, führt jedoch seit einiger Zeit eine immer distanzierter werdende Fernbeziehung zu seiner Frau – er doziert in Bonn, sie schauspielert in Berlin. Mit seiner Stelle als Dozent ist er eigentlich sehr zufrieden, seine Tochter Philippa studiert in Hamburg und absolviert derzeit einen Sprachkurs im spanischen Santiago de Compostela. Hartmut steht vor der Wahl – soll er das gemeinsame Haus verkaufen und seiner Frau Maria zuliebe einen schlechter bezahlten Job in Berlin annehmen oder sie lieber doch verlassen? Um seine Entscheidung zu treffen reist er von Bonn über Paris bis in die spanische Pilgerstätte in der seine Tochter derzeit lebt, um sich nicht nur über seine Entscheidung klar zu werden, sondern auch sein nicht ganz perfektes Leben noch einmal Revue passieren zu lassen.


    Die eigentliche Reise dient Hartmut im Prinzip nur als Mittel zum Zweck, denn gerade dadurch, dass er Personen und Orte aus vergangenen Zeiten wiedertrifft fühlt er sich an seine Erlebnisse zurückerinnert, ganz gleich ob es sich um die mit seiner Frau handelt, die Bekanntschaft eines alten Freundes der nun in Frankreich lebt oder die eigene französische Exfreundin die er in Amerika kennengelernt hat handelt. Gerade dadurch, dass die Geschichte um den Philosophen zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her pendelt, liegt die volle Konzentration des Lesers bei Hartmut, der uns in seiner Gedankenwelt beinahe sein gesamtes Leben präsentiert, womit sich auch ganz klar immer die Frage stellt ob er seine portugiesische Ehefrau noch liebt oder noch lieben kann, und vor allem ob er sich für ein weiteres gemeinsames Leben für sie entscheiden kann. Im Grunde geht es immer um die Familie, und so ist es kein Wunder, dass Hartmut sich für eine spontane Reise zu seiner Tochter entscheidet – die ebenfalls mit einer Überraschung auf ihn wartet.


    Der Protagonist dieses Romans hat vieles mit dem Autor gemeinsam, denn beide haben Philosophie in Berlin studiert und stammen aus dem Landkreis Marburg-Biedenkopf, Thome weiß also ganz genau wovon er schreibt, denn beide Orte spielen auch im Roman eine kleine Rolle. Mit seinem aktuellen Werk “Fliehkräfte” ist es der zweite Versuch den Deutschen Buchpreis zu gewinnen, denn mit seinem Roman “Grenzgang” war er bereits 2009 in der Shortlist vertreten. Gute Voraussetzungen, denn sein neuer Roman gefällt wirklich ausgesprochen gut, auch wenn die Handlung einer Reise in die Vergangenheit nicht gerade neu ist. Mit vielen Denkansätzen und Impressionen versehen liest sich “Fliehkräfte” wie eine würdige Hommage an das unvollkommene Leben, konstruiert mit einer Reise, ähnlich wie selbst Hemmingway sie in “Über den Fluss und durch die Wälder” konzipiert hat. Ob der Finalist Thome den Deutschen Buchpreis 2012 gewinnt, wird sich am 8. Oktober herausstellen, man darf also gespannt sein.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • In seinem neuen, wieder für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman „Fliehkräfte“ erzählt der in Biedenkopf in Hessen geborene Stephan Thome von einem Philosophieprofessor, dessen Leben und dessen Ehe aus den Fugen geraten sind, und der, seiner Vergangenheit nachdenkend und seiner Zukunft entgegenpilgernd, versucht, den „Fliehkräften“, die ihn und sein Leben auseinanderzureißen drohen, Einhalt zu gebieten.


    Wie schon die Hauptperson in Thomes gefeierten Debütroman „Grenzgang“ stammt auch Professor Hartmut Hainbach aus der oberhessischen Heimatstadt von Thome, die hier wie dort Bergenstadt heißt. Hartmut Hainbach ist Ende fünfzig, seine Tochter ist erwachsen geworden, und lebt in Santiago de Compostela mit einer Freundin zusammen. Gegen Ende des Buches wird sie ihren Vater über die wahre Natur dieser Freundschaft aufklären. Hartmuts Frau Maria stammt aus Portugal, wo die Familie über viele Jahre jeden Sommer verbracht hat.


    Doch seit zwei Jahren hat sie die gemeinsame Wohnung in Bonn verlassen, wo Hartmut Hainbach seit vielen Jahren eine Philosophieprofessur innehat. Sie lebt in Berlin und arbeitet dort als Assistentin und auch zeitweise Geliebte eines außergewöhnlichen Theaterregisseurs. Unglücklich über diesen Zustand, versuchte Hartmut Hainbach bislang vergeblich sich beruflich zu verändern. Da kommt ihm ein Angebot des Eigentümers eines wissenschaftlichen Verlags in Berlin gerade recht, wo er das philosophische Programm ambitioniert betreuen soll.


    Hartmut Hainbach weiß nicht, wie er sich entscheiden soll, nicht zum ersten Mal in seinem Leben. Er fragt sich, ob seine Frau überhaupt möchte, dass er nach Berlin kommt. Kann er aus seinem Vertrag an der Uni Bonn heraus? Wird er nicht erhebliche Teile seines Pensionsanspruchs verlieren? Das sind nur wenige der Hunderten von Fragen, die Stephan Thome seinen Protagonisten in diesem Roman immer wieder stellt. Fragen, die manches Mal keine Antwort finden und im Raum stehen bleiben.


