Gerd Theißen, Glaubenssätze. Ein kritischer Katechismus

  • Als Neutestamentler hat Gerd Theißen als Vertreter eine sozialgeschichtliche Auslegung des Neuen Testamentes unter anderem eine neue Theorie des Urchristentums entwickelt. In den letzten Jahren vor und nach seiner Emeritierung ist er auch mit Veröffentlichungen seiner Predigten in Erscheinung getreten, Unvergessen und nach wie vor empfehlenswert ist sein Jesusbuch „Im Schatten des Galiläers“, in dem er in erzählender Romanform seine Forschungsergebnisse zum frühen Christentum und zur frühen Jesusbewegung für jeden verständlich und spannend umsetzte.


    Nun legt er in der Tradition des Heidelberger Katechismus, dessen Verfasser Zacharias Ursinus er das Buch widmet, einen kritischen Katechismus vor, der in einer glaubensarmen Zeit, in der völlig zu Recht so etwas beklagt wird wie einen Traditionsabbruch, einer Zeit, in der auch regelmäßige Kirchgänger nicht mehr selbstbewusst und mit Wissen über ihren Glauben sprechen können auf eine verständliche Weise dazu beitragen könnte, den christlichen Glauben mit den gegenwärtigen Fragen der Menschen wieder in einen fruchtbaren Kontakt zu bringen.


    Es sind meditative Texte, die sich in Sinnzeilen gegliedert lesen sich wie Gedichte. Sie sind teilweise von Bildern bestimmt, von Reflexion, manchmal auch von Information oder auch Kritik. Ihre Poesie mag erinnern an die Poesie der Bibel, deren Sprache Tiefendimensionen religiöser Erfahrung erschließen kann und deren Sprachkraft einfach gewaltig ist.


    Im Vorwort notiert er seinen Hintergrund:
    „In möglichst knappen Aussagen habe ich für mich niedergeschrieben, was mir am christlichen Glauben wichtig ist, Übereinstimmung mit mir hat Vorrang vor der Übereinstimmung mit Dogmen und Kirchen. Doch ein Protestant steht mit solch einer Überzeugung nicht am Rande seiner Kirche, sondern mitten in ihr. Der Protestantismus ist eine Religion der Freiheit und Vernunft. Diese Glaubenslehre ist daher trotz ihres persönlichen Charakters konsensorientiert: Sie knüpft an die Tradition an und gibt ihr nicht vorschnellen Abschied. Auch Trinität, Zwei-Naturen-Lehre und Sühnetod Jesu werden als sinnvolle Bilder gedeutet. Konsens kann man ferner nur formulieren, wenn man nicht nur die eigene Glaubensgemeinschaft im Blick hat, sondern auch andere Konfessionen und Religionen, vor allem aber die vielen Menschen, die fern von jeder Religion leben. Dieses Buch wirbt um Verstehen und Respekt für den Glauben auch dort, wo er keine Zustimmung erfährt.“


    Das Buch ist in drei Abschnitte unterteilt


    • Meditationen über Gott
    • Meditationen über Jesus
    • Meditationen über den Geist


    Insgesamt 235 hat er sich gestellt und versucht sie zu beantworten. Um den Lesern dieser Rezension und möglichen Interessenten an diesem wirklich außergewöhnlichen Buch für Christen und Nichtchristen einen Eindruck zu vermitteln, zitiere ich nachstehend die Frage 43 und ihre Antwort:


    „Wie kommen wir mit Gott in Kontakt?


    Gott berührt unser Herz,
    wenn wir darüber staunen,
    dass überhaupt etwas ist und nicht nichts.
    Dann sind wir unmittelbar verbunden mit der Macht,
    die alles aus Nichts schafft
    und in Nichts versinken lässt.
    Auch für uns gilt:
    Vor unserer Geburt
    waren wir nicht,
    und nach unserem Tod
    werden wir nicht mehr sein.


    Zwischen Geburt und Grab
    ist die Gegenwart
    wie die Momentaufnahme in einem Film,
    der in beide Richtungen ins Nichts versinkt.
    Die Vergangenheit ist nicht mehr,
    die Zukunft noch nicht,
    die Gegenwart ein Übergang
    aus einem Nichts
    in ein anderes Nichts.
    Die Macht,
    die aus Nichts das Sein schafft,
    umgibt uns jeden Augenblick.


    Wir erleben sie als Wunder,
    wenn uns das Leben neu geschenkt wird
    nach einer guten Diagnose
    gegen schlimme Befürchtungen.
    Wir erleben sie,
    wenn uns ein Mensch sagt:
    Es ist wunderbar,
    dass es Dich gibt.


    In diesem Geheimnis von Sein und Nichts
    begegnet uns Gott.
    Durch ihn sind wir mit allen Dingen verbunden
    Durch ihn haben wir Freiheit,
    die uns über alle Dinge hinaushebt.“


    Dieser kritische Katechismus ist eine sprachlich, theologisch und philosophisch gelungene, stellenweise poetische Weise, heute vom christlichen Glauben zu sprechen. In einer Zeit, in der selbst Kirchgängern das grundlegende Wissen über ihre eigenen Glaubenstraditionen fehlt, ist es eine einladende Form der Selbstvergewisserung nach innen und nach außen.