Mechtild Borrmann - Der Geiger

  • Eben erst für ihr Buch „Wer das Schweigen bricht“ mit dem Deutschen Krimipreis 2012 ausgezeichnet, legt die Schriftstellerin Mechtild Borrmann ihren nächsten Roman vor, ein Buch, das sich zwar spannend list wie ein Krimi, doch eindeutig nicht in diese Kategorie gehört.


    Der Roman erzählt die Geschichte einer Familie und einer Geige und ist gleichzeitig eine Dokumentation von bis in die Jetztzeit reichenden unterdrückerischen Strukturen in der Sowjetunion bzw. in Russland. Auf verschiedenen Zeitebenen bewegt sich Mechtild Borrmann sehr geschickt, wechselt sie permanent und lässt sozusagen die ferne Vergangenheit und die aktuelle Gegenwart aufeinander zu wachsen. Dem Leser werden damit schrittweise die Zusammenhänge klar, auch wenn er auf die doch überraschende Lösung fast bis zum Ende warten muss.


    In der Jetztzeit wird erzählt von Sascha Grenko, einem Russlanddeutschen, der nach einer Knastkarriere vor allem wegen seiner profunden PC-Kenntnisse, die er sich dort erworben hat, bei einer Kölner Detektei Arbeit findet. Eines Tages meldet sich Saschas Schwester Viktoria, die er ewige Zeiten nicht gesehen hat, mit einem Hilferuf. Als er in ihrer Wohnung ankommt, ist sie gerade umgebracht worden. Natürlich gerät er irgendwann selbst in Verdacht, doch das kümmert ihn zunächst wenig.


    Er setzt sich mit Unterstützung seines Chefes auf die Spur de Täter. Es ist die alte Geiger seines Großvaters Ilja Grenko, der 1949 in Ungnade fiel und in der sibirischen Zwangsarbeit irgendwann sein Leben lässt, die sich als die Ursache all der rätselhaften Vorgänge in der Gegenwart erweist.


    Um diese Geschichte der Geige, einer Stradivari zu erzählen, nutzt Borrmann zwei parallele Erzählebenen. Die eine ist das Schicksal von Ilja Grenko selbst, die zweite das seiner Frau, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen vom Geheimdienst in die Verbannung geschickt wird.


    Als Anfang der neunziger Jahre Saschas Eltern als Russlanddeutsche ausreisen können in die Bundesrepublik, forschen sie mit Hilfe eines Anwaltes der Geige nach und verunglücken nur kurze später tödlich. All diese bislang unzusammenhängenden Ereignisse beginnt Sascha auf seiner lebensgefährlichen Aufklärungsreise zu verstehen.


    „Der Geiger“ ist ein bewegendes und erschütterndes Buch, dem es gelingt, ohne große Effekte das System des russischen Terrors in den Straflagern zu schildern und seine Ausläufer bis in die Gegenwart. Die historischen Fakten sind gut recherchiert und bieten dem Leser gute Informationen über dieses System.


    Es ist spannend zu lesen und ganz hervorragend komponiert in den sich aufeinander zu bewegenden Erzählsträngen.

  • Moskau im Mai 1948. Der begnadete Geiger Ilja Grenko wird nach einem seiner Konzerte verhaftet und verliert dabei seine Familie und seine kostbare Stradivari, ein Familienerbstück.
    Jahre später wird sein Enkel Sascha Grenko, der in Deutschland aufwuchs, mit seiner Vergangenheit und der verschwundenen Geige konfrontiert.
    Er ahnt dabei nicht wie tief er und seine Familie in den Kampf um das kostbare Instrument hineingezogen werden.
    Ich habe bisher noch relativ wenige Bücher über die UdSSR gelesen. Das Einzige zu dieser Thematik war die Trilogie von Tom Rob Smith, die sich allerdings nur mit der Vergangenheit von Russland zu dieser Zeit beschäftigte.
    „Der Geiger“ von Mechtild Borrmann thematisiert die Zeit von 1948 bis zur Gegenwart. Dabei wird abwechselnd pro Kapitel aus der Sicht von Ilja Grenko, seiner Frau Galina, die nach Iljas Verhaftung mit den Kindern in die Verbannung geschickt wird und aus der von Sascha erzählt, der versucht die Vergangenheit seiner Familie aufarbeitet.
    Normalerweise bin ich nicht der Fan von allzu vielen Perspektivwechseln, aber hier wird so anschaulich und mitreißend erzählt, dass ich es gar nicht erwarten konnte zu erfahren wie die Geschichte der drei Protagonisten weitergeht.
    Zudem werden die Schrecken des damaligen Regimes, dessen Auswirkungen bis zur Gegenwart und die Schmerzen der Opfer mit einer ausgewählten und klaren Sprache sehr realistisch und berührend geschildert.
    „Der Geiger“ war für mich nicht nur ein realistisches, bewegendes und einfach gutes Buch, es gibt auch einen sehr guten Einblick in die damalige Zeit und fesselt den Leser von der ersten Seite an.
    Das Ende fand ich gut und vor allem passend.


