Kurzbeschreibung (Amazon):
"Auf den Feldern der Toten wird die Ernte eingeholt. Bestellt von Erweckungsfarmern mit schmutzigen Fingern, kalten Herzen und gierigen Gedanken, werden die Felder mit Schaufel und Spaten und Schweiß bearbeitet. Unter einem Leichentuch dünnen Mondlichts werden die Früchte aus der feuchten, schwarzen Erde gepflückt, aus wurmstichigen Särgen und verschimmelten Totenhemden gerissen, wie faulendes Korn aus zerfallenden Hülsen. Die Leichenernte wird auf schlammigen Karren aufgebahrt und zu Markte getragen, um an den Meistbietenden verkauft zu werden, zur Versorgung von Autopsiesälen und Anatomielaboren. Nacht für Nacht graben die Farmer auf ihren Gebeinfeldern und denken, sie seien allein bei ihrer finsteren Ernte. Aber es gibt noch einen anderen, der in Gräbern und Leichenhallen erntet. Einen anderen Schnitter, der seit Jahrtausenden sein Feld bestellt. Das Gesicht bleich wie der Mond und Finger wie Knochen, ist er der Große Herr der Leichenernte und Meister der Friedhofsegge. In der Welt des 19. Jahrhunderts gehen Samuel Clow und Mickey Kierney ihrem Lebensunterhalt im Erweckungsgewerbe nach - nicht ahnend, dass sie bald dem Leichenkönig begegnen werden ..."
In "Der Leichenkönig" entführt Tim Curran den Lesen in das Edinburgh des frühen 19. Jhdt., ein Sammelsurium aus Schmutz, Ratten, Krankheiten und sozialem Elend. Die Darstellung der Verhältnisse jener Zeit, die Wohl durchaus mit den Zuständen in den Slums heutiger Megacities in manchen Teilen der Welt vergleichbar sind, nimmt dabei einen großen Teil der Erzählung ein. Von der ersten Seite an entsteht so eine ungemeine dichte Atmossphäre, ohne den Fluss der Handlung durch epische Breite zu beeinträchtigen.
Diese ist - wie aus der Kurzbeschreibung ersichtlich - im Wiedererweckermilieu angesiedelt. Um der steigenden Nachfrage an Leichen für die medizinische Forschung bzw die Ausbildung von Ärzten nachzukommen, etablierte sich im gegenständlichen Zeitraum der "ehrenwerte Beruf" der Leichensammler, die sich darauf spezialisierten, die Gräber jüngst Verstorbener zu plündern. Die Diebe gingen dabei äußerst geschickt vor, so dass oft am Tag nach der Tat oft gar nicht erkannt geworden konnte, dass das Grab des Nächtens geöffnet worden war. Diese Vorsicht war auch bitter nötig, stand auf Leichenraub doch schließlich die Todesstrafe.
Die Protagonisten Samuel Clow und Mickey Kierney sind Meister ihres Faches. Der Autor verwendet äußerst viel Mühe darauf, die beiden möglichst detailliert auszugestalten. Im Besonderen die geradezu bissig selbstironischen Dialoge während der Arbeit, in denen die beiden Kindheitserinnerungen austauschen und ihre Mütter (Prostituierte) alsHeilige und gottesfürchtige Christen preisen, laden zu einem kleinen Lächeln ein. Dieses vergeht jedoch rasch, wenn man bedenkt, was die beiden gerade treiben. Herrlich verstörende Momente sind vorprogrammiert.
Während zu Beginn der Handlung eher die Arbeit der Protagonisten bzw die Beschreibung des allgemeinen Elends dominieren, verschiebt sich der erzählerische Fokus im Laufe des Buches immer mehr auf den Leichenkönig. Dabei scheint es sich zunächst nur um eine Totengräberlegende zu handeln. Ein Wesen, dass unter den Friedhöfen hausen und sich von den Toten ernähren soll. Immer wieder wird er nur vereinzelt in Gerüchten erwähnt, dann immer öfter, bis es schließlich zu einer schicksalshaften Begegnung kommt.
Die Spannung wird dabei ganz vom Widerstreit der Protagonisten zwischen Furcht, Geldgier und Verachtung des - wie sie meinen - Aberglauben getragen. Dieses hin und her überträgt sich unweigerlich auf den Leser. Gibt es den Leichenkönig wirklich? Ist es nur eine Sage, um die Konkurrenz von den fruchtbarsten Gräberfeldern fernzuhalten? Was scharrt dort unter der Erde?
Fazit : Mein persönliches Highlight des Sommers. Eine packende Novelle, die ihre Spannung zur Abwechslung mal nicht aus literweise Blutphontänen, sondern aus der Darstellung sozialen Elends und dem Ende allen Irdischen bezieht.