Sibylle Berg - Vielen Dank für das Leben

  • Klappentext:
    Toto ist ein Wunder. Ein Waisenkind ohne klares Geschlecht. Zu dick, zu groß, im Suff gezeugt. Der Vater schon vor der Geburt
    abgehauen, die Mutter bald danach. Und doch bleibt Toto wie unberührt. Im kalten Sommer 1966 geboren, wandelt er durch die DDR, als ob es alles noch
    gäbe: Güte, Unschuld, Liebe. Warum, fragt er sich, machen die Menschen dieses Leben noch schrecklicher, als es schon ist? Toto geht in den Westen, wo der
    Kapitalismus zerstört, was der Sozialismus verrotten ließ. Nur zwei Dinge machen ihm Hoffnung - das Wiedersehen mit Kasimir und sein einziges Talent: das

    Singen. Es führt Toto bis nach Paris. Ein wütender, schriller Roman einer großen Autorin über das Einzige im Leben, was zählt.


    Meine Meinung:

    Das war mein erstes Buch von Frau Berg und mir ist bisher kein vergleichbares Werk untergekommen. Noch nie habe ich ein Buch
    gelesen, in dem es dermaßen von Sarkasmus und überspitzten Darstellungen wimmelt. Der Stil der Autorin ist außergewöhnlich und am besten lässt sich das durch
    Zitate belegen. Es gibt so viele tolle Textstellen, dass die Auswahl richtig schwer fällt.


    Zitat

    „Keiner fühlte sich wie die anderen. Die Menschen sind doch immer zu dick, zu dünn, sie sind taub oder blind, Contergan-Opfer,
    die Eltern geschieden oder Trinker oder zu spießig, sie sind homosexuell oder sexsüchtig oder asexuell, zu groß, zu klein, sie haben Autismus oder Epilepsie,
    Herzprobleme, Schweißfüße, einen Buckel, Akne, keiner entspricht der Norm, und selbst aus Metall gestanzte Figuren wie Bankangestellte und
    Versicherungsmitarbeiter, Anwälte und Mitarbeiter diverser Aufsichtsräte leiden unter Blasenschwäche. Als Teil der Welt, die doch allen gleichermaßen gehört,
    fühlt sich keiner.“ (S. 134)

    Wenn Frau Berg austeilt, dann kommt wirklich keiner glimpflich davon. Hier bekommen alle erdenkliche Gruppierungen ihr Fett
    weg: Frauen, Männer, Prostituierte, Hausfrauen, Menschliche Triebe an sich, Sextouristen, Möchtegern Wohltäter und Geistliche. Jeder von uns bekommt den
    Spiegel vorgehalten. Und was man da sieht, das gefällt einem gar nicht!


    Zitat

    „Die Menschen nahmen den Sex so wichtig, weil sie dabei nicht denken mussten, das lag ihnen nicht, das Denken und Stillhalten, da
    wurden mit Getöse alle Löcher gestopft, …, nur um nicht bei sich zu sein, nur um nicht mit dieser furchtbaren Verantwortung umgehen zu müssen, ein Gehirn zu
    besitzen, das zu mehr fähig wäre, als auf fremde Geschlechtsorgane zu starren.“ (S. 161)

    Stellenweise fand ich den Stil besonders gut und habe mich köstlich amüsiert, aber ganz oft verbreitet das Buch auch eine
    Negativ-Stimmung und man muss aufpassen, dass man nicht ins Grübeln gerät und sich runterziehen lässt. Andererseits gehört es sicherlich auch zur Intention
    der Autorin, dass dem Leser die Augen geöffnet werden und er sein Leben reflektiert.


    Mit Toto, hat die Autorin einen merkwürdigen und gleichzeitig beeindruckenden Charakter geschaffen. Die Welt und die Menschen
    durch seine Augen zu sehen, hat mich sehr berührt.