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  • Aufwühlend, weil es das so wirklich gab


    Ich lese für mein Leben gern. Oft entspanne ich mich mit Geschichten, die mit der Realität sehr wenig zu tun haben. Hin und wieder reizen mich aber auch Romane, die durchaus einen Bezug zu meiner Realität haben, auch wenn sie alles widerlegen, was mir jahrelang in der Schule von den Geschichtslehrern erzählt wurde.


    Die Kurzbeschreibung des bei Amazon Vine angebotenen Romans der deutschen Kriminalautorin Mechtild Borrmann reizte mich. Die Autorin selbst war mir bislang unbekannt. Dabei wurde die 1960 in Köln geborene Schriftstellerin, die schon mehrere Romane und Kurzgeschichten veröffentlichte, erst in diesem Jahr für ihr 2011 erschienenes Buch „Wer das Schweigen bricht“ mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet. Ich war gespannt.


    Der Geiger


    Moskau 1948. Der russische Geiger Ilja Grenko und seine Stradivari verschwinden nach einem Konzert am Tschaikowsky-Konservatorium spurlos. Offiziell wird behauptet, dass er von einer Tournee aus Wien nicht zurückgekehrt und damit ein Verräter ist. Seine Frau Galina und die Söhne Pavel und Ossip werden nach Sibirien verbannt.


    Köln 2008. Sascha Grenko ist Informatiker und hat nach einer bewegten Jugend seinen Lebensweg gefunden. Eines Tages wird er überraschend von seiner Schwester, von der er als Kind getrennt wurde, kontaktiert. Als er dann wenig später ihren gewaltsamen Tod mit ansehen muss und selbst in die Bredouille gerät, macht er sich auf die Suche nach der Wahrheit…


    Eine Reise in die Vergangenheit


    Viel zu schnell hatte ich diesen ergreifenden Roman ausgelesen. Die Autorin erzählt die packende Geschichte einer Familie, die aufgrund eines fürchterlichen Systemverbrechens zerbrach. Dabei bedient sie sich einer angenehmen Sprache und eines einfachen, aber sehr bildhaften Schreibstils.


    Das Buch lässt sich durchweg flüssig lesen. Der Aufbau mit den verschiedenen Perspektiven der Protagonisten ermöglichte mir als Leserin ständig einen Informationsvorsprung, der die Spannung anheizte. Obwohl nur die ersten beiden Kapitel Ort und Zeit, bzw. nur die Zeit in der Überschrift haben, fiel es mir absolut nicht schwer, die Zeit dann selbstständig zu dem jeweiligen Kapitel zuzuordnen.


    Schlimm empfand ich, dass die Gründe für das schwere Schicksal der Protogonisten, die am Ende natürlich aufgeklärt wurden, fast banal waren, sich aber wie ein roter Faden bis in die Jetztzeit wanden. Noch schlimmer allerdings, dass diese Dinge im sogenannten Sozialismus tatsächlich möglich waren.


    Ich selbst bin in der DDR aufgewachsen. Die Sowjetunion war der „Große Bruder“, bei dem, laut unserem Geschichtsunterricht, alles noch besser und schöner und härter erkämpft war als in der DDR. Die Stalin-Ära wurde zu meiner Schulzeit in den Geschichtsbüchern nur am Rande erwähnt. Grauenvolle Menschenrechtsverletzungen, die ja mittlerweile historisch belegbar sind, wurden einfach totgeschwiegen.


    Wenn ich daran denke, dass ich meine Jugend in der gleichen politischen Naivität verlebte, wie der Geiger Ilja, läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken. Im Nachhinein fallen mir einige unbedarfte Gespräche zwischen mir und meinen Freunden ein, die auch uns in fatale Situationen hätten bringen können. Und die Bedingungen, unter denen politische Häftlinge in der DDR untergebracht waren, hatten auch nichts mit Menschenwürde oder Menschenrechten zu tun.


    So hat mich „Der Geiger“ von Anfang bis Ende in Atem gehalten. Das Ende fand ich sehr gut gewählt, da es für mich, als sehr gerechtigkeitsbedachten Menschen, einen Hoffnungsschimmer hinterließ. Komplette Wiedergutmachung für solche Verbrechen gibt es wahrscheinlich nie.


    Ich möchte für dieses Buch eine 100%ige Leseempfehlung abgeben. Die Autorin hat mich mit ihrer Geschichte durch meine Herkunft sehr persönlich berührt.


    Doch auch Leser, die in einem anderen politischen System aufgewachsen sind, sollten die darin behandelten Menschenrechtsverletzungen nicht kalt lassen. Und wenn sie die von der Autorin geschilderte Auflösung dafür als zu banal für solche Verbrechen empfinden, kann ich ihnen im Grunde und von der Logik her eigentlich nur zustimmen.