    Hartmut Hainbach hält die unklaren Lebensverhältnisse nicht mehr aus. Er setzt sich in sein Auto, verlässt Bonn und bricht zu so etwas wie einer Pilgerreise auf, bei der ihm und dem Leser sein ganzes bisheriges Leben vor Augen geführt wird. In Paris trifft er seine erste große Liebe wieder, in Südfrankreich besucht er einen ehemaligen Bonner Kollegen, der vor Jahren schon der Uni aus Frust über den unsäglichen „Bologna-Prozess“ den Rücken gekehrt hat und am neuen Ort ein Weinlokal betreibt. Überall dort erhofft er sich Antworten und wird doch immer nur mit neuen Fragen konfrontiert. Wie auf einem echten Pilgerweg eben. Schon hier und erst recht auf seiner Weiterfahrt nach Portugal zu den Verwandten seiner Frau und seiner Tochter wird nicht nur ihm, sondern auch dem Leser deutlich, dass das Leben eines Menschen mehrere Anfänge hat, dass es aus Abschnitten besteht, die jeweils ihren eigenen Beginn, ihr eigenes Ende und ihren eigenen Sinn haben, auch wenn der sich nicht immer sofort und oft erst unter Schmerzen erschließt.


    Sehr geschickt wechselt Stephan Thome die Zeitebenen und lässt seinen Protagonisten immer klarer werden, ohne dass er gleich die Antwort auf seine Fragen wüsste. Aber er macht sich immer weniger selbst etwas vor, lässt seine Verzweiflung zu und kommt so langsam sich selbst und in der Folge dann auch den Menschen, die er liebt, wieder näher. Immer mit der Maxime: „Manchmal ist es besser, einen falschen Schritt zu tun, statt grübelnd auf der Stelle zu treten.“


    Es sind solche Weisheiten und die schon erwähnten unzähligen Fragen, mit denen Thome nicht nur seine Hauptfigur auf einen neuen Weg bringt, sondern auch den Leser, wenn der nur kritisch genug die Parallelen zu seinem eigenen Leben spürt, erheblich ins Nachdenken bringt.


    Was kann Literatur mehr leisten? Ein großer, empfehlenswerter Roman, der zu Recht die Nominierung für den Dt. Buchpreis verdient hat, auch wenn ihm das dieser Tage manche Kritiker absprechen.

  • Thomes zweiter Roman hat mich wieder so fasziniert, dass ich die fast 500 S. in weniger als 2 Tagen verschlungen habe und ich bin restlos begeistert.
    Wieder eher wenig Action, dafür aber fein ziselierte Charaktere, die sich schonungslos kritisch selbst hinterfragen und mir dadurch sehr ans Herz wuchsen.
    Wie bereits vorher erwähnt, machen die Zeitsprünge einen besonderen Reiz aus, wieder klären sich offene Fragen erst in späteren Kapiteln, ohne dass ich das verwirrend fand.
    Und Friedi hat es auf den Punkt gebracht, schöner kann man es nicht sagen:

    Mit vielen Denkansätzen und Impressionen versehen liest sich “Fliehkräfte” wie eine würdige Hommage an das unvollkommene Leben,

    Für das relativ offene Ende bin ich dankbar!
    Der Autor ist jung, ich wünsche ihm noch ein langes u produktives Schriftstellerleben (der Wunsch ist nicht ganz uneigennützig). :winken:

    "Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du kennst - aber vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was du bist." Elias Canetti

  • Das freut mich, dass dir der Roman gut gefallen hat, cheriechen.

    Zitat

    Der Autor ist jung, ich wünsche ihm noch ein langes u produktives Schriftstellerleben (der Wunsch ist nicht ganz uneigennützig).


    Dem kann ich mich nur anschließen. :wink:

  • Inhalt

    Hartmut Hainbach und seine Frau haben sich in einen kaum lösbaren Konflikt manövriert. Ehemann, Ehefrau und erwachsene Tochter befinden sich zu Beginn der Handlung in verschiedenen Städten und sind dabei, ihre Erwartungen aneinander zu klären. Der Philosophieprofessor fühlt sich wenige Jahre vor seiner Pensionierung erschöpft und ernüchtert vom Reformdesaster an deutschen Universitäten; seine Frau Maria Antonia hat sich mit 50 reichlich spät überlegt, dass sie gern ein eigenes Einkommen haben und das an einem Theater in Berlin verdienen möchte. Da die gemeinsame Tochter bereits 20 Jahre alt ist und das Elternhaus zum Studium in Spanien verlassen hat, hätte es vermutlich lange vorher in der Region Bonn für sie Möglichkeiten zur Berufstätigkeit gegeben. Wenn Hartmut an der Uni die Brocken hinwerfen will, müssen beide das finanzieren können – zwei Wohnsitze wie zur Zeit sind dafür die ungünstigste Voraussetzung. Der Konflikt im Hause Hainbach ist ein Luxusproblem, das sich Paare mit nur einem oder zwei schmalen Einkommen erst gar nicht leisten können.


    Fazit

    Stefan Thomes Romane habe ich in der umgekehrten Reihenfolge gelesen, zuerst das Buch über Maria und nun das Buch über Hartmut. Das bereue ich nicht, weil Maria für mich als Person erheblich interessanter war als Hartmut. Beide Bücher ergänzen sich wie zwei Hälften und sind verknüpft durch Szenen, die in beiden Romanen vorkommen. Das Wissen, warum Hartmut sich vom Beruf ausgelaugt fühlt, lässt einen den zweiten Roman besser verstehen, umgekehrt beurteilt vermutlich diese Luxusprobleme anders, wer Marias Vorgeschichte kennt. Hartmut am geschilderten Wendepunkt in seinem Leben fand ich sehr glaubwürdig, seine leicht salbungsvolle, suffisante Art hat mir ausgesprochen gut gefallen, auch wenn ich die Krise des Paars sehr weit ausgewalzt fand.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

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    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow