Als meisterhaft konstruierter Psychothriller in der Tradition von Patricia Highsmith ist der neue Roman der Schriftstellerin Juli Zeh angekündigt. Und er kann diesem Vergleich durchaus standhalten. Obwohl er mehr ist als nur ein Psychothriller.
Immer wieder verknüpft Juli Zeh Kommentare über gesellschaftliche und literarische Phänomene in ihre Handlung. Ihre Hauptfigur Sven ist so etwas wie eine Blaupause für ihre Kritik an diversen Rückzugstendenzen von immer mehr Menschen aus den Problemen der heutigen globalisierten Gesellschaft.
Denn Sven ist nach einer für ihn traumatischen Erfahrungen im Jura -Examen auf eine spanische Vulkaninsel im Atlantik ausgewandert und hat dort zusammen mit Antje, einer Freundin, die er nicht wirklich liebt, eine Tauchschule eröffnet. Er will von dem gesellschaftlichen „Krieg“ in Deutschland nichts mehr wissen und gefällt sich darin, keinen Menschen mehr und auch kein Geschehen zu „bewerten“. Er hält sich raus. Doch Juli Zeh zeigt durchaus auch Verständnis für ihn. An einer Stelle in der Mitte des Buches, das Paar aus Deutschland, das für 14 Tage Sven für einen Rund-um-die-Uhr Tauchaufenthalt gebucht hatte ( 14.000 Euro Honorar!) ist schon ein paar Tage auf der Insel und hat das Leben von Sven schon gehörig durcheinandergebracht, da lässt sie ihn nachdenken:
„Wie kam er dazu, mich feige zu nennen, weil ich Deutschland verlassen hatte? Feige waren doch Leute wie er, die das Spiel durchschaut hatten und trotzdem weiterspielten. Die passenden Sprüche meiner Kunden kannte ich zur Genüge. Sie schimpften auf die Leistungsgesellschaft und schickten ihre Kinder zum Chinesischunterricht. Lehnten Wachstumsideologien ab und gingen für die nächste Gehaltserhöhung auf die Straße. Warfen Managern Gier vor und suchten im Internet nach Aktienfonds mit den besten Renditeversprechen. Auf ihren nagelneuen Flachbildfernsehern schauten sie Talkshows zur Kapitalismuskritik. Alle fluchten, alle machten mit. Das kotzte mich an. Am Ende kamen nur kaputte Typen dabei heraus. Wie Theo.“
Theo ist der um viele Jahre ältere Partner von Jola, einer Schauspielerin, die nach vielen Jahren in einer Soap von der Rolle ihres Lebens träumt, der Verfilmung der Geschichte einer berühmten Meeresforscherin. Er ist Schriftsteller, der aber seit Jahren nichts wirklich zustande gebracht hat, und vom Geld von Jola lebt. Der Tauchaufenthalt soll Jola für ein Casting fit machen.
Doch sehr schnell stellt sich heraus, dass Theo und Jola anders sind als Svens übliche Kunden. Und nicht nur deshalb, weil Jola auf Sven mehr und mehr anziehend wirkt und auch selbst alles dafür tut, um sich begehrenswert zu machen. Eine verzwickte Dreiecksgeschichte bahnt sich an. In einem geschickten Wechsel zwischen Aufzeichnungen von Sven, die er wohl macht, nachdem das ganze Drama vorbei ist, und täglichen Tagebuchnotizen von Jola, setzt Juli Zeh den von Seite zu Seite mehr gespannten Leser einem Wechselbad der Eindrücke und Gefühle aus. Denn Sven und Jola schildern schon bald ein und denselben Vorgang ganz unterschiedlich.
Ein Netz von Lüge und Begehren, von Liebe und Hass, von Zärtlichkeit und zynischer Gewalt beginnt sich immer mehr über die Protagonisten und ihre Beziehungen zu legen. Und obwohl Theo an einer Stelle am Anfang des Buches eine wichtige Bemerkung zum Verhältnis von Autor und Kritik macht, (der lobende Kritiker nehme sich selbst wichtiger als den von ihm beurteilten Autor) bleibt er einem das ganze Buch über eher suspekt.
Die beiden Erzählstränge des Buches weiten sich aus zu einem regelrechten Spagat zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Realität und Verfälschung. Wie lange kann man in so einem Abgrund der Gefühle und Intrigen aushalten? Beim Tauchen heißt die Zeitspanne, in der man ohne Dekompressionsstopp (zeitliches Verharren in einer bestimmten Tiefe) an die Wasseroberfläche zurückkehren kann, Nullzeit.
Wird Sven, der professionelle Taucher rechtzeitig aus den Abgründen, in die ihn die Tage mit Theo und Jola stürzen, unbeschadet herauskommen? Das soll hier natürlich offen bleiben.
Was ihn Juli Zeh allerdings nicht verlieren lässt, ist sein kritischer Verstand und sein Reflexionsvermögen. Angesichts einer Jet-Set Party auf einem vor der Insel angelegten Schiff, auf die er zusammen mit Jola und Theo eingeladen ist, reflektiert er:
„Ich dachte an Deutschland, wo diese Menschen lebten, wenn sie nicht gerade vor Afrika segelten. Ich wusste, wie sich fühlten. Täglich standen sie vor der Aufgabe, ihre persönlichen Krisen zwischen Bankenkrise, Finanzkrise, Klimakrise, Energiekrise, Bildungskrise, Eurokrise, Rentenkrise und Nahostkrise unterzubringen. Abend für Abend setzte man ihnen um 20 Uhr für eine Viertelstunde den bevorstehenden Untergang des Abendlandes auseinander, gepaart mit der Unfähigkeit der Politiker, diesen zu verhindern. Währenddessen klammerten sie sich an die ganz private und ein bisschen peinliche Hoffnung, es möge am Ende trotzdem alles so bleiben, wie es ist. Weitermachen, ihr ganzes Leben bestand nur aus Weitermachen.“
So kennt man die kritische Zeitgenossin Juli Zeh aus zahllosen publizistischen Interventionen, zu denen sie neben ihren großen Romamen immer auch Zeit findet. Sie hat sie hier verbunden mit einem spannenden und subtilen Thriller, in dem das Tauchen immer wieder auch mit „Abtauchen“ assoziiert wird und in dem Abgründe nicht nur im Meer sorgfältig ausgelotet werden, sondern in den Beziehungen zwischen Menschen.
Da Juli Zeh zudem auf einem hohen sprachlichen Niveau schreibt, ist dieser Roman über Willensfreiheit , Schuld und Macht ein Genuss auf der ganzen Linie,