    Das Paradoxe daran ist aber leider, dass die Autorin sich nichts aus den Fingern gesogen hat, sondern dass Menschen und ihre Familien in der Realität damals auch aus noch nichtigeren Gründen vernichtet wurden.


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  • Verlagstext

    In einer Nacht im Mai 1948 verliert der begnadete Geiger Ilja Grenko seine beiden wertvollsten Schätze: seine Familie und seine Stradivari. Erst dem eigensinnigen Sascha Grenko, Iljas Enkel, wird es viele Jahrzehnte später gelingen, Licht in das grausame Geschehen von damals zu bringen. Doch der Preis dafür ist hoch - viel zu hoch …


    Die Autorin

    Mechtild Borrmann wurde 1960 geboren und lebt heute in Bielefeld. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie am Niederrhein. Bevor sie sich dem Schreiben von Kriminalromanen widmete, war sie u.a. Tanz- und Theaterpädagogin, Groß- und Außenhändlerin und als Gastronomin tätig. Seit 2011 ist Frau Borrmann freie Schriftstellerin und Mitherausgeberin des Literaturmagazin “Tentakel”. 2012 wurde ihr Roman “Wer das Schweigen bricht” mit dem Deutschen Krimi Preis 2012 ausgezeichnet.


    Inhalt

    Alexander Ossipowitsch Grenko hat so ziemlich alles erlebt - er ist wegen mangelnder Intelligenz in die Sonderschule geschickt worden, landete nach dem Tod seiner Eltern im Heim, bald darauf im Knast. Weil in Deutschland kein Vatersname nach dem Vornamen benötigt wird, ist aus dem jungen Mann inzwischen Sascha Grenko geworden, Mitarbeiter eines Kölner Personenschutz-Unternehmens, das beste Kontakte zu Informanten in den verschiedensten Ländern unterhält. Ein Anruf, den Sascha für geschäftlich hält, entpuppt sich als privat. "Sascha, ich bin in Schwierigkeiten. Es geht um unsere Vergangenheit, und ich brauche deine Hilfe." Nach fast 20 Jahren hört Sascha zum ersten Mal wieder die Stimme seiner Schwester Viktoria. Die Geschwister waren kurz nach der Übersiedlung der Familie aus Kasachstan und dem plötzlichen Tod ihrer Eltern voneinander getrennt worden. Seither hatte Sascha gehofft, Viktoria hätte es gut getroffen, aber nicht gewagt, seine Hoffnung zu überprüfen.


    In zwei weiteren Erzählsträngen führt Mechthild Borrmann ihre Leser nach Russland, wo 1948 Saschas Großvater Ilja, ein berühmter Geiger, wegen seiner Auslandskontakte verhaftet und in ein Arbeitslager deportiert wird. Seit diesem Tag ist Grenkos Stradivari verschwunden, die sein Vorfahr als Geschenk des Zaren erhalten hatte. Auch Grenkos Frau Galina und die beiden kleinen Söhne werden als Angehörige eines Häftlings für ein Jahrzehnt nach Karaganda in Kasachstan deportiert. Galina schlägt sich dort, wo der Winter in manchen Jahren schon im September beginnt, mit schwerster Arbeit durch. Sie glaubt der Auskunft der Behörden, ihr Mann habe sich ins Ausland abgesetzt. Die Umsiedlung nach einigen Jahren ins mildere Klima Almatys empfindet sie bereits als Erleichterung ihrer Lebensbedinungen. Der Anlass, warum sich in der Gegenwart in Deutschland Viktoria um Hilfe an ihren Bruder wandte, verwickelt Sascha in eine lebensgefährliche Schnitzeljagd durch Deutschland und Russland. Sascha hat zwischen dem Tod seiner Eltern, dem seines Onkels in Kasachstan und der Lagerhaft des Großvaters eine Verbindung hergestellt und ist nun mit dem einzigen Beweismittel für diesen Zusammenhang auf der Jagd nach der Person, die Ilja Grenko vor 60 Jahren um seine kostbare Stradivari betrogen hat. Sascha als Nachkomme des Musikers steht nach deutschem Rechtsempfinden das seltene Instrument zu.


    Fazit

    Aus der Vergangenheit berichtet Mechthild Borrmann eindringlich und schnörkellos. Die Erlebnisse des Ehepaars Grenko in der Verbannung während der Stalin-Dikatatur wirken durch Parallelen zu Berichten von Zeitzeugen, die damals in Kasachstan lebten, sehr glaubwürdig und sind spannend zu lesen. Die Jagd nach der Stradivari als Handlungsstrang der Gegenwart fällt dagegen sehr schmal aus und wirkt auf mich weniger rund als die Vorgeschichte Iljas und Galinas. Ein gelungener historischer Krimi für Leser mit Interesse an der Stalin-Ära oder dem Schauplatz Kasachstan.


    (26.8.2012)


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    Hat den Titel des Themas von „Mechtild Borrmann, Der Geiger“ zu „Mechtild Borrmann - Der Geiger“ geändert.