    Zitat

    „Toto war es nicht peinlich zu singen, er hätte auch getanzt oder gerechnet, er verstand nicht, was Menschen warum peinlich
    war, warum sollte es in einem Leben, das die universale Länge eines Wimpernschlags hat, Peinlichkeiten geben. Alle verkleidet auf Durchreise, da
    ist Scham nicht angebracht“. (S. 170)

    Bis zur Hälfte würde ich dem Buch volle 5 Sterne geben, aber ab der Mitte gibt es eine Sache, die mich einfach zu sehr angeekelt
    und gestört hat. Das hat mit der Krankheit von Toto zu tun, näheres möchte ich hier nicht zu schreiben.


    Abschließen möchte ich meine Rezension mit einem weiteren Zitat, weil diese Zeilen einfach für sich sprechen.


    Zitat

    „Man kann alle Möglichkeiten betrauern, die man nie gehabt hat, oder sich daran freuen, dass man kurz aufgetaucht ist aus der
    großen Dunkelheit der Unendlichkeit, die sonst immer herrscht, vor der Geburt und nach dem Tod, ein kurzer Moment Licht, das ist doch viel, und Milliarden,
    Trilliarden Eizellen war nicht einmal das vergönnt." (S.393)

    Fazit:
    Trotz kleiner Kritikpunkte ein herausragendes, anspruchsvolles Werk.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:


    "Jetzt galt es nur noch, die Furcht zu überwinden und ein Buch aufzuschlagen" Walter Moers



    Einmal editiert, zuletzt von ChuckUFarley ()

  • Um den Schluss vorweg zu nehmen: Nach beendeter Lektüre vor drei Tagen fühlte ich mich leicht depressiv. Der Abend war gelaufen.
    Wie es ChuckU schon beschreibt, kann dieses Buch den Leser wirklich runterziehen.
    Doch wenn man Frau Bergs Werke kennt, muss man wissen, auf was man sich einlässt.
    Die Autorin ist glühende Kulturpessimistin und ich gestehe, sie bringt damit bei mir oft eine Saite zum Klingen.
    Der Vorteil ist: Jedem wird gnadenlos der Spiegel vorgehalten, ohne Ausnahme. Auch ich fühlte mich ertappt, verrate aber nicht, an welchen Stellen :wink: .
    Der Nachteil: Aus ihren Romanen werden teilweise Essays. Das war bei "Ende gut" Grund für mich, abzubrechen und bei diesem Buch hat es mir das letzte Drittel verleidet.


    Zum Inhalt: Der in der DDR geborene Intersexuelle Toto findet keinen Platz in der Gesellschaft, weder im Osten noch im Westen. Er wird herumgestoßen, nimmt das aber sehr lange mit einer fast stoischen Gelassenheit hin.
    Sobald er denkt, er ist auf irgendeine Art und Weise angekommen, wird ihm wieder der Boden unter den Füßen weg gezogen. Toto ist der Blitzableiter einer Gesellschaft von Frustrierten und Gescheiterten, die am liebsten das treten, das ihrer Auffassung nach noch eine Stufe unter ihnen steht: Menschen, die in keine Kategorie passen.
    Dreh - und Angelpunkt ist die, wie auch immer geartete, Beziehung zu Kasimir, den Toto als Kind kennengelernt hat. Dieser Teil der Geschichte hat mich gestört:


    Alles, was scheinbar hoffnungsvoll beginnt, endet hier schlecht. Passend dazu die Kapitelüberschriften, sie lauten (fast) immer "Und weiter". Und weiter nämlich in der Abwärtsspirale, die Totos Leben darstellt.
    Das kann natürlich beim Lesen auch zu einer gewissen Abstumpfung führen. Oder, wie bei mir, tatsächlich zu der Frage: "Was hält jemanden, dem das alles passiert, am Leben?"


    Um den Kreis zu schließen: Wie alle Lektüren von Frau Berg sehr unbequem, sehr wütend. Auch kenne ich wieder niemanden persönlich, dem ich es empfehlen könnte. Ich selbst gebe vier Sterne.